Wer jedes Jahr die Osternacht mitfeiert, hat ihn wahrscheinlich im Ohr: den Gesang nach der dritten Lesung vom Durchzug der Israeliten durch das Rote Meer. Dort heißt es: „Ich singe dem Herrn ein Lied, denn er ist hoch und erhaben. Rosse und Wagen warf er ins Meer.“ Der Antwortgesang stammt, anders als sonst üblich, nicht aus dem Buch der Psalmen, sondern ist aus dem Buch Exodus selbst entnommen. Moses singt es nach der Rettung Israels. Solche biblischen Gesänge, die nicht aus dem Buch der Psalmen stammen, aber wie ein Psalm verwendet werden, nennt die Liturgie Canticum, also „Lied“ oder „Ode“.
Zu den alttestamentlichen Cantica gehört neben dem Moselied (Ex 15) auch der Lobgesang der drei Jünglinge im Feuerofen aus dem Buch Daniel (Dan 3). Beide wurden bereits früh auf die österliche Rettung in Christus hin interpretiert. Auch im Neuen Testament finden sich Cantica. Die drei Cantica des Lukasevangeliums werden von der Kirche jeden Tag gebetet bzw. gesungen.
Sie haben ihren Platz im Stundengebet. Beim Morgengebet der Kirche (Laudes) erklingt das
Benedictus. Dies ist der Lobgesang, den Zacharias, der Vater Johannes des Täufers, angesichts der wunderbaren Geburt seines Sohnes anstimmt (Lk 1,68-79). Das Abendgebet (Vesper) beinhaltet das
Magnificat, den Gesang Mariens beim Besuch bei Elisabeth (Lk 1,46-55). In der Komplet, dem Nachtgebet der Kirche, erklingt schließlich das
Nunc dimittis, der Lobgesang des Simeon bei der Darstellung des Herrn im Tempel (Lk 2,29-32). Wie die Psalmen behandeln auch die
Cantica Themen wie Lob und Dank, Vertrauen und Bitte, Trauer und Freude, Buße und Glaubenszuversicht.
Benjamin Leven