Zwischen Historismus und Moderne

Die Marienberger Vereinigung für Paramentik e. V. begeht in diesem Jahr ihr 100-jähriges Jubiläum. Als evangelischer Verbund gegründet, ist sie heute auch für katholische Werkstätten geöffnet.

Violette Paramentik Laurentiuskirche Neuendettelsau
Die je nach Kirchenjahreszeit wechselnden Paramente in der evangelischen Laurentiuskirche Neuendettelsau spiegeln die hohe künstlerische Qualität traditioneller Paramentenwerkstätten wider. (Entwurf: Beate Baberske; Ausführung: Rosalia Penzko; www.paramentenwerkstatt.de)© Uwe Niklas

Wenn man sich anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der „Marienberger Vereinigung für [evangelische] Paramentik“ Gedanken für einen Artikel in einer katholischen Zeitschrift macht, laufen zunächst verschiedene Bilder von Kirchenräumen aller Jahrhunderte, von Prinzipalstücken jeder Qualität und Zeitstellung sowie von altertümlichen und modernen Paramenten vor dem inneren Auge ab. Man hinterfragt, ob man sie als Gottesdienstteilnehmer/in gesehen hat, ob man ein persönliches Ereignis wie ein Konzert mit ihnen verbindet oder einfach „nur“ den Blick aus der Besucherperspektive erinnert. Das heißt, dass liturgische Textilien in vielfältigen Bezügen stehen und wesentlich zum Gesamteindruck eines Sakralraumes beitragen.

Neben dem Blumenschmuck sind die liturgischen Textilien diejenigen Elemente innerhalb des Kirchenraumes, die während des Kirchenjahres mehrfach wechseln. Hier sind dem jahrhundertealten Brauch nach vor allem die Antependien hervorzuheben: farbige Textilien, die an der Vorderseite von Altar, Kanzel und Lesepult hängen. In der evangelischen Tradition erstrahlen sie an den Christusfesten und den anschließenden Festzeiten in hellem Weiß, weil sich Christus im Johannesevangelium selbst mit dem Licht der Welt identifizierte. Zu Pfingsten und anderen Kirchenfesten symbolisiert ein kräftiges Rot die Energie, die die Jünger ergriffen hatte, das Christentum weltweit zu verkündigen. Ein dunkles Violett soll in den Vorbereitungswochen auf die Hochfeste in der Passionszeit und im Advent, die ehemals Fastenzeiten waren, die Gemeindeglieder in Gedanken über die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens und die Besinnung auf ihren Lebenswandel führen. Als vierte liturgische Farbe ist Grün als Symbol der Hoffnung charakteristisch für die Trinitatiszeit. Das Vegetabile, das im Frühjahr und Sommer das übernatürliche Wunder vom Wachsen und Gedeihen, Austreiben von Blüten und Früchten sichtbar macht, kommt in vorrangig grünen Gestaltungen sinnvoll zum Ausdruck. Manche Gemeinden wählen ihren Konventionen entsprechend zu Traueranlässen schwarze Paramente, die allerdings der Farbsymbolik nach eine Hoffnungslosigkeit anzeigen. Das Verständnis der Symbolik der Farben ist nicht auf die christliche Liturgie beschränkt, sondern fußt auf einem Farbenverständnis, das sich bereits in der Antike entwickelt hat und bis auf kleine Ausnahmen in weiten Teilen der Erde vergleichbar ist.

In diesem Jahr blicken die Mitglieder der Marienberger Vereinigung für Paramentik e. V. nicht ohne Stolz auf ihr 100-jähriges Jubiläum. Sie nehmen es zum Anlass, den „Paramententag“ vom 11. bis 13. April 2024 in Helmstedt mit Vorträgen und Gesprächen zu feiern. Heute zählen neben weiteren Mitgliedern aus Theologie, Architektur und Kunstgeschichte noch sechs Werkstätten in partiell kirchlicher Trägerschaft und zehn Einzelwerkstätten zur Vereinigung. Kaum eine Werkstatt ist fester Bestandteil eines Mutterhauses, und nirgendwo arbeiten noch Diakonissen an der Herstellung von Paramenten. Das bedeutet vor allem, dass die meisten Werkstätten teilweise oder vollständig organisatorisch und finanziell unabhängig sind – mit allen Rechten und Pflichten. Meines Wissens werden, außer im katholischen Bereich, nirgendwo sonst ausschließlich Paramente gefertigt. Vielmehr umfasst das Sortiment Textilkunst für verschiedene Belange. Auch innerhalb der Sepulkralkultur reagiert man auf individuellere Bedürfnisse im Umgang mit dem Sterben und dem Tod und entwickelt entsprechende Objekte in zeitgenössischer Formensprache.

Die Paramentikerin: Berufsfeld zwischen Kunsthandwerk und Kostendruck

Die Ausbildung zum/zur Paramentiker/in innerhalb einer dreijährigen Lehrzeit wurde in der DDR durch fünf Diakonissenmutterhäuser länger durchgeführt als in der Bundesrepublik. Sie umfasste Unterricht in Weiß- und Buntstickerei, Färben mit chemischen und natürlichen Farbstoffen, Bildweberei, Applikation, Brettchenweberei, Spinnen sowie die Fächer Schriftschreiben, Paramentenkunde, Fachkunde, Liturgik und Symbolik. Ich selbst habe die Ausbildung zur geprüften Paramentikerin der Evangelischen Kirche in einer Werkstatt absolviert, in der es eine Werkstattleiterin und eine Ausbilderin – beides Diakonissen –, vier Gesellinnen, sechs Feierabendschwestern und sieben Schülerinnen gab.

Diakonische Einrichtungen in der BRD unterlagen viel früher dem finanziellen Druck, mindestens kostendeckend zu kalkulieren, so dass die traditionellen Grundsätze von höchster handwerklicher und materialer Qualität nicht mehr tragbar waren. Das alte Verständnis, weniger finanzkräftigen Gemeinden den Erwerb von Paramenten zu ermöglichen, um den Altardienst würdig zu gestalten, konnte sich dagegen in der DDR länger halten. Denn in christlich geprägten Mutterhäusern sollte aus politischen Gründen nicht gewinnbringend gewirtschaftet werden. Mit der Währungsunion wurden diese „Inseln“ unter den Dächern von Diakonissenmutterhäusern „abgewickelt“, allerdings ohne das Bemühen, ihre geistigen und geistlichen Werte in die Institutionen der Kirche zu übertragen. Wenn überhaupt, arbeitet in den Nachfolgewerkstätten heute meist nur eine ausgebildete Paramentikerin. Die einzigartige handwerkliche Qualität, die innerhalb der Ausbildung herrschte, kann seitdem weder für innerkirchliche noch für konservatorische Arbeiten weiter gepflegt werden. Die Erfahrung, dass in fast allen Fällen bei der Umstrukturierung der Mutterhäuser in Diakonische Einrichtungen, ohne Intervention der Landeskirchen oder der EKD, auf die theologischen, liturgischen und integrativen Dimensionen von Paramentik bewusst verzichtet wurde, ist für die Beteiligten bis heute schmerzlich.

Auch wenn Diakoniehäuser ohne Diakonissen keine Paramentikerinnen in Tracht mehr haben können, heißt das nicht, dass Gemeinden ohne gestaltete Liturgie auskommen wollen. Diese Lücke füllen teilweise Großhändler, die per Katalog und im Netz Paramente anbieten, die weder mit geeigneten Materialien noch mit einer Gestaltung für einen konkreten Sakralraum hergestellt werden, und deshalb nun den Markt beherrschen. Allerdings könnte diese Geschäftsidee nicht erfolgreich sein, wenn den Entscheidungsträgern der Wert von Paramenten klar wäre, die speziell im Austausch mit der Gemeinde entwickelt werden. Gleichzeitig hält sich der Gedanke, dass liturgische Textilien quasi ehrenamtlich angefertigt würden, äußerst hartnäckig. Das Schicksal mangelnder Vergütung von hochqualifizierter Handwerklichkeit beschränkt sich nicht auf aussterbende Mutterhäuser. Auch Frauenklöster, in denen oft seit Jahrhunderten liturgische Textilien in bewundernswerter Kunstfertigkeit hergestellt werden, schließen Paramentenwerkstätten mangels Nachwuchses bzw. aus finanzieller Schieflage.

Der lange Weg zum Paramemt

Wie ein Parament individuell für die Gemeinde vor Ort gefertigt wird (YouTube-Video der Paramentenwerkstatt Neuendettelsau)

Die Neuausrichtung der Paramentik geht seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eher mit der Qualifizierung der Werkstattleiterinnen an Fachhochschulen für Textildesign bzw. Textilgestaltung einher. Neben traditionellen Aufgaben der Paramentenherstellung, bei denen man flexibel mit Materialien und Gestaltungsformen umgeht, nehmen zeitgenössische Gestaltungsansätze den gesamten Kirchenraum für textile Interventionen in den Blick. Werkstätten, die nicht auch für außerkirchliche Auftraggeber gearbeitet haben, sind die Ausnahme. Das schlägt sich auch im Titel der Werkstätten nieder, in denen auf Textilkunst und Paramente im Kirchenraum verwiesen wird. Gleichzeitig wenden sich Auftraggeber beider Konfessionen für die Gestaltung von Prinzipalien nicht ausschließlich an Paramentenwerkstätten, sondern auch an freischaffende Künstlerinnen und Künstler. Bei ihnen sind liturgische Vorkenntnisse nicht unbedingt vorauszusetzen, weshalb Leitlinien für sakrale Gestaltungsfragen sinnvoll sind.

Evangelische Paramentik

Die Entwicklung der evangelischen Paramentik ist eng mit Wilhelm Löhe (1808–1872) verbunden. Der lutherische Pfarrer leitete das bayerische Diakonissenmutterhaus Neuendettelsau in den prägenden ersten Jahren Mitte des 19. Jahrhunderts, in denen er sich intensiv um die Ausbildung junger Frauen aus Bürgertum und adligen Familien bemühte. Zu einer fundierten Grundlage zählten neben der Pflege von Kranken und Bedürftigen auch die Hauswirtschaft. Obgleich manche Frauen den Weg zur Aufnahme in die Diakonissenschaft einschlugen, stand den anderen ebenfalls die Ausbildung für Aufgaben in der Familie und Kirchengemeinde offen. Letzteres schloss die Vorbereitung des Altars für den Gottesdienst und die Pflege seiner Ausstattung ein. In dieser Zeit war es absolut ungewöhnlich, dem Erscheinungsbild des materialen gottesdienstlichen Zentrums Aufmerksamkeit zu schenken. Dennoch entwickelte der Diakoniepfarrer in Zusammenarbeit mit Grafikern Ideen für die Einkleidung des Altars. Er begründete die Formensprache mit der Beschäftigung mit sogenannten Altertümern wie der einheimischen mittelalterlichen Textilkunst. Besonders ist, dass er die Frauen nicht marginalisierte, sondern die Arbeit an Altartextilien mit den Amtshandlungen des Pfarrers verglich: Weil durch das Wort und das Sakrament Christus anwesend sei, der Altar ihn sinnbildlich verkörpere, gehörten auch die „weiblichen Handarbeiten“ zu den heiligen Handlungen. Die theologische Argumentation nimmt ästhetische und handlungsspezifische Aspekte wie das Vorbereiten des Altars auf, die dem Begriff „Parament“ zugrunde liegen (vgl. lat. parare mensam).

Interessant ist, dass die Grundlagen, auf die sich die evangelische Paramentik bis heute beruft, im Kontext dieser Ausbildung entstanden sind. Die Diktate, mit denen der Diakoniepfarrer Wilhelm Löhe die Mädchen unterrichtete, wurden 1858 erstmalig unter dem programmatischen Titel „Vom Schmuck der heiligen Orte“ veröffentlicht (vgl. Wilhelm Löhe: Vom Schmuck der heiligen Orte [1857/58]. Kommentiert und bearbeitet von Beate Baberske-Krohs und Klaus Raschzok, Leipzig 2008). Als Bestandteil der Ausbildung gab man sie jahrzehntelang in Form des Diktates weiter, was sich bis in die 1980er-Jahre des 20. Jahrhunderts hielt. Wilhelm Löhe entschied sich, denselben liturgischen Farbenkanon als Grundlage auch für Paramente der evangelischen Kirchen zu empfehlen, der seit dem Mittelalter gültig ist und im nachtridentinischen Missale Romanum (1570) festgeschrieben wurde.

Die Gründung der Marienberger Vereinigung

Mitte des 19. Jahrhunderts gab es bereits Regionalverbände für Paramentik, darunter den Niedersächsischen Paramentenverein mit Hauptsitz im Kloster St. Marienberg in Helmstedt. Die niedersächsische Adelsfamilie von Veltheim stiftete dort einerseits eine diakonische Einrichtung. Andererseits ließ sie die romanische Klosterkirche sanieren sowie die Klausurgebäude neu aufbauen und schuf eine räumliche und inhaltliche Nähe zur mittelalterlichen Anlage. Im Erdgeschoss entstand ein großer, lichtdurchfluteter Raum für die Paramentenwerkstatt mit Webstühlen, Stickrahmen, großen Arbeitstischen, Spinnrädern und Arbeitsbereichen, etwa für das Waschen von Leinen und Färben von Stickgarnen und Webwolle. 1924 vereinigten sich die existierenden Werkstätten der Landesverbände zur Marienberger Vereinigung für Evangelische Paramentik e. V. Abgesehen von der Zeit des Zweiten Weltkrieges finden seitdem alle zwei Jahre „Paramententage“ statt. 1954 wurde in Helmstedt über die zukünftige Ausrichtung der Herstellung und Gestaltung gesprochen, bei der man sich auf eine dezente und klare Formensprache einigte. Das Musterbuch christlicher Symbole des Schriftkünstlers Rudolf Koch (1876–1934) wurde vielfach als Vorlage genutzt und die Ausführungen mit möglichst natürlichen Wollgarnen und Leinenstoffen umgesetzt. Die Ehrfurcht vor der Schöpfung und die manuelle Bearbeitung im Geist eines ehrlichen und bescheidenen Habitus zur Ehre Gottes zeichnen die Paramentik der folgenden Jahrzehnte aus.

Weil die katholischen Werkstätten keinen eigenen Dachverband hatten, wurde innerhalb der Marienberger Vereinigung in den 2010er-Jahren über eine Satzungsänderung diskutiert, nach der auch katholische Werkstätten beitreten können. Im Zuge dessen wurde der Begriff „evangelisch“ aus dem Titel gestrichen. 2017 trat die Paramenten-Werkstätte Kloster Sießen in den Verband ein. Schließlich luden diese Franziskanerinnen 2022 zum „Paramententag“ mit Werkstattbesichtigung, Vorträgen und Mitgliederversammlung in das dortige Kloster auf der Schwäbischen Alb ein. Die diskutierten Themen zeigten erneut, dass Fragen zur zeitgemäßen Paramentik, zu deren Geschichte und ihrem Wert innerhalb gegenwärtiger Transformationsprozesse überkonfessionell sind.

Die bleibende Bedeutung der Paramente

Farbige Antependien haben innerhalb der Liturgie eine Funktion und tragen ihre Bedeutungsinhalte mit ästhetischen Mitteln weiter. Sie spiegeln den Geist der Gemeinschaft auch dann wider, wenn Gottesdienste bereits beendet sind. Meines Erachtens ist das auch deshalb bedeutsam, weil Kirchenräume nicht ausschließlich Gemeindeveranstaltungen dienen. Der Publikumsverkehr in offenen Kirchen mag unberechenbar und organisatorisch schwierig sein. Dennoch besuchen Touristinnen und Touristen diese Gebäude mit Interesse und im Wissen um die religiöse Funktion. Das Erscheinungsbild wird die Erinnerung prägen und mit ihm wird weniger eine Gemeinde als vielmehr die Institution der Kirche wertend verbunden.

Darüber hinaus bezeugen Paramente ein christliches Verständnis von Kontinuität und Einheit. Der Wechsel der Antependien entsprechend dem Kirchenjahr geht auf Fest- und Besinnungszeiten ein und charakterisiert diese auch in Form künstlerischer Gestaltung anschaulich. Häufig nehmen Kirchenbesucher/innen nicht konkret wahr, was sie beeindruckt oder was ihnen besonders gefällt. Zudem ist es global gesehen nicht selbstverständlich, offen zum christlichen Glauben stehen zu können. Kirchen werden weltweit immer häufiger angegriffen bzw. die biblischen Religionen in Frage gestellt. Auch deshalb ist es wichtig, den Bekenntnischarakter sichtbar zum Ausdruck zu bringen.

Gestalterische Aspekte des Kirchenraumes sind in der Evangelischen Kirche als „Kirche des Wortes“ zu wenig beachtet worden. Für die Zukunft wird der ästhetischen Aussagekraft der Paramente hoffentlich größere Bedeutung und Wertschätzung beigemessen werden – dabei handelt es sich auch um eine überkonfessionelle Aufgabe.

Weitere Informationen zur Marienberger Vereinigung für Paramentik e. V. unter: www.marienberger-vereinigung.de

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