Das Osmanische Reich öffnet sich nach Westen
Das Osmanische Reich hatte ähnlich wie China, Japan und andere Staaten eine Art Wettlauf gegen die Zeit anzutreten. Schon im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde die vollkommen überholte Macht und Militärstruktur durch eine modernere, an europäischen Prinzipien angelehnte Armee ersetzt. 1838 öffneten sich in Übereinkunft mit den Briten die osmanischen Märkte für den internationalen Handel. Ab 1839 begann ein langfristiger Reformprozess. Die Armee wurde weiter modernisiert und durch Einführung der Wehrpflicht massiv verstärkt.
Kurden, Schiiten, Sunniten – Aufstände im Osmanischen Reich
Doch das Osmanische Reich wurde von den Rändern her massiv unter Druck gesetzt, sodass es dort vielerorts zu Auflösungserscheinungen kam. Im Westen, auf dem Balkan, erhoben sich die meisten Völker und drängten die osmanische Herrschaft nach und nach zurück. Dieser Kampf erforderte wiederum einen hohen Aufwand an Ressourcen und behinderte alle Versuche zur Konsolidierung des Gesamtreiches nachhaltig. Ferner bestanden keineswegs stabile Verhältnisse in den arabischen bzw. kurdischen Gebieten. Kurden, Schiiten, Sunniten und andere ethnisch-religiöse Bevölkerungsgruppen probten immer wieder den Aufstand. Schließlich besetzten die Briten Zypern (1878), die Franzosen Tunis (1881) und die Italiener 1911/12 Libyen. Die Reaktion war eine Konzentration der Kräfte auf die Kernregionen, hier insbesondere die türkischmuslimischen Zentren, und dann der ideologischen Stabilisierung durch die Propagierung einer Panislamischen Bewegung (Kalifat) unter dem Sultan Abdul Hamid II., der als Führer aller Muslime auftrat.
Die Jungtürken unter Enver und Talat Pascha
Auf der anderen Seite kam es nun auch zunehmend zur Stigmatisierung von nichtmuslimischen Teilen der Bevölkerung, vor allem der stets der Kollaboration mit dem Westen verdächtigten Armenier. Allmählich entstand im Dunstkreis einer neuen, modern ausgebildeten Verwaltungselite schließlich eine nationalistisch-liberale Strömung, die »Jungtürken«. Diese stürzten im Jahre 1908 nach dem verlorenen Ersten Balkankrieg Abdul Hamid II. Diese Revolution zeitigte nachhaltige Einwirkungen auf die ganze Region und ist in ihrer Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen. Das zentrale Gremium der Jungtürken, das Komitee für Einheit und Fortschritt, übernahm die Leitung der Geschicke. Die Monarchie wurde nun auf rein repräsentative Aufgaben beschränkt. Die neuen starken Männer Enver Pascha und Talat Pascha steuerten das Osmanische Reich dann an der Seite der Mittelmächte in den Ersten Weltkrieg.
Ägypten als Protektorat Großbritanniens
In Ägypten verlief die Entwicklung ähnlich wie im osmanischen Mutterland. Der dortige osmanische Vizekönig verlor das Rennen um die Modernisierung, den Briten gelang es zunehmend, die reale Kontrolle über das Land auszuüben. Sie stabilisierten ihre Herrschaft vollends, als sie 1904 mit den Franzosen eine »Entente cordiale« eingingen, die auch beinhaltete, dass man die kolonialen Einflusssphären gegenseitig anerkannte. Ägypten wurde 1914 dann auch offizielles »Protektorat« des britischen Weltreiches.
Das Ende des Osmanischen Reiches
Das Osmanische Reich ist eines der primären Opfer des Ersten Weltkrieges. Schon in den Jahrzehnten zuvor hatte es derart an politischer und sozialer Kohärenz verloren, dass es, in ganz Europa bekannt als »Kranker Mann am Bosporus«, schon vor 1914 dem Untergang geweiht schien.
Demgegenüber zeigte der Krieg selbst, in den die Hohe Pforte an der Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns eintrat, dass die Verhältnisse nicht so einfach lagen: Anders als von der Entente, insbesondere den Briten, erhofft, brach das Osmanische Reich nicht rasch zusammen, sondern erwies sich zunächst als außerordentlich widerstandsfähig. Dies hatte wohl nicht zuletzt auch mit den Reformen und Umstürzen vor dem Ersten Weltkrieg zu tun. Die reformierten administrativen Strukturen hielten, obwohl sie durch die mangelnde fachliche Kompetenz der Verwaltungselite nicht übermäßig effizient waren. Auch kam es unter den zahlreichen Völkerschaften in Mesopotamien, Anatolien, Syrien und Palästina keineswegs zu entscheidenden Aufständen.
Vom Völkermord an den Armeniern bis zum Ende des Osmanisches Reiches
Abschreckende Wirkung ging wohl auch von dem Völkermord aus, den die osmanische Regierung 1915 an den christlichen Armeniern beging, die durch ihre Lebensweise sehr stark mit den westlichen Staaten sympathisierten und daher als große Bedrohung für die Integrität des Reiches angesehen wurden. Der Kampf gegen das Osmanische Reich gestaltete sich für dessen Gegner als langwierige Angelegenheit. Das Jahr 1916 brachte dann allerdings die Wende. Versuche seitens der Mittelmächte zur Provokation eines Aufstandes in Ägypten scheiterten endgültig. Den Briten gelang es umgekehrt, durch die subversive Tätigkeit des legendären Lawrence von Arabien einen Aufstand zu Wege zu bringen, der sich unter der Führung des Emirs von Mekka schließlich bis nach Palästina und Syrien ausbreitete. Mehr oder weniger parallel dazu rückte ein britisches Expeditionsheer, das 1914 in Basra an Land gegangen war, vor und eroberte trotz einiger Rückschläge bis 1918 fast ganz Mesopotamien. Bis zum November 1918 hatten die Ententemächte große Teile des Osmanischen Reiches erobert. Das Jungtürkische Triumvirat (Kemal Pascha, Talat Pascha und Enver Pascha) wurde entlassen und musste flüchten. Das Sultanat wurde dann 1922 von der Folgeregierung unter Mustafa Kemal abgeschafft. Am 4. November 1922 hörte das Osmanische Reich auf zu bestehen.
Die Aufteilung des Osmanischen Reiches
Die Ententemächte Frankreich und England hatten sich im Sykes-Picot-Abkommen bereits im Mai 1916 auf die Abgleichung ihrer Interessensphären in der Region geeinigt. Danach erhielt Frank reich den Libanon und Syrien, Großbritannien vor allem Jordanien und den künftigen Irak. Palästina wurde gemäß der Balfour-Deklaration 1917 als neue Heimstatt der Juden vorgesehen.
Quelle: DER GROSSE PLOETZ ATLAS ZUR WELTGESCHICHTE, 2009, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht