Es war eine scheinbar unauffällige Notiz: In einem katholischen Seniorenheim im flämischen Kortrijk im Westen Belgiens war an einem Sonntag Mitte April eine blinde, 92 Jahre alte Dame gestorben. Marcella Pattyn. Doch die Bedeutung dahinter war durchaus kulturhistorisch: Mit Marcella Pattyn starb am 14. April 2013, vor zehn Jahren, auch eine über acht Jahrhunderte alte Tradition frommer Frauen, die einst in ganz Europa verbreitet waren: das Beginentum. Der Tag hatte unvermeidlich kommen müssen. Marcella Pattyn war die letzte Begine der Welt.
Beginenhöfe gab es früher in jeder größeren Stadt des heutigen Belgien, etwa 70 in ganz Flandern. Nur 30 von ihnen haben die Jahrhunderte überdauert, die meisten davon schwer beschädigt. Anderswo erinnert nur der Name einer Bushaltestelle oder einer Straße an die „frommen Frauen", die einst hier lebten. 1998 wurden die Beginenhöfe Flanderns in die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes aufgenommen.
Das Beginentum war Teil einer verbreiteten religiösen Aufbruchstimmung des hohen Mittelalters. Die Lebensweise der Beginen im kirchenrechtlichen Niemandsland zwischen Ordensfrau und Laiin verbreitete sich über ganz Europa. Beginen lebten meist gemeinschaftlich, aber nicht in einem Kloster. Sie gelobten Keuschheit und Gehorsam, jedoch nur für die Dauer ihres Aufenthalts auf dem Hof – spätere Heirat nicht ausgeschlossen.
Als „frustrierte Nonnen zweiter Wahl“ lässt die renommierte Frauenhistorikerin Edith Ennen (1907–1999) die Beginen zwar nicht gelten. Doch in der Tat hatten die wenigsten von ihnen, vor allem die Frauen der Mittel- und Unterschicht, auf einen Platz im Kloster hoffen können. Daher begannen sie, eigene Gemeinschaften zu gründen.
Allerdings bewegten sie dabei nicht nur religiöse, sondern auch soziale und wirtschaftliche Motive: In den Städten herrschte ein chronischer Überschuss an ledigen Mädchen und jungen Witwen; zudem waren nur wenige Frauenberufe als ehrenhaft anerkannt. Das Beginentum erscheint so als eine Antwort auf die „Frauenfrage" des Mittelalters: Alleinstehenden Frauen bot der Beginenhof ein ehrbares Lebensziel und die Gelegenheit zur Ausübung eines Berufes. Die meisten Beginen verdienten ihren Unterhalt mit der Tuchherstellung, mit Waschen, Klöppeln und Spinnen; sie pflegten Kranke und kümmerten sich um das Totengedächtnis.
Manche Gemeinschaft entfaltete eine erstaunliche wirtschaftliche Dynamik – was angesichts der engen Absatzmärkte des Mittelalters mitunter für Unruhe unter den Zünften sorgte. Wo sich die Beginen nicht zusammenschlossen, sondern über eine ganze Stadt verteilt in ihren eigenen Häusern lebten, gerieten sie rasch in den Verdacht von Ketzerei. Ähnlich den „Bettelorden“, allerdings auch zahlreichen häretischen Gruppen, zogen einige von ihnen umher und standen damit außerhalb der sozialen Kontrolle. So entstanden unfromme Vorurteile.
Nach jahrzehntelanger Unentschlossenheit der Kirchenoberen verurteilte das Konzil von Vienne das Beginentum 1312 als ketzerisch. Doch nahm auf Bitten hin ein päpstliches Dekret die Beginenhöfe der Niederlande von dem Verbot aus und ersparte ihnen so die Verfolgungen, die im restlichen Europa den Untergang der Bewegung einleiteten.
In Deutschland gab es Ende des 16. Jahrhunderts kaum mehr eine Spur von ihr. In Flandern jedoch entstand eine Insel des Beginentums, das sein „Goldenes Zeitalter“ noch vor sich hatte: Nach den Wirren der Reformation und der Religionskriege zählten Ende des 17. Jahrhunderts einige Höfe, wie Gent oder Mechelen, bis zu 1.200 Beginen.
Die Französische Revolution markierte dann auch in den belgischen Departements den endgültigen Niedergang des Beginentums. Die einst so kraftvolle Bewegung dämmerte immer weiter vor sich hin: In ganz Flandern gab es Ende der 1970er-Jahre nur noch 59 Beginen.
Die Tracht abzulegen, das Beginenleben aufzugeben – der Gedanke sei ihr nie gekommen, sagte Marcella Pattyn in ihren letzten Lebensjahren. Noch zu ihrem 91. Geburtstag brachte Kortrijks Bürgermeister Stefaan De Clerck auf den Punkt, was wohl alle dachten: „Sie sind ein Stück Weltkulturerbe. Sie dürfen noch nicht gehen!" Doch natürlich musste sie.
Mit ihrem Tod vor zehn Jahren ist die „alte Linie“ ausgestorben. Verschiedene neuzeitliche Wiederbelebungsversuche des Beginentums sind im Gang, auch in Deutschland – allerdings mit mehr oder weniger deutlich abgespecktem religiösen Gehalt.
Dem malerischen Beginenhof in Löwen war ein besonderes Schicksal bestimmt. Als ihm 1962 der Abriss drohte, kaufte die katholische Universität die 80 verbliebenen Backsteinhäuser und baute sie zu Studentenwohnungen um. Wo einst die Spinnräder der Beginen summten, füllen heute junge Menschen und das Summen ihrer Rechner einen fast vergessenen Teil des christlichen Erbes in Europa mit neuem Leben.
Von Alexander Brüggemann
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