Die Evangelischen Kirchentage werden von den Organisatoren gerne als "Zeitansage" bezeichnet, wobei die jeweilige "Losung" näher angeben soll, was die Stunde geschlagen hat. Für den 38. Deutschen Evangelischen Kirchentag, der vom 7. bis 11. Juni in Nürnberg stattfindet, wurde als Losung ausgegeben: "Jetzt ist die Zeit (Mk 1,15)" - eine Aussage, die auf den ersten Blick ebenso selbstverständlich wie zugleich zeitlos wirkt, denn sie stimmt immer. Der Vers aus dem Markusevangelium, auf den sich das Motto bezieht, lautet in der Kirchentagsübersetzung: "Jetzt ist die Zeit: Gottes gerechte Welt ist nahe. Kehrt um und vertraut der frohen Botschaft!" (In der revidierten Lutherbibel heißt der Vers: "Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.")
Wofür also ist die Zeit aus Sicht der Veranstalter? Es gehe nicht um die Zukunft der Kirche, hatte Kirchentagspräsident Thomas de Maizière bei der Vorstellung des Programms im März gesagt und hinzugefügt: "Uns geht es um die Zukunft des Glaubens." Der Kirchentag werde sich "nicht an selbstverliebten Debatten über Schrumpfungsprozesse beteiligen". Vielmehr biete er Raum, um den Blick auf die Menschen und die Themen dahinter zu richten - ohne dabei "Probleme verkleistern zu wollen".
Was das konkret bedeuten soll, zeigt ein Blick auf die rund 2.000 Einzelveranstaltungen, vor allem die acht "Hauptpodien". Sie behandeln die Themen Demokratie ("Ist die Demokratie krisenfähig? Auf dem Weg zu einem neuen Gesellschaftsvertrag"), Klimakrise ("Gibt es ein Recht auf Zukunft? Rechtsmittel als letzte verbleibende Option"), "Rassismus und postkoloniales Erbe in der Kirche" sowie: "Wo finde ich Halt? Sinnstiftung in einer Gesellschaft mit Christ:innen als Minderheit", "Ein Ruf aus der Zukunft - Stimmen aus (Ost)Europa", "Welchen Frieden wollen wir? Grenzverschiebungen in der Friedensethik" und "In bewegten Zeiten gemeinsam gestalten - Im Gespräch mit Bundeskanzler Olaf Scholz"; ein achtes Hauptpodium bietet Platz für eine "Veranstaltung aus aktuellem Anlass", deren Thema noch nicht genannt wurde. Fällig wäre jedenfalls noch ein inhaltlicher Akzent zum Krieg in der Ukraine, denn die spärlichen Einträge in der Programmdatenbank zu den Suchwörtern "Ukraine" und "Russland" können einen solchen kaum ersetzen.
Außer dem Kanzler werden auch wieder weitere Spitzenpolitiker erwartet, darunter die Bundesministerinnen und -minister Annalena Baerbock und Lisa Paus (Grüne), Klara Geywitz, Nancy Faeser und Hubertus Heil (SPD), auch CDU-Chef Friedrich Merz und die Ministerpräsidenten von Bayern, Markus Söder (CSU), Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig (SPD), und Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann (Grüne), werden dabei sein. Der dem Kirchentag eng verbundene Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kommt zur Eröffnung und hält außerdem eine Bibelarbeit.
Es fällt auf, dass bei keinem Hauptpodium ein Teilnehmer vorgesehen ist, der eine andere als die evangelische Kirche repräsentiert. Auch sonst wird das Thema Ökumene eher auf Sparflamme verhandelt, allen Bekundungen beim hauptsächlich digitalen 3. Ökumenischen Kirchentag von Frankfurt 2021 zum Trotz. Im Programm taucht kein einziger der sieben katholischen Bischöfe aus Bayern auf, nur der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, und die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Irme Stetter-Karp, halten jeweils eine Bibelarbeit. Der Eichstätter Bischof Gregor Maria Hanke wurde allerdings nach Angaben des Bistums eingeladen und hat aus Termingründen abgesagt. Das Bistum ist gemeinsam mit dem Erzbistum Bamberg und der Stadtkirche Nürnberg auf dem Markt der Möglichkeiten mit einem Stand zum Thema "Pilgern" präsent. Seitens des Erzbistums Bamberg wollen Diözesanadministrator Weihbischof Herwig Gössl und der emeritierte Erzbischof Ludwig Schick nach Nürnberg kommen.
Der Metropolit der größten orthodoxen Kirche in Deutschland, der Rumäne Serafim Joanta, der seinen Sitz in Nürnberg hat, kommt ebenfalls nur bei einer Bibelarbeit zu Wort, zudem gibt es ein paar Gottesdienste mit orthodoxer Beteiligung, doch zu den großen Sachthemen ist die Expertise orthodoxer Stimmen offenbar nicht gefragt.
Natürlich gibt es den obligaten zentralen Ökumenischen Gottesdienst am Fronleichnamstag und wieder ein "Zentrum Ökumene" mit 64 Programmpunkten - wie die anderen thematischen "Zentren" aber vor allem ein Treffpunkt für die ohnehin interessierten Spezialisten. Themen dort sind etwa "Ökumenische Kooperationen vor Ort", die "Charta Oecumenica", die Frage "Ethik spaltet die Kirchen. Wie gehen wir ökumenisch damit um?", "Postkonfessionelles Christentum und die Ökumene", "Gegenwärtige Herausforderungen der Friedenstheologie", Berichte von der Vollversammlung des Weltkirchenrats 2022 in Karlsruhe sowie "Kirche gestalten mit Christ:innen der zweiten Zuwanderungsgeneration" - hier auch mit einem orthodoxen Teilnehmer.
Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) ist bei zahlreichen Veranstaltungen eingebunden und präsentiert sich und ihre Mitgliedskirchen auf dem "Platz der Ökumene", dem Jakobsplatz in der Innenstadt Nürnbergs. Das traditionelle Podium in Zusammenarbeit mit dem ZdK hat diesmal das Thema "Zeit für Care in Familien". Wie in den vergangenen Jahren gibt es auch wieder ein "Zentrum Juden und Christen" mit gemeinsamen Bibelauslegungen, Filmen, Musik und Synagogenführungen und Diskussionen über interreligiösen Dialog an Schulen, Antisemitismus in Deutschland, Medizinethik und die Situation von Minderheiten in Israel.
Die 2.000 Einzelveranstaltungen teilen sich auf rund 120 Veranstaltungsorte in Nürnberg und der Nachbarstadt Fürth auf. Die Veranstalter rechnen mit 100.000 Besuchern, bisher seien rund 50.000 Tickets verkauft worden. Man darf gespannt sein, ob der Kirchentag nach der Corona-Pandemie wieder an frühere Teilnehmerzahlen anknüpfen kann. Zuletzt in Dortmund 2019 wurde die Marke von 80.000 Dauerteilnehmern gerade noch erreicht, hinzu kamen 41.000 Tagesteilnehmer - insgesamt so wenige wie seit Ende der 1970er Jahre nicht mehr. Nachdem im Dortmunder Fußballstadion beim Schlussgottesdienst die Ränge leer blieben, gibt es in Nürnberg zwei Gottesdienste in der Altstadt - auf dem Hauptmarkt und, mit Abendmahl und in Leichter Sprache, auf dem Kornmarkt.
Jedenfalls reagiert der Kirchentag auf aktuelle Trends: In Fürth ist etwa ein komplett von Künstlicher Intelligenz gesteuerter Gottesdienst geplant. Eine "FuckUp-Night" - ein Format aus der StartUp-Branche - soll Raum bieten, um über Fehler und Misserfolge zu diskutieren. Zum Suchwort "Gender" finden sich 32 Einträge in der Datenbank, es gibt ein eigenes "Zentrum Geschlechterwelten und Regenbogen". Auch im "Zentrum Muslime und Christen" gibt es ein Podium zum Thema "Hidjab und Regenbogen". Zum Vergleich: Das Thema "Missbrauch" behandeln nur sieben Veranstaltungen, darunter ein Podium am Samstag mit der pfälzischen Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst als Sprecherin der Beauftragten im Beteiligungsforum der EKD sowie Betroffenen-Vertretern.
Großen Wert legt der Kirchentag darauf, den Umweltschutz nicht nur nicht nur thematisch in mehr als 100 Veranstaltungen zu behandeln, sondern auch in seiner Struktur und Arbeitsweise umzusetzen. Dies betrifft etwa die Verpflegung und die Logistik. "Unser Ziel ist es, einen neuen Standard für Großveranstaltungen zu setzen", sagt Projektmitarbeiter Christof Hertel. Dazu gehört auch der Abschied vom gewohnten Programmheft: In diesem Jahr ist das Programm primär digital verfügbar - unter www.kirchentag.de und über die Kirchentags-App.
Von Norbert Zonker
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