Das Grundgesetz wird 75In guter Verfassung

Das Grundgesetz wird 75. Der Grundrechtekatalog hat sich auch bei der Wiedervereinigung als beständig erwiesen. Die große Anerkennung war aber nicht immer selbstverständlich. Und es warten neue Bewährungsproben.

Grundgesetz
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 Als „Glücksfall" und Stabilitätsanker wird die deutsche Verfassung bei Jubiläen inzwischen regelmäßig gefeiert. Als das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vor 75 Jahren – am 23. Mai 1949 – verkündet wurde, hätte dies wohl niemand behauptet, zumal es ja als Provisorium bis zur Wiedervereinigung galt. Doch auch 1990 erwies es sich als äußerst beständig, ja sogar integrativ. Und es genießt längst hohe Anerkennung in Ost- wie Westdeutschland.

Inzwischen haben die Grundrechte auf ziviler Ebene schon fast den Charakter der biblischen Zehn Gebote. Darauf verweist etwa der israelische Künstler Dani Karavan mit seinen Glasstelen vor dem Jakob-Kaiser-Haus an der Spreepromenade am Bundestag. Er hat darin die Artikel in der Ursprungsfassung eingraviert. Ein Zeichen für das transparente, aber auch zerbrechliche Rückgrat der freiheitlichen Demokratie.

Tatsächlich war die Überzeugungskraft von Recht und Freiheit alles andere als gefestigt, als der erste Kanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, 1949 im Turnsaal der Pädagogischen Akademie in Bonn das Grundgesetz verkündete. Die Nazi-Barbarei hatte das Land moralisch zersetzt und geteilt.

Das Grundgesetz sollte mit einem „Nie wieder" auf Diktatur, Krieg und Völkermord antworten. So heißt es in Artikel 1 programmatisch: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Der Einhegung jeder staatlichen Macht diente auch die Präambel mit der Selbstbindung an die „Verantwortung vor Gott und den Menschen".

So sind die Grundrechte in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Zugleich verkörpern sie eine Wertordnung, die für alle weiteren Bereiche des Rechts gilt. Dazu gehören etwa die Meinungs- und Pressefreiheit und die Freiheit, sich zu versammeln und Gemeinschaften – auch Verbände und Parteien – zu bilden, aber auch die Freiheit von Kunst, Wissenschaft und Glauben. Inzwischen wenden sich jährlich tausende Bürger mit Verfassungsbeschwerden an den Hüter der Verfassung, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Denn die Grundrechte sind nicht in Stein gemeißelt, sondern eben eher in Glas graviert, das physikalisch bekanntlich als zähe Flüssigkeit gilt. So hat sich die Verfassung immer wieder vorsichtig dem gesellschaftlichen Wandel angepasst. Mehr noch: Karlsruhe hat die Freiheitsrechte der Bürger ausgedehnt - etwa bei wichtigen Entscheidungen im Ehe- und Familienrecht oder zur Meinungs- und Pressefreiheit. Das Selbstbewusstsein der Karlsruher Richter wurde unlängst bei der Entscheidung zur Schuldenbremse deutlich. Allerdings bleibt strittig, wie viel Veränderung eine „atmende Verfassung" verträgt.

Das zeigt sich etwa bei der Auslegung der Menschenwürde. Umstritten war jüngst die Entscheidung zur Suizidbeihilfe. Dabei bewerteten die Karlsruher Richter das Recht auf selbstbestimmtes Sterben als allgemeines Persönlichkeitsrecht und Ausdruck der Selbstbestimmung. Nicht nur hier zeigt sich eine Tendenz, den Menschen weniger als Gemeinschaftswesen, sondern stärker autonom zu verstehen. Auch das ungeborene Leben gerät vor diesem Hintergrund weiter unter Druck - vom Screening nach möglichen Behinderungen bis zu Forderungen, seinen Schutz aus dem Strafgesetzbuch zu nehmen und Paragraf 218 ganz zu streichen.

Hinzu kommen ganz neue Herausforderungen – etwa angesichts der Entwicklung in den Lebenswissenschaften oder beim Datenschutz. In einer pluralen Gesellschaft, die sich immer neu auf gemeinsame Werte verständigen muss, gewinnt das Bundesverfassungsgericht zunehmend an Gestaltungsmacht.

Noch dazu ist in der Politik die Tendenz zu beobachten, schwierige Entscheidungen im Zweifelsfall nach Karlsruhe weiterzureichen. Angesichts eines erstarkenden Rechtspopulismus könnte auf die Verfassung im 75. Jahr noch eine weitere Bewährungsprobe zukommen. Denn sollte es tatsächlich zu einem Vorstoß in Richtung Parteiverbot der AfD kommen, dürfte dies mit ziemlicher Sicherheit vor dem Verfassungsgericht landen.

Den Kirchen erlaubt die „wohlwollende Neutralität" der Verfassung eine Mitbestimmung und Gestaltung in vielen gesellschaftlichen Bereichen. Angesichts des Mitgliederschwundes wird es für sie aber zunehmend schwierig, den Rahmen auszuschöpfen, den ihnen das Grundgesetz bietet. Das gilt etwa bei kirchlichen Schulen oder Kitas. Allerdings gerät das bisherige Verhältnis auch anderweitig unter Druck, etwa beim Tendenzschutz, im Arbeitsrecht oder bei den Staatsleistungen. Entscheidender für das Verhältnis dürfte aber der Wertewandel werden. Bei mancher Entscheidung in Karlsruhe bläst die atmende Verfassung der Kirche und ihrem Menschenbild schon jetzt ins Gesicht.

Von Christoph Scholz
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