Schon vor über zwölf Jahren veröffentlichte die US- Erzdiözese Boston eine erste Liste mit Beschuldigten sexuellen Missbrauchs. Erzbischof Kardinal Sean O'Malley veranlasste 2011 die namentliche Anführung von 159 gerichtlich angezeigten Priestern und Diakonen. Das sorgte damals für Aufsehen und Diskussionen – weil oder obwohl aus Gründen des Personenschutzes, die Namen jener nicht genannt wurden, bei denen Vorwürfe nur in internen Akten aufschienen.
Eine ähnlich kontroverse Diskussion dürfte sich um die Veröffentlichung einer „Täterliste“ durch den Bischof von Aachen entzünden. Zuerst wollte das Bistum alle Täter und Beschuldigten benennen. Schlussendlich entschied man sich für jene Täter und „mutmaßlichen Täter“, die seit mindestens zehn Jahren gestorben sind. Mit der Initiative will Bischof Helmut Dieser auf Betroffene zugehen, damit diese zum einen „mit der öffentlichen Nennung des Namens ihres Täters nicht mehr allein bleiben“, zum anderen könnten sie so „Vertrauen schöpfen, aus dem Dunkelfeld herauszutreten“. Auch sollen sich bislang unbekannte Betroffene melden.
Das Vorgehen stieß bei der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Kerstin Claus, auf Zustimmung. „Aufdeckung und Aufklärung können nur funktionieren, wenn auch Täter klar benannt werden – eine Forderung, die von Betroffenen schon lange gestellt wird.“ Claus sprach aber auch von einem Spannungsfeld von Aufarbeitung und Datenschutz. Zudem sei es wichtig, jene Gemeinden mitzunehmen, in denen Beschuldigte eingesetzt waren. Schließlich solle man rechtzeitig über die Veröffentlichung der Namen zu informieren, was sicher auch Verwandte der genannten Personen betreffen sollte.
Die Entscheidung, die 53 Namen öffentlich zu machen, habe die Diözese denn auch nach langem Abwägen getan, heißt es. „Datenschutzrechte, die Unschuldsvermutung bei fehlenden Beweisen und die Gefahr einer Stigmatisierung, sofern sich ein Vorwurf im Nachhinein als unbegründet erweist, stehen auf der einen Seite, die Erwartung von Aufarbeitung und Gerechtigkeit auf der anderen.“
Vor allem aber sorgt die Nennung „mutmaßlicher Täter“, die weder strafrechtlich noch durch ein Kirchengericht belangt worden waren, für Irritationen. Denn nur acht Männer auf der Liste werden tatsächlich als Täter qualifiziert. Als Grundlage für die Nennung „mutmaßlicher Täter“ gilt dem Bistum Aachen die Tatsache, dass Opfer aufgrund der den Beschuldigten zur Last gelegten Taten Anerkennungszahlungen durch die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) erhalten haben.
Auf Anfrage der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) verneinen Mitglieder der UKA die Frage, „ob eine Anerkennungsleistung mit einem Schuldspruch zum Nachteil des Beschuldigten gleichzusetzen sei. Das Verfahren zur Anerkennung des Leids ist kein rechtsförmiges Verfahren.“ Es genüge die „überwiegende Wahrscheinlichkeit“, wobei weiter die Unschuldsvermutung für den Beschuldigten gelte. Das ist die sogenannte „Plausibilitätsprüfung“, deren Ergebnis über die Zahlung von Anerkennungsleistungen für erlittenes Leid durch sexuelle Gewalt im kirchlichen Raum entscheidet.
Der Jurist Stephan Rixen, Mitglied der „Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“, will gegenüber der KNA festhalten, dass „Plausibilitätsprüfungen nicht als indirekte Legitimation für die öffentliche Nennung der Namen mutmaßlicher Täter gedacht waren“. Sie sollten nur die Betroffenen im Blick behalten. Unproblematischer seien demgegenüber Fälle „mutmaßlicher Täter“ mit einem vergleichbaren Gewissheitsgrad wie bei einer Verurteilung, „etwa wenn mehrere Personen nachvollziehbar mitgeteilt haben, dass sie Gewalt durch denselben Priester erlitten haben“.
Aber „eine sehr niedrige Schwelle, wenn ein einziger positiv beschiedener Antrag auf Anerkennung des Leids genügen soll, um jemanden als ‚mutmaßlichen Täter‘ zu bezeichnen“, sei als Kriterium untauglich, kritisiert der Professor für Staatsrecht von der Universität Köln weiter. Wie tragfähig zudem die Plausibilitätsprüfung der UKA sei, könne man von außen nicht feststellen: „Die UKA einschließlich der Geschäftsstelle, die hier eine wichtige eigenständige Rolle spielt, begründet nicht, wieso die Plausibilität bejaht oder verneint wird.“
Peter Beer vom „Institute of Anthropology. Interdisciplinary Studies on Human Dignity and Care“ an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom sieht Konflikte programmiert, wenn das Ergebnis einer Plausibilitätsprüfung als Feststellung von Schuld gewertet würde: „Hier stehen zwei grundsätzliche Rechtsgüter in einem schwierigen Verhältnis. Zum einen der Anspruch der von Missbrauch Betroffenen auf Anerkennung des an ihnen begangenen Unrechts. Zum anderen gibt es das Recht jedes Beschuldigten auf ein gerechtes Verfahren, das in unserer Rechtsordnung den Grundsatz ‚in dubio pro reo‘ kennt und auf Beweisen aufbaut.“
So könne der Grundsatz „im Zweifel für den Betroffenen“ am Ende dem Vorwurf von Verleumdung, übler Nachrede und Rufschädigung Vorschub leisten. Dies könne unter Umständen dem Anliegen der Gerechtigkeit für Missbrauchsbetroffene zuwiderlaufen, so Beer gegenüber der KNA. Es brauche wohl immer wieder schwierige Abwägungsprozesse. Denen müsse eine ehrliche Kommunikation mit Betroffenen sowie deren Beteiligung zugrunde liegen.
Laut Beer kann die Namensnennung für Betroffene unterschiedliche Folgen haben: Die „können auf Grund der öffentlichen Aufmerksamkeit für den Täter und das Missbrauchsgeschehen von einer Retraumatisierung bis dahin reichen, dass sich Betroffene des Geschehenen erst bewusst werden. Es ist aber auch möglich, dass von Missbrauch Betroffene durch die Nennung von Täternamen ermutigt werden, ihre eigene Missbrauchsgeschichte zur Anzeige zu bringen.“
Der Theologe und Pädagoge Beer teilt aber das Aachener Anliegen, die Namensnennung als Signal zu verstehen, „dass aufseiten der Kirche ein echter Wille zur Aufklärung besteht, dass einem wirklich geglaubt wird“. Entscheidend dürfte sein, wie genau die Kriterien für die Nennung von Namen der Täter gefasst werden.
In Deutschland setzen ein enges Äußerungsrecht und der Datenschutz einer Veröffentlichung privater Vorgänge enge Grenzen. Das wird auch im Strafrecht mitvollzogen und gilt selbst für Tote: „Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener“. Denn die Würde eines Menschen erlischt nicht mit seinem Tod.
Daher greife die Publikation der Namen von „mutmaßlichen Tätern“ in das Recht der persönlichen Ehre ein, moniert der Bonner Staatsrechtslehrer Josef Isensee gegenüber KNA – zumal es sich um schwerste Vorwürfe handle, die heute Recht und Moral erheben könnten. Ein Grundrechtsverstoß lege dann vor, „wenn und soweit der Wahrheitsbeweis nicht erbracht werden kann und gewichtige Gründe die Publikation der Namen nicht rechtfertigen.“ Zumindest für die „mutmaßlichen Fälle“ könne der Bischof von Aachen den Wahrheitsbeweis nicht erbringen.
Zudem müssten sich, so Isensee, Zweifel regen, ob eine niedrigschwellige Plausibilitätsprüfung ausreicht, seit in entsprechenden Fällen Beträge in Höhen von 300.000 oder wie zuletzt im Sport von 600.000 Euro zugestanden würden. „Die ungeheure Höhe kann auch zu Täuschungsmanövern verführen“, mahnte der emeritierte Hochschullehrer weiter.
An der Grundlage für die Aachener „Täterliste“ und dem Vorgehen der UKA kritisiert Isensee zudem, dass Plausibilität keine zureichende und passende Kategorie sei. Mit ihr werde nur auf Schlüssigkeit des Vortrags, nicht aber auf Übereinstimmung mit der Realität abgehoben. Plausibilität reiche damit niemals – ebenso wenig wie das bischöfliche Ansinnen, Bußfertigkeit und amtliche Reue demonstrieren zu wollen –, um den Eingriff in das Persönlichkeitsrecht zu legitimieren, so der Rechtsphilosoph Isensee.
Während in den USA heute landauf und landab von Diözesen die Listen der „credibly accused“, „glaubwürdig Beschuldigter“, veröffentlicht werden, setzen rechtliche Zwänge dem in Deutschland Grenzen. Es ist aber auch eine andere Kultur, die einer solchen Transparenz über Beschuldigte Widerstände entgegensetzt. Für manche Betroffene sexueller Gewalt sind diese Schranken kaum nachvollziehbar.
Andere wiederum bestehen auf Diskretion und wollen nicht in die Öffentlichkeit gezogen werden. Vielleicht aber bewahren diese gesetzten Widerstände die Kirche davor, von einem Fehler in einen anderen zu geraten. Der katholische Jurist Isensee jedenfalls sieht die Kirche am Aachener Beispiel „vom Fehler der Vertuschung des Übels in den Fehler illegitimer Publikation“ überzugehen.
Andere Bistümer werden die Entwicklung im Bistum Aachen beobachten und für den eigenen Weg Schlüsse ziehen. So teilte das Erzbistum Paderborn mit, absehbar nur in Einzelfällen Namen von Beschuldigten nennen zu wollen. „Die Veröffentlichung von Namenslisten mit ‚Tätern und/oder Tatverdächtigen‘ bewerten wir für uns weiterhin als ethisch und juristisch komplex“, so ein Sprecher.
Die katholische Kirche in Deutschland wird eine Kultur des Gedenkens mit Betroffenen und des Umgangs mit der Schuld der Täter finden müssen. – „Alles leichter gesagt als getan. Die Diskussion darüber, was hier angemessen und richtig ist, ist noch offen“, resümiert der frühere Münchner Generalvikar Beer die Herausforderungen damit wohl zutreffend.
Von Simon Kajan
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