„Am Hungertuch nagen" lautet eine Redewendung, die so viel heißt wie arm sein. „Hungertücher", im alpenländischen Bereich meist „Fastentücher" genannt, gehen auf den fast 1000 Jahre alten Brauch zurück, in der Österlichen Bußzeit den Altar und das Geschehen am Altar mit dem „Fastenvelum" zu verhüllen. Auf diese Weise bekundeten die Gläubigen ihre Solidarität mit den „Büßern", die von der Teilnahme an der Eucharistiefeier ausgeschlossen waren und sich in der Fastenzeit durch Werke der Buße intensiv auf die Versöhnung vorbereiteten. Große Tücher verdeckten den ganzen Altarraum, so dass die Feier dem Blick der Gläubigen entzogen war. Bei der Komplet am Mittwoch der Karwoche wurde bei den Worten des Passionstextes „und der Vorhang des Tempels riss in der Mitte entzwei" das Tuch wieder abgenommen oder fallen gelassen, so dass der Blick wieder frei war für die Feier der Österlichen Drei Tage.
Ab dem 12. Jahrhundert wurden die früher schmucklosen Tücher mehr und mehr mit Bildmotiven aus der gesamten Heilsgeschichte ausgestaltet und wurden damit im Gegensatz zu ihrem ursprünglichen Zweck, der Verhüllung, ein Mittel einer eindrucksvollen bildlichen Verkündigung. Diese „Armenbibel" für die des Lesens unkundigen Menschen war - gerade in einer Zeit, in der die Liturgiesprache dem Volk nicht verständlich war - ein wichtiger Zugang zum Mysterium, das da gefeiert wurde. Moderne Hungertücher knüpfen äußerlich an diese Tradition an, haben aber in der erneuerten Liturgie nicht mehr dieselbe Bedeutung.
Eduard Nagel