Die Passion mit verteilten Rollen lesen: In vielen Pfarreien ist dies am Palmsonntag und am Karfreitag gängige Praxis.
Der Vortrag der Passion soll Jesu Verurteilung und Kreuzigung vor Augen führen. Das bedeutsame Geschehen wird lebendig und nachvollziehbar; es soll die Gläubigen erinnern, wach halten und berühren. Die in der Leidensgeschichte Jesu Beteiligten werden „lebendiger“, wenn sie auch von verschiedenen Stimmen vorgetragen werden.
Von der Textgattung her ist die Passion eine szenische Handlung. Verschiedene Personen kommen zu Wort, und damit scheinen verteilte Rollen ideal. Worauf sollten Sie als Lektorin oder Lektor achten?
Wie stets müssen wir uns in die Perspektive des Hörers begeben. Nur indem ich die Szene vor seinem inneren Auge lebendig werden lasse, kann ich seine Aufmerksamkeit aufrecht erhalten und ihn berühren.
Charaktere und Sprecherwechsel
Dem Erzähler kommt eine wichtige Rolle zu. Durch ihn erfahren wir, was geschieht, er entwickelt die Handlung. Wechsel im Tonfall, in der Lautstärke und im Tempo bringen maßgeblich die Dramaturgie zum Ausdruck. Manchmal muss er zu einer Handlung hinleiten und das Geschehen antreiben (z.B. „Da zerriss der Hohepriester sein Gewand und rief…“ Mk 14, 63), manchmal eine zum Ausdruck kommende Ruhe schon vorwegnehmen, bei angekündigter wörtlicher Rede sich zurücknehmen (z.B. „Sie kamen zu einem Grundstück, das Getsemani heißt, und…“ Mk 14, 32). Er nimmt den Hörer gewissermaßen an die Hand und führt ihn durch die Szene.
Wie sprechen die einzelnen Personen? Das Volk etwa muss als aufgebrachte, ungeduldiger werdende Menschenmenge erkennbar sein. Bei der Verspottung Jesu muss sich die Verachtung im Tonfall ausdrücken.
Pilatus spricht zunächst als Amtsinhaber, der sich die Hände nicht schmutzig machen will. Im Verhör mit Jesus wird er zum Vermittler zwischen diesem und dem Volk, wobei er zunehmend unruhig und hilflos wird. Nichts Aggressives bestimmt sein Sprechen, sondern vielmehr Unentschlossenheit. Einzige Ausnahme hiervon sind seine Worte bei Johannes: „Was ich geschrieben habe…“ (Joh 19, 22)
Große Aufmerksamkeit verlangt der Sprecherwechsel. Nach einem schlichten: „Er antwortete:…“ oder „Er sagte:…“ muss die Stimme oben bleiben und es darf keine Pause entstehen. Der jeweilige Sprecher muss sofort reagieren, damit das Geschehen nicht verzögert wird. Erst die wörtliche Rede schließt den Gedanken ab.
Keine Theatralik
Ein theatralisch anmutendes Stück darf die Passion sicherlich nicht werden. Lebendige Dialoge werden durch ein virtuoses und flexibles Sprechen begünstigt. Wenn die beteiligten Lektoren das Lesen vorher üben, können sie die Charakteristik einer Rolle besser treffen. Die Modulation der Stimme, das Tempo anzuziehen oder zu drosseln und eine dynamische Bandbreite sollten geprobt und auch gemeinsam ausprobiert werden. So spüren Sie, ob eine Stimme noch zu zaghaft oder vielleicht schon zu forsch ist.
Eine gut vorgetragene Passion kann niemanden unberührt lassen.
Die Passion vorbereiten
Wer schon einmal die Passion gleich welcher Vertonung mitgesungen hat, weiß, wieviel Zeit aufgewendet wird, bis alles stimmig ist. Nehmen Sie sich daher auch Zeit für das Lesen der Passion.
Fragen Sie sich bei jeder „Figur“: Wie denkt, handelt sie? Was ist das für ein Typ? Wie spricht er? Betrachten wir etwa Petrus. Felsenfest davon überzeugt, niemals Jesus zu verleugnen, spricht er sehr entschlossen, mit fester Stimme, und gleichermaßen, als er es dennoch tut. Petrus zeigt sich mit diesem Verhalten sehr menschlich. Auch wir können uns widersprüchlich verhalten, wenn wir uns in die Enge getrieben fühlen. Ein Bewusstsein dafür macht das Geschehen noch näher und präsenter.
Auch in der Magd, bei Johannes der Pförtnerin oder den Dienern des Hohenpriesters (Joh 19, 25-26) finden wir ein Beispiel dafür, wie wir Menschen uns von Stimmungen beeinflussen lassen. Sie wollen Petrus herausfordern und vielleicht selbst gut dastehen.
Der Hohepriester gibt sich dominant und machtlüstern und spricht bestimmend. Damit wiegelt er das aufgebrachte Volk noch mehr auf, das zu einem aggressiven Pöbel verschmilzt und durchweg fordernd und verachtend spricht. Im Spott gegenüber Jesus kommt noch eine ironische Note hinzu.
Jesus steht bei der Auslieferung und im Verhör gewissermaßen souverän über dem Geschehen. Allein beim Gebet in Getsemani erfahren wir zutiefst menschliche Züge von Angst und Traurigkeit.
Welche Rolle Sie bei der Passion auch lesen: Stimmig ist es, wenn die Verschiedenartigkeit der Charaktere deutlich wird.