Corona – die »schlimmste Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg«?
Die Corona-Krise hat unsere Art zu leben ins Wanken gebracht. Dies geschieht keineswegs zum ersten Mal – und wird sich sicher wiederholen. Die Ärzte und Medizinhistoriker Heiner Fangerau und Alfons Labisch erörtern Pandemien samt Covid-19 in ihren historischen, aktuellen und künftigen Dimensionen und diskutieren die Fragen: Hat die Welt so etwas wie die aktuelle Pandemie schon einmal erlebt? Wie veränderten Seuchen das öffentliche und private Leben? Was sind die natürlichen, die sozialen, historischen und kulturellen Hintergründe von Pandemien? Worauf müssen wir uns künftig persönlich und worauf müssen sich Gesellschaft und Gesundheitswesen einrichten, wenn wir unsere Lebensart bewahren wollen?
Interview mit den Autoren
Epidemien und Pandemien begleiten die Menschheit seit jeher. Was haben wir aus der Geschichte der Seuchen gelernt?
Wir haben uns erfolgreich auf die Seuchen der Industrialisierungsära vorbereitet: Pest, Cholera, Gelbfieber, Typhus, Flecktyphus, Tuberkulose etc. Dies betrifft sowohl gesunde Verhältnisse als auch gesundes Verhalten. Auch wurde eine weltweite und nationale Struktur von Überwachen, Eingrenzen und Beseitigen von Infektionsherden eingerichtet. Das sind alles Ergebnisse eines Umgangs mit vergangenen Seuchen. Wir können uns auch auf die Seuchen der digitalen Globalisierung – new emerging diseases – vorbereiten. Die Instrumente sind bekannt – es sind die eben genannten, sie müssen allerdings zeitgerecht angepasst werden.
Warum trifft uns Covid-19 trotzdem derart unvorbereitet?
Wir hatten weltweit bereits zwei SARS-Epidemien und vergleichbare Grippeepidemien mit hoher Inzidenz und Letalität. Wir glaubten uns gut vorbereitet, da das Szenario der Pandemieabwehr sich vornehmlich an Grippeepidemien ausrichtete und die klassische Surveillance-Maintenance-Containment-Strategie auszureichen schien. In diese Ruhe platzte das Virus. Die klassischen Strategien versagten rasch. Angesichts der rasant fortschreitenden Infektionen konnten die Infektionswege nicht mehr geklärt werden. Es wurde improvisiert, alles wurde stillgelegt. Was vorn nicht getan wurde, muss hinterher mit dem Holzhammer erledigt werden. Gleichzeitig dominierten Erinnerungen an Krisenszenarien, die man hundertmal im Fernsehen oder Kino sehen konnte, die öffentliche Wahrnehmung. Das Sicherheitsgefühl ist in Deutschland aber zurück, seit besonders betroffene Gebiete zügig Maßnahmen ergriffen. Und wir merken, dass trotz aller Kürzungen das Krankenhauswesen in Deutschland noch einen hohen Standard hat.
Welche Lehren ziehen wir aus der jetzigen Situation und wie können wir in Zukunft Pandemien besser begegnen?
Wir sind keine Politiker und können nur Aufmerksamkeitshorizonte anbieten. Mit Blick auf die jüngere Seuchengeschichte empfehlen wir, die aktuelle Situation, Maßnahmen und ihre Wirkungen nach Abklingen der Pandemie auf allen Ebenen – international bis lokal – gründlich zu untersuchen. Das klingt nicht originell, wird aber nach einer Seuche oft vernachlässigt. Best-practice-Modelle sind zu bestimmen, die neben dem rein epidemiologischen „Outcome“ auch in die kulturellen und rechtlichen Vorgaben für Deutschland passen müssen. Die Erkenntnisse sollten in international, national, regional und lokal organisierten Arbeitsgruppen, an denen Wissenschaftler und Ärzte, Politiker und Administratoren teilnehmen, auf die Notwendigkeiten und das Potenzial der jeweiligen Handlungsebene hin analysiert und in eine Infrastruktur umgesetzt werden. Diese ist ständig vorzuhalten, um im Fall einer Epidemie sofort eingreifen zu können. Das wird teuer – ist aber viel billiger, als ein ganzes Land stillzulegen.
Und was geschieht bei all diesen Maßnahmen mit den Freiheitsrechten der Menschen?
Diese Aktivitäten müssen so kommuniziert werden, dass sich die Menschen im Vorhinein auf ein angemessenes Verhalten vorbereiten. Die Frage persönlicher Rechte einerseits und des Schutzes des jeweils anderen ist vorrangig zu diskutieren: Die wohl unausweichliche Einschränkung von Freiheitsrechten sollte besser selbstbestimmt als Selbstbeschränkung wahr- und dann auch selbständig vorgenommen werden. Oder besser noch: Die Freiheitsrechte sind aus dem Blick zu sehen, wie ich andere vor Schaden bewahren, ihnen möglicherweise nutzen kann. Zuletzt ist klar, dass die Vorsorgemaßnahmen die internationalen Standards elektronischer Datenverarbeitung nutzen sollten und nicht auf dem Niveau der Gesundheitsfürsorge des 19. Jahrhunderts und des bis dato ständig ausgehölten öffentlichen Gesundheitswesens agieren können.
In den nächsten Wochen und Monaten werden viele Bücher zum Thema Corona erscheinen. Was macht Ihr Buch so besonders?
Wir kennen bis jetzt keine anderen Bücher zum Thema, können daher auch in dieser Hinsicht keine Vergleiche ziehen. Ziemlich wahrscheinlich werden die anderen Bücher andere Schwerpunkte haben. Das ist zu begrüßen, weil sich dann allmählich wie bei einem Mosaik ein umfassendes Bild einstellen kann. Allerdings sind Alfons Labischs Arbeiten zur Geschichte und Theorie öffentlicher Gesundheitssicherung seit Jahrzehnten bekannt und haben unter Leitbegriffen wie „homo hygienicus“, „health is a crossroad“ oder „skandalisierte Seuchen“ ein internationales Profil. Heiner Fangerau wiederum forscht seit Jahren zu den Vernetzungen von Medizin, Naturwissenschaft und Gesellschaft, den Besonderheiten der modernen Medizin oder den Bildern, die wir uns von Krankheiten machen.
Am 24. März sprachen wir das erste Mal über das Buch, am 30. April erscheint das E-Book. Wie schreibt man in so kurzer Zeit ein derart fundiertes Buch?
Weil wir uns seit Jahrzehnten (AL seit 1975; HF seit 2000) mit diesem Thema auseinandersetzen und dazu zahlreiche Bücher, Aufsätze etc. veröffentlicht, zahlreiche Vorträge und Lehrveranstaltungen innerhalb und außerhalb der Universität, national und international durchgeführt haben und durchführen. Wir bearbeiten schlicht und ergreifend unser Thema. Außerdem arbeiten wir sehr gerne, gut und schnell zusammen: eine große Freude!
Die Kontaktbeschränkungen geben uns viel Zeit zum Lesen. Welche Bücher würden Sie besonders empfehlen?
Anderen Bücher empfehlen – schwierig! Dazu müssten wir „die anderen“ kennen.
Für mich (AL) wäre höchstens zu sagen, was ich selbst derzeit außerhalb des umfänglichen Studiums von Fachliteratur lese. Zur Unterhaltung aktuell: Philipp Kerr und Hilary Mantel – selbstredend auf Englisch, sonst geht das besondere Flair verloren. Wenn es um gutes Deutsch geht: immer wieder Peter Handke. Wenn es um die Existenz geht: Yi Jing, Laozi, Dschuangzi.
Dem Philipp Kerr schließe ich (HF) mich an! Ich habe ansonsten die Unart, ein völlig wahlloser Leser zu sein. Wenn ich es mir aussuchen kann, greife ich gerne zu Ian McEwan. Vor kurzem bekam ich sein „Solar“ geschenkt und musste laut lachen, als ich dort die Darstellung einer Wissenschaftstheore-tikerin und -historikerin bzw. ihrer Begegnung mit Physikern lesen durfte. Ansonsten alles von Martin Suter, Philip Roth und T.C. Boyle. Empfehlen würde ich jedem Lion Feuchtwanger und – auch und gerade erwachsenen Menschen – den kleinen Nick von René Goscinny.
Vielen Dank an die beiden Autoren. Die Fragen stellte der Lektor Dr. German Neuendorfer