Auf die Aussage „Es werde Licht“, die in der Osternacht dem Lumen Christi und dem Exsultet folgt, können und wollen wir kaum verzichten. Damit müssen wir die Schöpfungsgeschichte, die erste Lesung der Osternacht, in ihrer vollen Länge in Kauf nehmen. Können wir uns nicht auf die Kurzfassung beschränken? Wenn ich nun empfehle, dass Sie die Hörenden am gesamten Entstehungsprozess der Erde teilhaben lassen sollten, indem Sie ihnen ihre Schönheit und die Wunder auf unserem Planeten zeigen, klingt es fast kitschig.
Der Text ist in zweierlei Hinsicht einfach. Zum einen ist es die Struktur, die immer wiederkehrende kurze Sätze bereithält, sieben Mal: So geschah es. … Gott sah, dass es gut war. … Es wurde Abend, und es wurde Morgen. … Dann sprach Gott. … Zweiter Tag, dritter Tag, etc. Zum anderen ist es das Thema. Es gibt keinen Bruch, keine störenden Elemente, keine komplizierten wissenschaftlichen oder philosophischen Theorien, sondern am Ende steht die vollendete Harmonie des geschaffenen Werkes. In dieser doppelten Einfachheit liegt eine Herausforderung für die Vorleserin oder den Vorleser (bzw. die Lektorin oder den Lektoren). Gleichzeitig ist der Text von so einer Erhabenheit, dass man als Leser leicht verleitet werden kann, ihn auch erhaben zu lesen – langsam, getragen, gewichtig. Doch Vorsicht, dann wird er lang! Ein solcher Text braucht Kontinuität und Dichte, die das Schaffen des Künstlers zum Ausdruck bringt. Dieser Schaffensprozess hat etwas Leichtes, Fließendes, Konsequentes, das für die Beteiligten eines ganz bestimmt nicht ist: langweilig. Wie immer beim Vorlesen: Die Satzstruktur, die Wörter und erst recht die Satzzeichen bieten keine Orientierung, um den Inhalt als das Bild zu sehen, das gezeichnet wird.
Akustisch ein Bild malen
Wie jeder Künstler bei aller Hingabe genügend Kunstfertigkeit braucht, um einen geschliffenen Diamanten zu fertigen, brauchen wir als Vorleser unsere Sprache. Das Experimentierfeld sind die Betonung und Sprechmelodie, Tempo und Lautstärke, die dynamische Variation verleihen. Was vordergründig analytisch anmutet, ist aber nie als absolute Größe zu betrachten, sondern wie Angaben zum Tempo und zum Vortrag in einem Musikstück zu sehen, die eine Idee dafür liefern, wie es der Künstler gemeint hat. Darüber hinaus können wir Wärme in die Stimme legen, ihr ein dunkleres oder helleres Timbre verleihen, in weichem Legato lesen oder mit einem Staccato einer Aussage Schärfe geben. Das ist das Instrumentarium, mit dem wir akustisch ein Bild malen. Und der Vorleser wird selbst zum Schöpfer, indem er das, was sichtbar wird, in Worten gestaltet.
Zu Beginn zeigt sich das Szenario dunkel und düster. Das einzig existierende Element ist das Wasser in bedrohlicher Fülle, als Urflut noch völlig ohne nährenden Charakter. Darüber schwebt Gottes Geist. Dies können wir erwartungsvoll, fast geheimnisvoll sprechen: mit der Sehnsucht nach Leben und Schutz. Allein dieser erste Satz beinhaltet vier Gedanken. Wenn jeder Gedanke mit einem Punkt gelesen wird, erhält er Gewicht und verstärkt die Wirkung des Szenarios. Mit dem nun werdenden Licht darf auch die Stimme heller werden, und darf die Erleichterung über das nun mögliche Leben aufleuchten lassen.
Trotz der Kürze der Sätze zu Anfang sind Pausen angebracht und notwendig Gott sprach: Es werde Licht. Pause. Und es wurde Licht. Pause. Gott sah, dass das Licht gut war (V. 3 u. 4). Dies sind jeweils einzelne Bögen, die unbedingt in sich geschlossen, d. h. zügig und dicht gelesen werden sollten, sonst verliert der Text seinen Lauf und eben die Kontinuität und Dichte, die der Geschichte ihren Zusammenhang verleiht. Es sollte keine Pause nach dem Doppelpunkt Gott sprach:… geben, ebenso wenig bei Gott sah,…, sonst „sieht“ der Hörer das Ergebnis nicht sofort! Ein ebensolcher Bogen ist Es wurde Abend, und es wurde Morgen, zu lesen wie eine Welle, die anschwillt und wieder ausläuft. Nun kommt das beglückende Ergebnis eines zufriedenen Betrachters: Erster Tag. Setzen Sie hier die Betonung auf Tag, denn es ist wirklich das erste Mal, dass ein Tag entstanden ist. Beim zweiten Mal ist dies schon anders; setzen Sie deshalb die Betonung auf zweiter Tag, im Kontrast zum ersten. So entsteht Variation, die das Ohr wach und aufmerksam bleiben lässt, weil die Sprache lebendig ist.
Passagen, die mit viel Ausdruck und Leidenschaft gesprochen werden können, sind jeweils die neuen Elemente, die geschaffen werden. Das Land brachte junges Grün hervor… (V. 12) verträgt eine helle, zärtliche Färbung, mit einem Lächeln im Gesicht, so als würde man den Zweig spüren, der über die Wange streicht. Ein anderes Beispiel: Gott machte die beiden großen Lichter, das größere … (V. 16). Die großen Lichter dürfen gedehnt werden, weil sie so bedeutsam für das Leben sind und wir sie sofort vor Augen gestellt bekommen. Das größere, das über den Tag herrscht, ist majestätisch, das kleinere, das über die Nacht herrscht, darf liebevoll und weich klingen. Besonders melodisch darf es sein bei Das Wasser wimmle von lebendigen Wesen (V. 20) – hier sind allein die Worte fast lautmalend und vertragen jeweils einen kleinen Akzent, und Vögel sollen über dem Land am Himmelsgewölbe dahinfliegen – dies als langen Bogen (mit dem Hauptakzent auf Vögel) in einem Guss lesen, der dem Zug eines Vogels entspricht. Nun kommt wieder der zufriedene Betrachter: Gott sah, dass es gut war – eine eher nüchterne Feststellung im Kontrast zu dem eben Gelesenen.
Leidenschaft für die Schöpfung
Die Erschaffung von Licht, Land und Leben birgt so viel Poesie in sich, dass wir mit Leidenschaft für das stehen müssen, was wir zeigen. Dann entdecken wir schließlich auch die Leidenschaft, die Gott für die Menschen hat (Lasst uns Menschen machen, als unser Abbild, uns ähnlich. V. 26), und können mit größerer Ehrfurcht auf die Schöpfung blicken.
Im Johannes-Prolog, der an Weihnachten zu hören ist, finden wir eine ganz analoge Beschreibung, die aber weitaus weniger bildhaft ist und sich daher viel „trockener“ liest: Ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen (Joh 1, 3-4). Hier hilft uns das Bild vom Kind in der Krippe, um uns berühren zu lassen.
Wie immer beim Vorlesen nehmen wir den Hörer an die Hand. Und als Hörende sind wir keineswegs passiv. Das Gehörte geht vom Ohr vor das innere Auge und wird durch unsere Erfahrungen und unsere Vorstellungskraft zum Bild. Wir dürfen dem Maler oder Bildhauer beim Schaffen seines Werkes über die Schulter schauen und werden Teilhabende. Sehen wir auch, dass es gut war? Ist es nicht zum Staunen, wie das Resultat geworden ist? Stellt sich Dankbarkeit ein? Vielleicht auch Bedauern, dass nicht alles so rein und heil geblieben ist, wie es intendiert und geschaffen worden war? Welche Gedanken auch dominieren, man müsste sich als Hörer schon sehr ausklinken, um von dem Wunderwerk „Schöpfung“ unberührt zu bleiben.
Lassen Sie sich als Vorleser dazu ermutigen, Freude am Vorlesen zu haben, damit das Hören dieser Geschichte zum Genuss wird, für Sie selbst und für die Hörenden. Lesen Sie in der Osternacht die ganze Schöpfungsgeschichte, nicht erhaben, sondern bestimmt und voller Zauber.