Jahrzehntelange Unruhen und Spannungen im traditionsreichen Bistum Chur unter den Bischöfen Wolfgang Haas und Vitus Huonder – dann der Eklat um eine geplatzte Bischofswahl durch das zerstrittene Domkapitel Ende 2020. Mit der direkten Ernennung des weithin geschätzten Bischofs Joseph Bonnemain bald darauf durch den Papst schien etwas Ruhe einzukehren in der katholischen Kirche der Eidgenossenschaft.
Am 11. September dieses Jahres dann veröffentlichten Historikerinnen der Uni Zürich eine Pilotstudie zu sexuellem Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche in der Schweiz. Der zufolge gab es seit Mitte des 20. Jahrhunderts 1.002 Fälle, 510 Beschuldigte und 921 Betroffene. Eine umfassende Studie soll später folgen. Was zunächst folgte, sind weitreichenden Reaktionen, deren Ende nicht absehbar ist.
So ermittelt derzeit der Vatikan gegen mehrere Schweizer Bischöfe sowie weitere Kleriker wegen des Umgangs mit Missbrauch. Den Bischöfen werde in der Hauptsache Vertuschung vorgeworfen, schrieb die Boulevardzeitung "Sonntagsblick". Ihr zufolge sind vier der beschuldigten Bischöfe bis heute im Amt und zwei im Ruhestand. Für sie alle gilt einstweilen die Unschuldsvermutung.
Die kircheninterne Untersuchung leiten soll Bischof Bonnemain von Chur. Was wiederum heftige Kritik auslöste: Erneut meine die Kirche, ihr Versagen beim Umgang mit Missbrauch könne sie intern lösen, schrieb etwa das Präsidium der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz (RKZ), des Dachverbands der Schweizer Kantonalkirchen.
Ins Fadenkreuz der Kritik geriet zuletzt auch der agile und mediengewandte Vorsitzende der Bischofskonferenz, Bischof Felix Gmür von Basel. Er soll ebenfalls mit Verdachtsfällen von Missbrauch oder übergriffigem Verhalten nicht angemessen umgegangen sein. Zwar räumte Gmür eigene Fehler ein; gleichzeitig fühlt er sich ungerecht behandelt. Zumal Kommentatoren meinen, Gmürs Verhalten solle ebenfalls in die vatikanischen Untersuchungen einbezogen werden.
"Ich muss mich darauf einstellen, weiter in der Öffentlichkeit demontiert zu werden", schrieb der Bischof an seine leitenden Mitarbeiter im Bistum. Er vertraue aber darauf, dass diese die Dinge richtig einordnen könnten. Auch dankte er ihnen für ihr Engagement: "Sie müssen in vielen Situationen den Kopf hinhalten. Menschen aus Ihren Pastoralräumen und Missionen wenden sich an Sie – nicht immer nur freundlich."
Dass der interne Brief kurz darauf veröffentlicht wurde, kann inzwischen nicht mehr verwundern. Vorangetrieben werden Debatten und Kontroversen auch durch Schweizer Medien, darunter das Portal kath.ch und die Boulevardzeitung "Sonntagsblick".
Diesem gegenüber räumte zuletzt Gmürs Vorgänger, der Schweizer Kurienkardinal Kurt Koch, erstmals nach Erscheinen der Missbrauchsstudie Fehler ein. Der heutige Ökumeneminister des Papstes soll in seiner Zeit als Bischof von Basel (1996 bis 2010) Missbrauchsvorwürfe gegen einen Priester weder der Polizei noch dem Vatikan gemeldet haben. "Von heute aus betrachtet muss ich eingestehen, dass dieses Vorgehen nicht zufriedenstellend funktioniert hat und dass es ein Fehler gewesen ist, die vorgesehenen Maßnahmen nicht ergriffen zu haben", sagte der 73-Jährige. "Dafür bitte ich um Entschuldigung."
Koch sagte dem Boulevardblatt, man habe die Akte des besagten Priesters im damaligen Personalamt zuerst persönlich bearbeiten und abklären wollen. Dieses Vorgehen habe nicht die Intention gehabt, irgendetwas vertuschen zu wollen, so der Kardinal. Laut Studie vom 11. September geht es um einen 2019 gestorbenen Priester, der einen Neunjährigen geküsst sowie Minderjährige in die Sauna eingeladen und sie aufgefordert haben soll, sich bei Jugendgruppenausflügen öffentlich auszuziehen.
Obwohl sich mehrere Betroffene ab 2003 beim Bistum Basel mit Missbrauchsvorwürfen gemeldet hätten, habe Koch entgegen der kirchlichen Leitlinien weder eine Voruntersuchung eingeleitet noch den Fall nach Rom gemeldet. Auch Kochs Nachfolger in Basel, Felix Gmür, habe nichts unternommen.
Koch ist nicht der einzige im Vatikan, der sich zu einer Erklärung genötigt sieht. So hatten die Autorinnen der Zürcher Studie, Monika Dommann und Marietta Meier, den Vatikan aufgefordert, Einblick in Akten in Zusammenhang mit Schweizer Missbrauchsfällen zu gewähren. Das müsse man "gemeinsam analysieren", sagte zuletzt der zuständige Chef der vatikanischen Glaubensbehörde, Kardinal Victor Manuel Fernandez, dem "Sonntagsblick".
"Auf der einen Seite wollen wir Transparenz. Auf der anderen Seite gibt es in den Archiven Zeugenaussagen von Menschen, die um absolute Geheimhaltung gebeten haben", so Fernandez. "Wir können dem Willen dieser Menschen nicht widersprechen." Dass sogar Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin konzedierte, eine punktuelle Einsicht nur in Missbrauchsakten sei denkbar und zu prüfen, zeigt, wie stark der Druck im Vatikan mittlerweile gespürt wird.
Schon zuvor hatte die Schweizer "Sonntagszeitung" berichtet, Papstbotschafter Martin Krebs prüfe offenbar, das Nuntiatur-Archiv in Bern für eine Missbrauchsstudie zu öffnen. "Ich darf Ihnen versichern, dass ich begonnen habe, zusammen mit Fachleuten nach gangbaren Lösungen zu suchen, wie mit diesem Dilemma umzugehen ist", sagte Krebs der Zeitung.
Verkompliziert und verschärft wird der Konflikt durch das Schweizer Staatskirchenrecht. Dieses kennt seit jeher regionale Lösungen, die Laien gegenüber Klerikern eine viele stärkere Mitbestimmung einräumen, als es das allgemeine Kirchenrecht vorsieht. Neben den Diözesen gibt es in fast allen Kantonen im staatlichen Recht verankerte, demokratisch verfasste Körperschaften.
Aus den Kommunen ausgelagerte, öffentlich-rechtliche sogenannte Kirchgemeinden setzen jeweils den lokalen Kirchensteuersatz fest und nehmen diese auch ein. Sie agieren unabhängig von der Diözesanleitung. Aus ihren Töpfen werden Pfarreien und letztlich auch Teile des Bischofshaushalts finanziert. Dachorganisation der Landeskirchen ist die RKZ. Daher muss sich ein Bischof in finanziellen Angelegenheiten mit staatskirchenrechtlich verfassten Verwaltungsgremien aus engagierten Laienkatholiken wie "Landeskirche" oder "Kantonalkirche" einigen.
Innerkirchliche Kontroversen um dieses System hatten im finanziell gut ausgestatteten Bistum Chur lange Zeit für Flügelkämpfe gesorgt. Seit der gescheiterten Bischofswahl im jedoch haben sich die erklärten Feinde der staatskirchlichen Besonderheiten der Schweiz vorerst zurückgezogen. Sie könnten sich im Zuge der Missbrauchskrise aber wieder zu Wort melden.
Derzeit behalten sieben Kirchgemeinden im Kanton Luzern aus Protest gegen den Kurs des Bistums Basel ihre Kirchensteuern ein. Das eine Prozent am Anteil der Kirchensteuer, das das Bistum normalerweise erhält, werde so lange auf ein Sperrkonto eingezahlt, bis ihre Forderungen zum Umgang mit Missbrauch in der Kirche erfüllt seien, hieß es.
Demgegenüber pocht die Synode der Luzerner Landeskirche auf ihr Recht, die Höhe von Bistumsbeiträgen festzulegen. Am 8. November werde die Luzerner Synode ihre Beschlüsse fassen, ließ das Präsidium wissen – ohne das Vorgehen der sieben 'Aufständischen' zu verurteilen. Anfang Dezember will dann die Vollversammlung der RKZ das weitere Vorgehen in Sachen Kirchensteuer beschließen. Derweil sind Medienberichten zufolge in den deutschsprachigen Kantonen die Kirchenaustrittszahlen sprunghaft gestiegen.
Bei der Vollversammlung der Weltsynode im Vatikan wird die Schweiz nicht nur durch Kardinal Koch und Bischof Gmür vertreten, sondern auch von Helena Jeppesen-Spuhler vom Schweizer Hilfswerk Fastenaktion. Auf die Frage, welche Themen sie mit nach Rom nehme, sagt sie: "Die große Missbrauchskrise und den Verlust der Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche. Ich erwarte, dass die systemischen Ursachen diskutiert und angegangen werden."
Wie in Deutschland geht es zunehmend auch um die Rolle des Staates. Die Schweizer Justizministerin, Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider, forderte die Justiz auf, Missbrauch und Vertuschung in der Kirche stärker anzugehen. "Das Strafrecht steht über dem Kirchenrecht", sagte sie den "Freiburger Nachrichten". Sie könne sich vorstellen, "Missbrauch in der Kirche in die Roadmap zu häuslicher und sexueller Gewalt aufzunehmen". Ansonsten seien primär die Kantone für Religionsfragen zuständig.
Von Roland Juchem
© KNA. Alle Rechte vorbehalten.