Lektionar

Das Lektionar ist das Rollenbuch der Lektorinnen und Lektoren sowie derjenigen, die das Evangelium verkünden, wenn hierfür kein Evangeliar verwendet wird. Es enthält die alt- und neutestamentlichen Lesungen, den Antwortpsalm und das Evangelium.

In frühchristlicher Zeit wurde im Gottesdienst aus der Schrift vorgelesen, „solange es die Zeit erlaubt“, wie es in einer Quelle aus dem 2. Jahrhundert heißt. Als immer mehr Feste aufkamen, zu denen thematisch passende Lesungen ausgewählt wurden, gingen die Gemeinden im 1. Jahrtausend dazu über, die bisher üblichen Perikopenverzeichnisse (griech. perikopé = Abschnitt, hier: aus der Bibel, der in der Liturgie verkündet wird) mit den bloßen Stellenangaben durch Bücher zu ersetzen, in denen die Texte dieser Abschnitte bereits vollständig aufgeschrieben waren.

Für das Vorlesen gab es den Dienst eines Lektors. Das Festhalten am Latein und eine zunehmend legalistische Regelung der Liturgie führten im Spätmittelalter dazu, dass der Priester alle Teile der Messfeier selber lateinisch lesen musste, um gültig zu zelebrieren. Dafür reichte ein einziges Buch mit allen nötigen Texten, und so wurden die bisherigen Lektionare in das (Voll-)Messbuch, das alle in der Messe vorkommenden Texte in sich aufnahm, bzw. das Rituale für die Feier der übrigen Sakramente und Sakramentalien integriert. Dadurch geriet das Lektionar - von feierlichen Messen abgesehen - außer Gebrauch. Biblische Verkündigung fand nicht mehr in der Feier statt. Sie musste durch Volksmessbücher und Katechismus kompensiert werden. Selbst die Predigt wurde vor oder nach der Messe gehalten oder als „Christenlehre“ zu einer eigenen Veranstaltung.

Durch die starke Zentrierung der Liturgie auf den Klerus und durch die lateinische Liturgiesprache hat das Lektionar, als Perikopenbuch oder als Teil der muttersprachlichen Volksmessbücher, dennoch überlebt - wie auch der damals noch nicht offizielle Lektorendienst der Laien, der simultan zu den lateinischen Texten eine muttersprachliche Übersetzung vortrug.

Die Konzilsväter haben die Schatzkammer der Bibel wieder weit öffnen wollen. Hierfür knüpften sie an die altkirchliche Praxis an. Die für die verteilten Rollen (Lektor/in, Kantor/in, Mitfeiernde) erforderlichen Bücher wurden wieder eingeführt (Lektionar, Vorsängerbücher, neu auch Kirchengesangbuch). Das Lektionar enthält in schöner Buchform alle biblischen Verkündigungstexte einer Gottesdienstform. Es trägt dazu bei, dass der Dienst der Verkündigung der Heiligen Schrift in jedem Gottesdienst sein gebührendes Gewicht erhält und würdig und wirkungsvoll vollzogen werden kann.

Auch hat das Zweite Vatikanische Konzil u. a. den Lektorendienst als wahrhaft liturgischen Dienst anerkannt (SC 29) und die folgende Liturgiereform gab dem Lektionar und anderen verdrängten Büchern ihren Rang und Platz in der Liturgie zurück.

Peter Spichtig OP, Ko-Leiter des Liturgischen Instituts für die deutschsprachige Schweiz, und Christoph Neuert, Trier

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