IsraelMilitärischer Krieg und moralischer Konflikt

Nach dem Terror-Überfall der Hamas ist Israels Recht auf Selbstverteidigung unbestritten. Aber wie weit darf die gehen? Militäreinsätze im dicht besiedelten Gazastreifen sind ohnehin schwierig. Noch schwieriger wird sein, den Krieg nicht nur militärisch, sondern auch moralisch zu gewinnen.

Ein Hand hält ein Feuerzeug
© Pixabay

Wie bekämpft man Barbaren, ohne selbst einer zu werden? So oder ähnlich fragen Kommentatoren, Militärs und Ethiker in diesen Tagen angesichts der angekündigten Bodenoffensive Israels in den Gazastreifen. Wer wird anschließend die Trümmer regieren? Wie soll der massenhafte Tod unter der palästinensischen Zivilbevölkerung zu einer Harmonie mit Israel führen?

Dieses moralische Dilemma und Kriterien zu seiner Beantwortung hat dieser Tage bemerkenswert klar unter anderen der Philosoph und Ethiker Godehard Brüntrup dargelegt. „Der einzig akzeptable Weg ist der Angriff auf militärische Ziele mit einer glaubhaften und wirksamen Bemühung, Schaden von Zivilisten abzuhalten“, sagte er dem Portal kirche-und-leben.de. Auf eine robuste Antwort zu verzichten, würde „in der Welt des Nahen Ostens als Schwäche ausgelegt“, was „eine weitere Eskalation der Angriffe auf Israel provozieren“ würde.

„Nicht erlaubt wäre hingegen“, so der Jesuit, „nun seinerseits – wie vorher die Hamas – Jagd auf Zivilisten zu machen, also mit gleicher Münze heimzuzahlen.“ Moralisch ebenfalls nicht erlaubt: militärische Ziele ohne Rücksicht auf Kollateralschäden in der Zivilbevölkerung anzugreifen. Angesichts der Stimmung in Israel zweifele er jedoch, „ob man in der gegenwärtigen Situation auf diese moralischen Unterscheidungen genügend Rücksicht nehmen wird“.

Die Wortwahl israelischer Spitzenvertreter hatte sich zuletzt dem Niveau von Hamas und Hisbollah angeglichen. „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir handeln entsprechend“, so Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant. Und Generalmajor Ghassan Alian drohte: „Es wird nur Zerstörung geben. Ihr wolltet die Hölle, ihr kriegt die Hölle.“

Bei dem Terrorüberfall der Hamas seien an einem einzigen Tag so viele Juden getötet worden wie seit dem Holocaust nicht mehr; so zählen die einen. Andere verweisen auf Zahlen der Jerusalemer Menschenrechtsorganisation B'Tselem. Demnach starben bei den sechs israelischen Angriffen auf Gaza seit 2006 mehr als 4.000 Menschen, jedes Mal mehr Zivilisten als Kämpfer.

Die bevorstehende Bodenoffensive ist nach Ansicht von Experten allein militärisch äußerst schwierig. Das gilt nicht nur für den Häuserkampf in den Straßen von Gaza. Erschwerend kommen zwei Dinge hinzu. Zum einen ist da die zynische Praxis der Hamas, die Zivilbevölkerung als Schutzschilde zu missbrauchen: Kommandozentralen in Krankenhäusern, Raketenabschussbasen in Schulen, Moscheen als Waffenlager – und jetzt die Warnung, entgegen dem israelischen Ultimatum sollten sich die Bewohner von Gaza nicht gen Süden begeben.

Zum anderen das über Jahre ausgebaute Tunnelsystem: Mit ihm, so Experten, habe die Hamas Israels taktische, technische und organisatorische Überlegenheit neutralisiert. Denn unter der Erde funktionieren herkömmliche GPS-, Überwachungs- und Nachtsichtsysteme nicht. Hinzu kommt die Gefahr von Sprengfallen, Entführungen und die klaustrophobische Enge in einem System von Gängen und Schächten, dessen Konstrukteure klare Vorteile haben.

Die Angriffe der Hamas auf den Süden Israels seien erfolgt in dem Wissen, dass dies „die wütendste israelische Antwort provozieren würde, die möglich ist“. Warum, so fragt Bret Stephens, früherer Chefredakteur der „Jerusalem Post“, weiter, „setzt sie Millionen Palästinenser einem Risiko aus? Weil die Hamas gelernt hat, dass sie vom Tod der Palästinenser mindestens genauso viel profitiert wie vom Tod der Israelis – je mehr von beiden, desto besser.“ Die Hamas wolle „die Vorteile eines Täters und gleichzeitig die Sympathie eines Opfers“. Ob sie damit durchkommt, hänge auch von der internationalen Gemeinschaft ab.

US-Kriegsveteranen, die im Irak und in Afghanistan waren, wissen: Die Herausforderung für die israelischen Streitkräfte im Gazastreifen besteht nicht nur darin, den Kampf gegen die Hamas militärisch zu gewinnen, so Veteran David French in einem Kommentar. Neben taktischen und völkerrechtlichen Kriterien und Vorgaben gebe es ein drittes Gebot: „Du sollst deine Seele nicht zerstören“. Um die moralische Herausforderung des Krieges komme keiner herum. Die Explosion – oder der Beschuss – eines Krankenhauses in Gaza mit vielen Toten und nachfolgenden Schuldzuweisungen zeigen, wie hässlich auch die moralische Konfrontation sein kann.

Derweil droht ein Flächenbrand im Nahen Osten, entfacht etwa durch einen Angriff der von Iran unterstützten Hisbollah aus Syrien oder dem Libanon. Dazu Brüntrups Einschätzung: Realpolitisch scheine „ein Flächenbrand nur mit Hilfe einer Supermacht verhindert werden zu können, die denjenigen, die Öl ins Feuer gießen wollen, mit schwersten Konsequenzen drohen kann.“

Aus diesem Grund werden Stimmen laut, die Washington warnen, Israels aktuelle Strategie zu unterstützen – etwa die der Vertreibung von Palästinensern aus dem Gazastreifen nach Ägypten. Sie warnen vor einer zweiten „Nakba“ (Katastrophe), wie die Vertreibung der Palästinenser 1948 bis heute auf Arabisch genannt wird.

Das letzte Mal, dass sich ein US-Präsident und seine Berater von Empörung über unvorstellbare Verluste leiten ließen, so Rashid Khalidi, Professor für neuzeitliche Arabistik an der Columbia University, „war nach dem 11. September 2001, als sie zwei der verheerendsten Kriege in der amerikanischen Geschichte entfesselten, die zwei Länder verwüsteten und den Tod von einer halben Million oder mehr Menschen zur Folge hatten“. Das habe viele Menschen weltweit dazu gebracht, die USA zu verachten.

Derzeit stehe Washington kurz vor einer ebenso verhängnisvollen Entscheidung, warnten politische Beobachter schon vor dem Besuch von US-Präsident Joe Biden in Israel. Diese würde die USA definitiv zu einer Partei machen – mit allem, was daraus folgt. Die demonstrative Solidarität mit Israel als Signal in Richtung Iran, Syrien und Hisbollah, binde Biden und die USA an das Blutvergießen im Gazastreifen.

Von dort hatten Behörden bis Dienstagfrüh gut 2.800 Tote und fast 11.000 Verwundete gemeldet. Mehr als 600.000 Palästinenser seien auf der Flucht in den Süden des Landstrichs. Zwischenzeitlich korrigierte Israel die Zahl seiner Toten auf über 1.400 Zivilisten und Soldaten, jene der von Hamas-Kämpfern verschleppten Geiseln auf knapp 200, darunter viele Ausländer.

Bislang hat Biden Israel gewarnt, Gaza komplett wieder zu besetzen. Das würde die „Abraham Accords“ gefährden, Israels Abkommen mit Bahrain, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Sudan, und die bisherigen US-Verbündeten Ägypten und Jordanien destabilisieren. Das wiederum spielte den Interessen Teherans in die Hände.

Anders als bei den USA ist Europas geopolitischer Einfluss in der Region begrenzt. Aber es gibt ihn. Die EU ist zugleich Israels wichtigster Handelspartner und größter Geldgeber in den Palästinensergebieten. Da hätte schon früher mehr geschehen müssen, um beide Seiten zu mehr Kooperation zu drängen, meinen europäische Kommentatoren. Auch jetzt werben Europäer und Heiliger Stuhl weiter für eine Zwei-Staaten-Lösung. Mittels einer humanitären Luftbrücke der EU sollen via Ägypten überlebenswichtige Güter wie Notunterkünfte, Medikamente und Hygienesets des UN-Kinderhilfswerks Unicef in den Gazastreifen gelangen.

Dennoch gibt es aus dem aktuellen Dilemma keinen Ausweg, ohne Schuld auf sich zu laden. „Politiker, die gegenüber skrupellosen und hasserfüllten Terrororganisationen dem Rat Jesu folgen und noch die andere Wange hinhalten, liefern dadurch die Menschen ans Messer, die sie eigentlich schützen sollten“, so der Theologe Brüntrup.

Auch deshalb tun sich Vertreter christlicher Kirchen in Nahost mit ihren Stellungnahmen erkennbar schwer. Einerseits müssen sie Terror verurteilen und das Recht auf Selbstverteidigung eingestehen. Andererseits sind ihre Gläubigen größtenteils Palästinenser. Zusätzlich müssen sie die oft schwierige Lage der Christen in anderen islamisch geprägten Ländern mitbedenken.

Am 7. Oktober, dem Tag des Angriffs selbst, sowie am 13. hatten die christlichen Kirchen Stellungnahmen zum Krieg veröffentlicht. Diese hat Israel kritisiert, weil darin eindeutige Verurteilungen des Angreifers Hamas fehlten – weshalb sich später Kardinal Pierbattista Pizzaballa, höchster Vertreter der lateinischen Kirche im Nahen Osten, bei einer Online-Pressekonferenz von den Erklärungen distanzierte. Auch er sei irritiert, wolle dem aber „aus Respekt vor den anderen Kirchen“ nichts hinzufügen. Dennoch ergänzte er: „Um es klar zu sagen: Die Hamas hat barbarische Akte in Israel angerichtet.“

Parallel zum entschiedenen militärischen Vorgehen gegen die Terroristen, so der Jesuit Brüntrup im Interview weiter, brauche es internationale Kooperationen, um Schutzräume für Zivilisten zu öffnen. Diesen Menschen stattdessen auf Dauer die Lebensgrundlagen zu entziehen, sei moralisch nicht zulässig. Weswegen Vereinte Nationen und westliche Politiker wie Bundeskanzler Olaf Scholz nun verstärkt auf Nahrung, Wasser und Sicherheit für die Menschen im Gazastreifen drängen.

Die „New York Times“ zitierte unlängst einen israelischen Panzerkommandanten. Den Worten des 37-Jährigen zufolge gehe es beim Einsatz im Gazastreifen darum, „Hamas zu besiegen und diese Bedrohung ein für alle Mal aus Gaza zu entfernen“. Dieses „ein für allemal“, warnte der langjährige Nahost-Beobachter Thomas L. Friedman, seien „vier der gefährlichsten Wörter“ in der Region.

Organisationen wie Hamas und andere seien tief in Kultur, Religion und Politik ihrer Gesellschaften verwurzelt. „Sie haben fast unbegrenzten Nachschub gedemütigter junger Männer, von denen viele nie eine Arbeit hatten, Einfluss oder eine Liebesbeziehung“, so Friedman – „eine tödliche Kombination, um sie zu Chaos anzustiften“. Solche Gruppen seien wie eine Hydra: Schlage man ihr den Kopf ab, wachsen ihr mehrere neue Köpfe.

Zur Lösung des aktuellen Konflikts müssten Beteiligte und Beobachter „geistig abrüsten und intellektuell demütiger werden“, mahnt Theologe Brüntrup. Sein Angebot, sich gegen Geiseln der Hamas austauschen zu lassen, sei nur eine winzige Geste, meinte Kardinal Pizzaballa. Kaum vernehmbar im aktuellen Kriegs- und Terrorgetöse könne sie aber dazu führen, dass über die aktuelle Entwicklung noch einmal nachgedacht werde.

Von Roland Juchem (KNA)
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