Der Vatikan hat zur Vorbereitung der für 2023 geplanten Bischofssynode einen weltweiten synodalen Prozess ins Leben gerufen. Bis zum 15. August 2022 waren die nationalen Bischofskonferenzen dazu aufgerufen, Vorschläge und Wünschen zu formulieren. Auch die Schweizer Bischofskonferenz (SBK) hat ihren Synodenbericht nach Rom gesandt (vgl. www.bischoefe.ch). Er baut auf Umfrageergebnissen unter den Gläubigen auf, die in einer synodalen Versammlung von 50 Delegierten (Laien, Ordensleute, Experten, Priester und Bischöfe) am 30. Mai 2022 in der Abtei Einsiedeln diskutiert wurden.
Der Schweizer Synodenbericht legt Erfahrungen mit dem synodalen Prozess, die Ergebnisse der Befragung sowie die daraus erarbeiteten Perspektiven dar. Zentrale Wünsche sind die Integration von Menschen, die sich von der Kirche ausgeschlossen fühlen (vor allem Frauen, queere Menschen und wiederverheiratete Geschiedene), sowie die Überwindung des „teilweise noch vorhandenen Klerikalismus“.
Bezüglich der Liturgie geben die Antworten der Gläubigen ein widersprüchliches Bild: Einerseits wird die Liturgie als Ort synodaler Kirchenerfahrung und Gemeinschaftsförderung erlebt, in der sich auch tiefe Gotteserfahrung ereignen könne. Andererseits versammele die Liturgie nur den inneren Kern von Gläubigen. Sie sei oft unverständlich mit wenig Anbindungen an Lebenserfahrungen und werde als wenig einladend erlebt. Erwartet wird stattdessen eine Verlebendigung der Liturgie: Mit einer Überwindung kultureller Entfremdung solle die Liturgie zum Erfahrungsort synodaler Kirche werden.
Die allgemeinen Erwartungen zur Gestaltung einer synodalen Kirche betreffen auch die Liturgie: Es gehe um das Hören auf den Heiligen Geist, der im Wort der Schrift und den Aussagen der Menschen entdeckt werden könne. Dafür brauche es eine Kultur gegenseitigen Respekts mit einer repräsentativen Beteiligung des ganzen Volkes Gottes, um gemeinsam verbindliche partizipative Prozesse der Entscheidung und Unterscheidung durchzuführen.
Liturgie in ihrer Wirkung auf die Menschen
Der synodale Prozess stellt die konkreten Wünsche der Gläubigen in den Vordergrund. Vielleicht noch bedeutender ist die Tatsache, dass die Kirche die Gläubigen weltweit nach ihrer Meinung fragt. Dies deckt sich mit Themen, die aktuell auch im deutschsprachigen Raum diskutiert werden: Mit Fragen nach einer liturgischen Willkommenskultur (vgl. Einladend feiern [Gottesdienst extra], Freiburg i. Br. 2022), nach der Qualität von Liturgie aus der Sicht der Teilnehmenden sowie nach dem subjektiven Empfinden der Liturgie wird hier breit über den Menschen einschließlich den Wirkungen gottesdienstlichen Feierns nachgedacht. Das ist wichtig, denn so kann eine hermeneutische Engführung der Liturgie überwunden werden.
„Hermeneutik“ meint die „Lehre vom Verstehen“. In der liturgiewissenschaftlichen Forschung und Lehre sowie in der liturgischen Bildung für verschiedenste Altersgruppen steht zunächst im Vordergrund, die Liturgie zu verstehen. Ausgangspunkt des Denkens ist jeweils die liturgische Ordnung, oder allgemeiner formuliert: die liturgische Handlung, z. B. die Lieder und Gebete sowie die verwendeten Symbole. Diese werden theologisch reflektiert, einschließlich ihrer Bedeutung für die Begegnung zwischen Mensch und Gott.
Eine hermeneutische Weitung kann darin bestehen, die Liturgie verstärkt als Begegnungsgeschehen zu reflektieren: als Begegnung der Menschen untereinander und natürlich als liturgische Begegnung zwischen Gott und Mensch. So wird die Aufmerksamkeit auf Themen gelenkt, die bisher wenig beachtet wurden: die oben beschriebenen Wirkungen der Liturgie, die Dimension der menschlichen Autonomie mit dem Wunsch nach liturgischer Partizipation sowie das persönliche Glaubenszeugnis. Diese Weitung der liturgischen Hermeneutik hat umfassende Auswirkungen.
Partizipative Gestaltung der Liturgie
Ein Beispiel: In unserer Liturgiegruppe an der Universität Freiburg/ CH haben wir die liturgischen Wünsche der Teilnehmenden erfasst und anschließend mit der Weisheit des Lehramtes ins Gespräch gebracht. In einem weiteren Schritt haben wir auf Grundlage der Ergebnisse und unter Beachtung der liturgischen Normen monatlich eine Messe gestaltet. Entsprechendes könnte auch in großen Pfarreien oder kleinen Seelsorgeeinheiten geschehen: Paritätisch gestaltete Liturgiekreise sorgen dafür, dass sich die verschiedenen relevanten Gruppen (z. B. verschiedene Altersgruppen, kirchliche Bewegungen, Migranten) liturgisch abgeholt fühlen und im gegenseitigen Respekt voreinander die Liturgie in der gemeinsamen Ausrichtung auf Gott gestalten. Hier würden sie ihre Wünsche nach einer lebensnahen und verständlichen Liturgie einbringen (vgl. Martin Bergers, Partizipation in der Liturgie [siehe unten]. Zur Arbeit der Liturgiekreise allgemein: Liturgiekreise und ihre Aufgaben. Der Sachausschuss Liturgie des Pfarrgemeinderates und Vorbereitungsgruppen, hg. vom Deutschen Liturgischen Institut, Trier 112022).
Liturgische Bildung
Auf die Eucharistiefeier bezogen, könnten in der liturgischen Bildungsarbeit stärker die Begegnungen, die innerhalb der Liturgie gemacht werden, reflektiert werden: Begegnungen mit dem materialisierten Ausdruck von Glaube im Kirchengebäude, mit den Menschen in der feiernden Gottesdienstgemeinde, mit ihrer besonderen Weise, Liturgie zu feiern, mit der Begegnung mit Gott in seinem Wort und den eucharistischen Gaben sowie mit der Kirche, die sich in ihrem Gottesdienst ausdrückt. Daran anschließend würde die „Sprache der Liturgie“ mit ihren verschiedenen Gebeten, Symbolen, mit Elementen der Verkündigung erschlossen werden – nach Möglichkeit in Verbindung zu den dargestellten Begegnungserfahrungen.
Woher aber die Motivation zum Lernen nehmen? Geistliche Prozesse beginnen jeweils mit einer Sehnsucht. Die Sehnsucht kann z. B. bei Erstkommunionkindern geweckt werden durch Begegnungen mit Gläubigen aus der Gottesdienstgemeinde, die gleichsam wie Paten von ihrem (Glaubens-) Leben erzählen und davon, was sie am sonntäglichen Gottesdienst schätzen. Im besten Fall freuen sich die Kinder bei einer späteren Teilnahme am Gottesdienst, ihre Paten wiederzusehen, und stellen ihnen vielleicht auch weitere Fragen – gemäß einem afrikanischen Sprichwort: „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“
Die Sehnsucht nach Gott wird jedoch bereits mit dem Gebet zu Hause geweckt und gepflegt. Daher ist es für die Liturgie tragisch, dass durch das weitgehende Wegbrechen volksreligiöser Ausdrucksformen die Kirche ihre „Speisekammer der Spiritualität“ kaum öffnen kann. Wer kennt z. B. noch die Lectio divina oder das Atemgebet? Mit solchen Formen könnten sich das Gebet zu Hause und das gemeinsame Gebet in der Liturgie wieder wechselseitig beleben.
„Medizin“ oder „Brot des Lebens“
Die Liturgie birgt das wichtige Potenzial, in (meist ökumenischen) Gottesdiensten Katastrophen oder besondere Ereignisse zu verarbeiten. Es nehmen oft zahlreiche Menschen daran teil, die sonst nur selten in der Kirche zu sehen sind. Hier wird besonders offensichtlich: Liturgie wirkt hier wie Medizin. Wie gut, dass sie Medizin sein kann!
Abhängig von der Art der Krankheit brauchen Menschen allerdings unterschiedliche Medizin. Auf den sonntäglichen Gottesdienst (inklusive Vorabend) – ob als Messe oder Wort-Gottes-Feier gefeiert – lässt sich diese Analogie nicht anwenden. Denn hierzu sollte sich die ganze Gemeinde eingeladen fühlen. Jesus bezeichnet sich in seiner Rede über das Himmelsbrot selbst als „Brot des Lebens“ (vgl. Joh 6,48). Brot stellt ein Grundnahrungsmittel dar, alle brauchen es. Die gemeinsame liturgische Begegnung mit Christus und der Menschen untereinander am Sonntag kann so zum „Brot des Lebens“ werden. (Was ließe sich ähnlich über die eucharistische Begegnung mit Christus im Symbol des Weins sagen?) Geistliche Nahrung ist dann, sich auf die Begegnung mit Menschen in und um den Gottesdienst (z. B. beim anschließenden Gespräch an der Kirchentür) zu freuen und mit anderen ein versöhntes Miteinander leben zu dürfen. Die Menschen können sich gegenseitig im Glauben stärken: wenn beim Gebet und Gesang der Gemeinde Stimme und Herz zusammenklingen, die Lesungen mit Ehrfurcht vorgetragen werden und die vorstehende Person ein Beispiel der Hinwendung zu Gott gibt. All das bereitet den Boden für die Begegnung mit Gott!
Versammlung aller zum sonntäglichen Gottesdienst
Wie oben dargestellt, sollten sich Menschen verschiedener Gruppen liturgisch abgeholt fühlen und in gegenseitigem Respekt miteinander Gottesdienst feiern, vor allem am Sonntag. Gottesdienste einzelner Gruppen oder mit besonderen Anliegen könnten dann an Wochentagen gefeiert werden. Der „gute Geschmack“ synodaler Kirchenerfahrung am Sonntag kann „gluschtig“ machen, diese Erfahrung ins weitere Gemeindeleben zu tragen und somit die Gemeinde aufzubauen.
Zum Weiterlesen
Umfassendere Überlegungen zum Thema des Artikels finden Sie in folgenden Artikeln des Autors: