Von Philipp Harnoncourt (†)
„Die Kirche war immer eine Freundin der schönen Künste, hat unablässig deren
edlen Dienst gesucht, [damit] die Dinge, die zur heiligen Liturgie gehören,
wahrhaft würdig seien, geziemend und schön: Zeichen überirdischer Wirklichkeit
…“ Nachdem die nachkonziliare Reform der katholischen Liturgie sich viele
Jahre lang vor allem um Verständlichkeit sowie um bewusste und tätige Mitfeier
der gesamten Versammlung am Gottesdienst der Kirche gekümmert hat,
wird inzwischen mehr und mehr die Bedeutung dessen bewusst, was die Liturgiekonstitution
mit dem zitierten Satz in Art. 122 sagen wollte. Wie die Liturgie
insgesamt dienen auch die Künste in der Liturgie der Verherrlichung Gottes und
der Auferbauung der Gläubigen. Ihre Schönheit entspricht der Majestät und
Heiligkeit Gottes und dient der Erhebung der Gläubigen und ihrer Frömmigkeit.
Was ist schön?
Es ist schwierig zu bestimmen, was „schön“ ist und was es mit der Schönheit
auf sich hat. Zu stark überschneiden sich divergierende ästhetische Ansichten,
die das Urteil über Schönheit entweder allein der Subjektivität, ja dem Geschmack
des Betrachters, überlassen (pulchrum est, quod visum, vel auditum,
placet – Schön ist, was dem Betrachter oder dem Hörer gefällt), oder die das
Schöne, gemeinsam mit dem Wahren und dem Guten, in der Absolutheit Gottes
gewissermaßen objektiv verankert sehen. Diese letztere Sicht steht aber
nicht gegen die erstere, sondern gibt ihr fundamentale Bedeutung. Denn das
absolut Wahre und das mit diesem idente absolut Gute (id quo maius cogitare
nequit – das so Große, dass nichts Größeres gedacht werden kann) erweisen
sich erst als das Schöne, indem sie sinnlich wahrnehmbare Form annehmen.
Das zustimmende Wohlgefallen, ausgelöst durch Wahrnehmen von etwas,
was als schön empfunden wird, weist auf eine dem Menschen innewohnende
Sehnsucht hin, Schönheit zu erfahren, in dieser Erfahrung zu bleiben – „verweile
Augenblick, du bist so schön!“ lässt Goethe den Dr. Faust ausrufen – und selbst an der Schönheit zu partizipieren. Die französische Mystikerin aus
jüdischer Familie Simone Weil (1909–1943) hat diese Überzeugung aus eigener
und sehr schmerzlicher Erfahrung zum Ausdruck gebracht: „Der natürliche
Hang der Seele, die Schönheit zu lieben, ist die Falle, derer sich Gott am
häufigsten bedient, um die Seele dem Hauch aus der Höhe zu öffnen.“
Verführerische Schönheit
Die unausrottbare Sehnsucht nach dem Schönen bringt es mit sich, dass der
Mensch verführbar ist durch alles, was sich ihm als „schön“ – oder auch als
„gut“ – anbietet. Das Gefällige, erheblich billiger als das wahrhaft Schöne, und das Bekömmliche, erheblich billiger als das wahrhaft Gute, können die Gottes-Sehnsucht irreleiten. Oberflächliches verstellt unzugängliche Tiefe, billiges
Glück scheint die Sehnsucht nach Glück vorübergehend zu befriedigen.
Gerade das Erste Testament beschreibt die Schönheit vor allem in ihrer
verführerischen Seite: „Die Frau sah, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu
essen, und dass der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu
werden“ (Gen 3,6), und sie gab der Verführung nach.
Der Hinweis auf die Vergänglichkeit aller Schönheit – „Trügerisch ist Anmut,
vergänglich alle Schönheit“ (Spr 30,31) nimmt ebenfalls nur auf die verführerische
Seite der Schönheit Bezug. Der berechtigte Stolz der Juden, „dass der
Tempel mit schönen Steinen und Weihegeschenken geschmückt sei“, wird
von Jesus brüskiert: „Es wird eine Zeit kommen, da wird kein Stein auf dem
anderen bleiben, alles wird niedergerissen“ (Lk 21,6).
Statt von der Schönheit Gottes wird in der Bibel häufig von seiner „Herrlichkeit“
gesprochen, obwohl auch diese nicht weniger verführerisch zu sein
scheint: „Keineswegs werdet ihr sterben, … ihr werdet wie Gott sein“ (Gen
3,4f), spricht die Schlange zu Adam und Eva. Herrschsucht, Machtstreben,
Prachtentfaltung, Gewalt-Missbrauch, Neid und Geiz zeigen, wie erfolgreich
Herrlichkeit den Menschen betört und verführt.
Gottesdienst – der Schönheit verpflichtet
Der Blick auf bedrohende Verführung darf jedoch nicht blind dafür machen,
dass der Lobpreis der Herrlichkeit Gottes und seiner Großtaten der Schönheit
des Feierns bedarf, auch in maßloser Verschwendung und ohne jeden Nutzen.
Die Gegenwart Gottes heiligt jeden Ort der Begegnung und fordert ein seiner
Heiligkeit entsprechendes Verhalten. Bei der Offenbarung Gottes vor Mose im
brennenden Dornbusch erscheint das unzugängliche ewige Licht Gottes, und
Gott erklärt den Boden für heilig: „Komm nicht näher heran. Leg deine Schuhe
ab! … Mose verhüllte sein Gesicht, denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen“
(Ex 3,2–6). „Die Herrlichkeit des Herrn erschien in der Wolke“ (Ex 16,10).
„Sie ließ sich nieder auf dem Berg Sinai, … Mose ging mitten in die Wolke
hinein“ (Ex 24,16). „Der Herr sprach zu Mose: … Macht mir ein Heiligtum,
dann werde ich in eurer Mitte wohnen“ (Ex 25,8); es folgen genaueste Angaben,
wie die Bundeslade und das Bundeszelt mit kostbarster Ausstattung angefertigt
werden sollen, und es wird ausdrücklich auf die Geistbegabung der
Künstler und Handwerker hingewiesen, damit das heilige Werk gelinge.
Mit ebenso maßloser Feierlichkeit übertraägt König David die Bundeslade,
über der die Herrlichkeit Gottes schwebt, nach Jerusalem: „David und das
ganze Haus Israel tanzten und sangen vor dem Herrn mit ganzer Hingabe und
spielten auf Zithern, Harfen und Pauken, mit Rasseln und Zimbeln“ (2 Sam
6,5). Und König Salomo bietet alle Kunst auf, der Herrlichkeit des Herrn einen
Tempel zu bauen, der zu den sieben Weltwundern gezählt worden ist.
Allen späteren Zerstörungen zum Trotz bleibt „Zion, die Krone der Schönheit“
(Ps 50,2); „(Gottes) Berg ragt herrlich empor, er ist die Freude der ganzen Welt“
(Ps 48,3), und in eschatologischer Voraussicht bekennt der Prophet Jesaja zur
Zeit der assyrischen Gefangenschaft: „(Jerusalem), die Herrlichkeit des Herrn
geht strahlend auf über dir“ (Jes 60,1), … „Du wirst zu einer prächtigen Krone,
zu einem königlichen Diadem in der Hand deines Gottes“ (Jes 62,3).
Der Lobpreis Gottes, in den die ganze Schöpfung einstimmt: „Die Himmel
rühmen die Herrlichkeit Gottes, vom Werk seiner Hände kündet das Firmament“
(Ps 19,2), nimmt alle Künste in Anspruch – dies gilt für Israel und für
alle christlichen Kirchen: „Halleluja! Lobet Gott in seinem Heiligtum, lobt ihn
in seiner mächtigen Feste, … lobt ihn mit Harfe und Zither, … mit Pauken und
Tanz, … mit Flöten und Saitenspiel, … mit hellen und mit klingenden Zimbeln!
Alles, was atmet, lobe den Herrn! Halleluja“ (Ps 150).
Die Schönheit Gottes in Jesus Christus und in seiner Kirche
Erst die großen Kirchenväter des Ostens sprechen ausdrücklich von der
unendlichen Schönheit Gottes: „Völlig unaussprechlich sind die Strahlen der
göttlichen Schönheit. Kein Wort legt sie dar, kein Ohr nimmt sie auf. Selbst
wenn du von den Strahlen des Morgensterns sprichst, von der Helligkeit des
Mondes, ja auch vom Licht der Sonne, alle sind sie wertlos zur Darstellung
jener Herrlichkeit. Diese Dinge sind unzureichender im Vergleich mit dem wahren
Licht als eine tiefe Nacht oder eine düstere Mondfinsternis hinsichtlich
eines strahlenden Mittags. Diese Schönheit ist fleischlichen Augen unsichtbar,
hingegen allein für die Seele und das Denken fassbar.“ (Basilius Gr. † 379)
Im Westen ist Augustinus († 430) der Begründer einer christlich-theologischen
Ästhetik. Doch letztlich hat erst Hans Urs von Balthasar durch seine Unterstreichung der Form im christlichen Denken und Leben – unter Hinweis
auf Inkarnation, Kirche, Sakramente und Rituale – eine neue christlich-theologische
Ästhetik grundgelegt, in der Schönheit eine unverzichtbare Qualität
besitzt.
Die Schönheit Gottes wird manifest, weil das ewige Wort des Vaters, sein
Sohn, im Fleisch sichtbar erscheint – „Jesus Christus ist die sichtbare Form des
innertrinitarischen Selbst Gottes“, so Hans Urs von Balthasar –, aber sie bleibt
in seiner Erniedrigung bis in den Tod am Kreuz verborgen. In Auferstehung
und Erhöhung wird seine Herrlichkeit, die er in Wunderzeichen hat aufscheinen
lassen, endgültig offenbar: „… so tat Jesus sein erstes Zeichen in Kana in
Galiläa und offenbarte seine Herrlichkeit“ (Joh 2,11). – „Das Wort ist Fleisch geworden
und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen,
die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit… .
Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen Gnade über Gnade“ (Joh 1,14.16).
Viele Lieder und Texte der mystischen Tradition besingen die Schönheit Jesu,
z. B.: „Schönster Herr Jesu“, „Wie schön leuchtet der Morgenstern“,
„Mein schönste Zier und Kleinod bist auf Erden du, Herr Jesu Christ“.
Die göttliche Schönheit Jesu strahlt dem Glaubenden und Liebenden auch
aus dem Elend der Krippe zu: „O schönstes, o liebstes, o göttliches Kind“,
„Seht, aus einer Jungfrau Schoß“, und aus der Schmach des Kreuzes: „Die
Wunden rot, jetzt o wie schön, wie Sonn- und Mondglanz anzusehn“, „Arbor
decora et fulgida“. Die Schönheit Christi erstrahlt auch in seinen Heiligen:
„Ganz schön bist du, Jungfrau Maria“. Die prächtige Stadt, „das neue Jerusalem,
das, schön geschmückt wie eine Braut“, (Offb 21,2) steht für die Kirche.
Die Schönheit in der Liturgie
Liturgie ist von ihrem Wesen her schön, denn sie partizipiert an der Form göttlicher
Selbstmitteilung; sie ist ein inkarnatorisches Geschehen: göttlich schön
und zugleich ohnmächtig und dürftig. Nochmals sei Simone Weil zitiert, von
ihrem ersten Aufenthalt in der Benediktiner-Abtei Solèsmes in der Karwoche
1938, wo sie alle Gottesdienste mitfeiert: „Ich hatte bohrende Kopfschmerzen;
jeder Ton schmerzte mich wie ein Schlag. Und da erlaubte mir eine äußerste
Anstrengung der Aufmerksamkeit, aus diesem elenden Fleisch herauszutreten,
es in seinem Winkel hingekauert allein leiden zu lassen und in der unerhörten
Schönheit der Gesänge und Worte eine reine und vollkommene
Freude zu finden.“ Schon einige Jahre früher besuchte Simone Weil öfters die
katholische Messe. Darüber schreibt sie 1942: „Schönheit der Riten. Messe.
Die Messe kann den Verstand nicht berühren, denn der Verstand erfasst nicht,
worum es dabei geht. Sie ist vollkommen schön, von sinnlicher Schönheit,
denn die Riten und Zeichen sind sinnlich wahrnehmbare Dinge. Schön in der
Art eines Kunstwerks.“ Besonders der gregorianische Gesang berührt sie
zutiefst. Liturgie ist für sie „eine Schönheit, die kraft ihrer unvermischten
Reinheit weh tut, ein Schmerz, der kraft seiner unvermischten Reinheit
besänftigt“. Und was Simone Weil grundsätzlich über die Bildkunst bemerkt:
„Ein Bild ist ein endlicher, durch einen Rahmen begrenzter Raum; das Unendliche
muss darin enthalten sein“, darf auch von der Liturgie gesagt werden.
Welche Wirkung von einer „schönen“ Liturgie ausgehen kann, zeigt der Bericht
in der so genannten Nestor-Chronik über die Bekehrung Wladimirs, des
Fürsten der Kiewer Rus, Ende des 10. Jahrhunderts. Entscheidend ist für ihn,
was seine Kundschafter von einem Gottesdienst in Konstantinopel erzählen:
„Wir wissen nicht, waren wir im Himmel oder auf der Erde, denn auf der Erde
gibt es solche Schau und solche Schönheit sonst nicht. Wir sind nicht
imstande davon zu berichten. Nur das wissen wir, dass Gott dort mit den
Menschen ist, und ihr Gottesdienst ist besser als bei allen anderen Völkern.“
Daraufhin schließt er sich mit seinem Volk der griechischen Kirche an.
Das Kleid des Heiligen ist die Schönheit. Während aber Gottes Schönheit vollkommen
ist, wird von Menschen geschaffene Kunst, mag sie noch so gut sein,
immer unvollkommen bleiben. Mein Bruder Nikolaus, der Dirigent, ist überzeugt,
dass das Schöne in jeder Kunst immer auch defekt, unrein sein muss,
sonst könnten wir sie nicht ertragen. Dem entspricht auch eine strenge Regel der
Muslime: Gelänge es jemals, einen Teppich gänzlich fehlerfrei zu knüpfen, so
muss noch ein Fehler eingefügt werden, denn nur Gott schafft Vollkommenes.
Liturgie ist von ihrem Wesen her schön, weil sie göttlich ist. Es ist uns aufgetragen,
um eine schöne – nicht um eine gefällige oder eine attraktive – Liturgie
besorgt zu sein. Erlebbare Schönheit öffnet den Zugang zum Himmel!
Zu den Fundstellen der Zitate vgl. die ausführlichere Fassung dieses Beitrags
in: das prisma. Beiträge zu Pastoral, Katechese und Theologie 2/07, S. 24–31.
Quelle: Gottesdienst 11/2008, S. 81–83