Eine Lektorin hat mich einmal in einer Schulung gefragt, wie viel Pathos beim Lesen in der Kirche erlaubt sei. Wenn wir davon sprechen, dass Begeisterung in einer Stimme mitschwingt, scheint es noch etwas zu geben, das das nüchterne Lesen übersteigt: die emotionale Beteiligung, mit der ein Text vorgetragen wird.
Was bedeutet Pathos und wie lässt es sich ausdrücken, oder gar „herstellen“? Pathos (gr. Leiden) bedeutet ein leidenschaftlich bewegtes Sprechen, das aus einer Ergriffenheit rührt. Jemand, der pathetisch spricht, muss sich also mit seiner gesamten Person einbringen und eine Ergriffenheit erkennen lassen. Betrachten wir die Passion, die Leidensgeschichte Jesu: Eine Szenerie, in der sich Emotionen dramatisch abwechseln und zuspitzen. Es dürfte kaum möglich sein, so etwas neutral zu lesen. Etwas von dieser Dramatik soll spürbar sein.
Fragen wir uns, was wir mit dem Lesevortrag bewirken wollen. Der Hörer soll die Szene vor Augen haben, er soll sich den Ablauf der Handlung vorstellen und ihre Dramaturgie mitverfolgen können. Dafür werden Bilder im Kopf entworfen, vielleicht sogar ein „Film“. Damit Emotionen entstehen, braucht der Hörer Raum für die eigene Phantasie. Pathos und Theatralik engen diesen Raum ein.
Wir brauchen daher, wollen wir einen Text glaubwürdig wiedergeben, selbst ein Gefühl dafür. Freudenausbrüche, Schmerz, Trauer oder Aggression dürften für jeden ungeübten Sprecher überzogen sein. Wenn wir hektisch atmen, so dass Wörter und Silben sich überschlagen, wenn wir die Höhen und Tiefen in der Stimme ausweiten bis zum Jauchzen oder Brummen, gewichtige Pausen einlegen, dann wird die erzählte Geschichte überfrachtet. Sie wird nicht mehr gelesen, sondern mit einem subjektiven, persönlichen Ausdruck inszeniert. Das Lesen wird dann zur Karikatur (lat./ital. caricare = beladen). Damit wird dem Hörer neben der eigentlichen Handlung eine Interpretation aufgeladen, die seine Phantasie einengt und die Bilder im Kopf überzeichnet.
Innere Beteiligung zeigen
Lebendigkeit und Farbigkeit brauchen Emotion. Sprache und Körperausdruck stehen in einem Wechselspiel, und Pathos drückt sich auf diesen Kanälen aus. Beim Lesen haben wir über die Mimik die Möglichkeit, die innere Beteiligung nach außen sichtbar werden zu lassen. Konzentration wird über einen gestrafften Gesichtsausdruck deutlich. Ein Zeichen von Interesse und Aufmerksamkeit ist es, wenn wir die Augenbrauen hochziehen. Darüber hinaus sollte die untere Gesichtspartie beim Sprechen entspannt sein. So ist eine deutliche Artikulation möglich und es entsteht Weite im Mundraum. Dies garantiert, dass die Atem- und Resonanzräume offen sind und die Stimme stabil und kraftvoll bleibt, ohne dass wir explizit Gefühle herstellen.
Beispiel Apostelgeschichte: Die hier auftretenden Personen sind die Apostel, die die Basis schaffen für die christliche Kirche. Ohne tiefe innere Überzeugung, ohne Begeisterung und Leidenschaft war das nicht möglich. Was wir als Leser davon begreifen, kann ein Funke sein, der überspringt. Das Feuer wird dann beim Hörer angezündet. Fragen Sie sich also, wie viel Pathos nötig ist für das, was Sie empfinden und mitteilen wollen.
Lesen mit Gefühl
Emotion lässt sich erarbeiten, ohne dass ein Sprecher völlig aus sich herausgehen muss. Orientieren Sie sich an Ihrer alltäglichen natürlichen Sprache. Achten Sie auf grundlegende Prinzipien beim Sprechen:
- Achten Sie auf Verständlichkeit, besonders bei Texten, die nicht erzählerisch oder dialogisch sind, da hier Zusammenhänge deutlich werden müssen (z. B. im Hebräerbrief).
- Achten Sie auf wörtliche Rede im Text. Geben Sie diese wieder, indem Sie sie im Tonfall vom Erzähltext absetzen. Machen Sie Ausrufe und Imperative deutlich.
- Achten Sie auf Bilder, Visionen und bildhafte Vorstellungen. Ein Beispiel: „Siehe, er kommt mit den Wolken“ (Offb 1,7), oder: „Da kam mit den Wolken des Himmels einer wie ein Menschensohn“ (Dan 7,13b). Zeigen Sie stimmlich auf die Details des Bildes, die Sie selbst wahrnehmen. Ähnlich, als würden Sie Bilder in einem Museum zeigen. Nur so wird der Hörer darauf aufmerksam.
- Spüren Sie dem Sinn in den Worten nach. Übertragen Sie dies in der Vorbereitung durch begleitende Gesten ins Körperliche. Was trifft die Charakteristik des Textes? Wenn Sie zulassen, was ein Text in Ihnen auslöst, geht auch die Mimik mit. Schalten Sie dann beim Lesevortrag wieder eine Stufe zurück.
- Hören Sie sich beim Lesen zu. Mancher Text darf eher trocken wie eine Nachricht vorgelesen werden, andere Texte vertragen eine verspieltere Note.
Damit aus dem Lesen eine Verkündigung wird, können wir mit dem Zeremonienmeister einer großen Kathedrale sprechen: „Du musst fließend lesen, adagio, mit Gefühl.“