Teil 1 (Gottesdienst 21/2016, S. 172 f.)
Lektoren, die im Gottesdienst vorlesen,
berichten mir zumeist, sie läsen den
Text „vorher einmal durch“, manche
auch mehrmals. Fast alle haben schon die
Erfahrung gemacht, dass sie nicht auf Anhieb
alles verstanden haben – was beim
inhaltlichen Anspruch mancher Lesungen
nicht verwunderlich ist. Gleichermaßen
wird erlebt, dass ein Text kompliziert geschrieben
ist und lange Sätze erst einmal
daraufhin überprüft werden müssen, wo
man atmen kann, wo Pausen möglich sind
und welche Wörter betont werden können.
In diesem „Glücksfall“ werden die Gedanken
schon im Kopf formuliert. Wo das laute
Lesen aber als Premiere im Gottesdienst
geschieht, werden Pausen und Betonungen
oft ungünstig gesetzt, so dass sich dem Hörer
Zusammenhänge und Sinnspitzen nicht
erschließen.
Was geschieht
beim lauten Lesen?
Mehr oder weniger erfassen wir beim
Durchlesen den Inhalt. Wenn wir aber einen
Text detailliert verstehen, geschieht viel
mehr: Wir können das Gelesene an uns heranlassen,
werden davon erfasst und berührt.
So können wir beim Vorlesen den Hörer an
die Hand nehmen, ihn führen und die Gedanken
mit ihm teilen. Weil den meisten
Menschen Lesepraxis fehlt, fehlt aber oft
ein Gespür für die eigene Stimme und die
Art und Weise, etwas auszudrücken. Bewegen
wir uns aus unseren gewohnten Sprechmustern
heraus, empfinden wir dies daher
schnell als künstlich, übertrieben oder gar
theatralisch und nicht zu uns gehörig. Hier
haben viele Nachholbedarf. Vorlesen lässt
sich aber entwickeln und üben.
Betrachten wir ein Gebet. Wenn wir
beten, wenden wir uns konkret an einen
„Hörer“: an Gott. Es geht dabei um unsere
Wirklichkeit, um selbst Erlebtes, auch
um Hoffnungen und Wünsche, und eben
darum, was uns innerlich bewegt und was
wir vor Gott bringen wollen. Wenn wir das
Gebet sprechen, laut und vor anderen, laden
wir die Hörenden ein, auch bei sich selbst
genauer hinzuschauen. Wenn wir unsere
Wirklichkeit teilen, indem wir sie mitteilen,
wird sie fassbar und kann auch für die
anderen eine Anregung sein, über sich zu
reflektieren.
Besonders gut gelingt dies, wenn ein
Gebet einem Rhythmus folgt. Die ästhetische
Form einer gleichmäßigen Struktur
gibt dem Gebet einen einprägsamen Klang.
Nehmen wir als Beispiel GL 19,3. Wie kann
dieses Gebet gut vorgelesen werden?
Öffne meine Augen, Gott,
deine Herrlichkeit in der Vielfalt
von Pflanzen und Blumen zu sehen.
Öffne meine Ohren, Gott,
deine Stimme im Vogelgesang
und im Rauschen der Blätter zu hören.
Öffne mein Herz, Gott,
deine Liebe in der Fülle
von Früchten und Samen zu erahnen.
Öffne meine Hände, Gott,
deine Schöpfung
zu pflegen und zu bewahren.
Öffne mein Leben, Gott,
und mach mich fähig,
dich in allem zu erkennen.
Andrea Rehn-Laryea (Aus: Gotteslob.
Katholisches Gebet- und Gesangbuch,
Ausgabe für die Diözese Rottenburg-Stuttgart © Schwabenverlag AG, Ostfildern 2013)
Auf den ersten Blick ist die Form von fünf
Versen mit je drei Zeilen zu erkennen, die
den Charakter eines Gedichtes oder Liedes
nahelegt. Der Beginn jedes Verses richtet
sich mit einem Aufruf direkt an Gott. Die
Zeile spannt einen Bogen, wobei die Betonung
jeweils auf dem Sinnesorgan liegt, das
genannt wird. Nach jedem dieser Aufrufe
geht es darum, was dadurch bei mir bewirkt
werden soll. Die zweite und dritte Zeile der
Verse spannen deshalb auch einen Bogen
und sollten keinesfalls durch eine Pause
unterbrochen werden. Wichtig ist die Betonung.
Auch wenn wir im ersten Vers die Augen
ansprechen, sollte nicht „sehen“ betont
werden, sondern die Pflanzen und Blumen.
Für den zweiten Vers gilt dies gleichermaßen:
Nicht, dass wir hören, ist maßgeblich,
sondern das, was wir hören sollen. Entscheidend
ist der Melodieverlauf „…deine
Stimme im Vogelgesang und im Rauschen
der Blätter …“ Der Hauptakzent liegt auf
„Blätter“, die anderen Substantive erhalten
Nebenakzente. Im dritten Vers können wir
diesen Rhythmus durchbrechen, weil das
Wort „erahnen“ ungewöhnlich ist und einen
Akzent verträgt. Stünde „spüren“ da,
könnten wir „Früchte und Samen“ betonen.
Im vierten Vers geht es um die Schöpfung,
die wir nicht nur pflegen sollen, sondern die
es auch wert ist, dass wir sie bewahren. Im
letzten Vers trägt „erkennen“ den Akzent.
Wenn der Vortrag dann ehrfurchtsvoll und
nicht salbungsvoll ist, werden meine Sinne
für die Schöpfung geweckt.
Gut vorzulesen steht und fällt mit dem
bewussten Bezug zum Hörer. Bei einem
Gebet ist das nicht anders, vielleicht noch
intensiver. Betrachten wir das Gebet GL 20,1
in der Rubrik „Verantwortung für die Welt“:
Herr,
unsere Erde ist nur ein kleines Gestirn
im großen Weltall.
An uns liegt es, daraus einen Planeten
zu machen,
dessen Geschöpfe nicht von Kriegen
gepeinigt werden,
nicht von Hunger und Furcht gequält,
nicht zerrissen in sinnlose Trennung
nach Rasse,
Hautfarbe und Weltanschauung.
Gib uns Mut und die Voraussicht,
schon heute mit diesem Werk zu
beginnen,
damit unsere Kinder und Kindeskinder
einst mit Stolz
den Namen Mensch tragen.
Gebet der Vereinten Nationen
Als erstes steht die Anrede „Herr“, gefolgt
von einer lapidaren Feststellung („unsere
Erde …“). Trotzdem steckt in diesem Gedanken
eine Haltung von Demut („ein kleines
Gestirn im großen Weltall“). Der folgende
Gedanke überspannt den ganzen Satz: Es
wird aufgezählt, was auf diesem Planeten
geschehen oder verhindert werden soll, um
ihn lebenswert zu erhalten. Eine Zäsur wäre
beim Lesen nach dem ersten Bild möglich,
„… nicht von Kriegen gepeinigt …“, ebenso
nach dem zweiten Bild „nicht von Hunger
und Furcht gequält“. Ob man diese Zäsur
jeweils macht, hängt auch davon ab, wo vorgelesen
wird und wer die Hörenden sind.
Je stärker ich die Bilder wirken lassen will,
umso eher ist eine Pause angebracht. Die
Gedanken sind in sich vollständig und bekommen
damit Gewicht. Nüchtern, sachlich
und mit der verantwortungsvollen Haltung
im Vordergrund, lässt sich der Satz auch in
einem Guss lesen. Im dritten Bild sollten die
Aufzählungen zusammenhängend gelesen
werden. Danach brauchen wir eine Zäsur,
denn nachdem diese Bilder vorgestellt wurden,
folgt die Bitte. Der erste Teil des Satzes
stärkt das Bewusstsein für Verantwortung
und Tatkraft: „Gib uns Mut und die Voraussicht,
schon heute mit diesem Werk zu
beginnen …“ Die Aussage kann mit einem
gedachten Ausrufezeichen gelesen werden.
Danach folgt „nur“ ein Nebensatz. Er enthält
aber eine gewichtige Aussage, in der
die notwendige Tatkraft begründet ist. Wenn
wir dies zum Ausdruck bringen, nehmen wir
die Hörenden mit in die verantwortungsbewusste
Haltung der Schöpfung gegenüber.
Teil 2 (Gottesdienst 22/2016, S. 180)
Lesen können glücklicherweise die
allermeisten Menschen. Laut lesen
auch. Beim Leseerwerb ist dies sogar
die Stufe, die dem leisen Augenlesen
vorausgeht. Leise zu lesen beherrschen
wir erst später, wenn wir ausreichend mit
den Wörtern vertraut sind. Laut lesen wir,
wenn überhaupt, nur noch, wenn wir jemandem
vorlesen. Durch die Art, wie wir
den Text sprechen und gestalten, kann sich
eine Stimmung entwickeln und eine Figur
erhält Ausdruck.
Mit einem Text vertraut zu werden,
ihn sich zu eigen zu machen, gelingt nur,
wenn man ihn vorbereitend – und durchaus
mehrmals – laut liest. Dies können
wir schon an einem Gebet üben, z. B. an
GL 11,1:
Herr meiner Stunden und meiner Jahre.
Du hast mir viel Zeit gegeben.
Sie liegt hinter mir
und sie liegt vor mir.
Sie war mein und sie wird mein,
und ich habe sie von dir.
Ich danke dir für jeden Schlag der Uhr
und für jeden Morgen, den ich sehe.
Ich bitte dich nicht, mir mehr Zeit zu geben.
Ich bitte dich aber um viel Gelassenheit,
sie zu füllen, jede Stunde,
mit deinen Gedanken über mich.
Ich bitte dich um Sorgfalt,
dass ich meine Zeit nicht töte,
nicht vertreibe, nicht verderbe.
Segne du meinen Tag.
Jörg Zink (1922–2016) (Aus: Gotteslob.
Katholisches Gebet- und Gesangbuch,
Ausgabe für die Erzdiözese Freiburg
© Verlag Herder, Freiburg i. Br. 2013)
Das Gebet steht in Strophenform und legt
einen Rhythmus nahe. Wir dürfen uns jedoch
nicht irreführen lassen, dass jede Zeile
für sich stehen kann. Für die ersten zwei
Zeilen gilt das. Aber die nächsten beiden
Sätze der ersten Strophe müssen jeweils im
Ganzen gelesen werden.
Das ganze Gebet ist geprägt von Nachdenklichkeit.
Was die Zeit für mich bedeutet
und wie ich mit ihr umgehen will. Dieses
Sinnieren braucht auch beim Lesen Zeit.
So beginnt die zweite Strophe mit einem
Dank für jeden Schlag der Uhr und für jeden
Morgen. Lassen wir uns beim Sprechen von
diesem Gedanken tragen, stellt sich als Bild
vor dem inneren Auge vielleicht der Zeiger
der Uhr ein, und wir können fast den Puls
von 60 Schlägen in der Minute spüren. Nun
folgt die Bitte, dass es nicht mehr Zeit bedürfe.
Sprechen wir dies mit dem gleichen Puls
und geben auch diesem Gedanken Raum.
Die Gelassenheit, die wir dann erbitten, unterstreicht
die innere Ruhe und den Wunsch,
die Zeit sinnvoll zu verbringen, ja, sogar mit
den Gedanken Gottes über mich. Die dritte
Strophe vertieft diese Bitte um Sorgfalt.
Sie wird nun genauer beschrieben. Der Satz
kann in einem Bogen gesprochen werden,
dennoch im gleichen Pulsschlag. Pausen
können hier gemacht werden, wo jeweils das
Komma steht, die Stimme sollte aber oben
bleiben, um die Weiterführung des Gedankens
zu signalisieren. So lasse ich mich beim
Lesen tragen von dem Tempo, und kann die
Sorgfalt empfinden, die ich mir für den Umgang
mit meiner Zeit wünsche, damit ich
sie nicht töte, vertreibe oder verderbe. Dann
brauchen wir wiederum eine Pause, die dem
Gedanken Raum gibt. So können sich Bilder
einstellen, vielleicht ein schöner Zeitvertreib
oder ein sündiger. Den Abschluss bildet die
Bitte „Segne du meinen Tag“. Gut gelesen, ist
das Gebet eine wunderbare Meditation.