Adeola Olanyi schleppt eine schwere Metallgießkanne von einer Reihe in die nächste, um Dutzende kleiner Pflänzchen zu wässern. In großen Säcken sollen künftig Tomaten, Kurkuma, lokaler Spinat und Wassermelonen wachsen. Der Standort des ungewöhnlichen Gartens: direkt unter einer Autobahnbrücke in Lagos, Nigerias Mega-City, in der mehr als 20 Millionen Menschen leben. Not mache erfinderisch, sagt die Mutter von vier Kindern und überprüft, ob sie ausreichend gegossen hat.
Neben ihr sind sechs andere Frauen damit beschäftigt, weitere Säcke mit Erde und Saatgut zu füllen. Sie alle hoffen, dass die Ernte hilft, ihre Kinder besser zu versorgen. „Die Armut ist groß. Es gibt Familien, die schon Schwierigkeiten haben, eine Mahlzeit am Tag zuzubereiten“, so erlebt es die 38-Jährige.
Dabei ist Nigeria Afrikas größte Volkswirtschaft und nach Angola der zweitgrößte Öl-Exporteur. Der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostizierte für 2023 ein Bruttoinlandsprodukt von 574 Milliarden US-Dollar. Doch bereits Ende vergangenen Jahres galten 133 Millionen Menschen als „mehrdimensional arm“. Das heißt: Sie haben weniger als 2,15 US-Dollar pro Tag zur Verfügung sowie schlechten Zugang zu Bildung und grundlegender Infrastruktur.
Die Weltbank schätzte im Juni, dass seit Jahresbeginn weitere vier Millionen Menschen hinzugekommen sind. Hauptgrund ist die hohe Inflation von rund 23 Prozent. Sie ist eng verbunden mit dem Wegfall der knapp 50 Jahre alten Benzinsubventionen Ende Juni, den die Nationalversammlung beschloss und den Weltbank und IWF begrüßen. 2022 musste Benzin noch mit 9,7 Milliarden US-Dollar öffentlich bezuschusst werden. Die Summe soll nun anderweitig genutzt werden.
Seitdem hat sich der Preis an den Zapfsäulen mehr als verdreifacht und liegt bei knapp über 70 Euro-Cent. Das wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus: Preise im Nahverkehr sind ebenso gestiegen wie Fahrten über die Taxi-Apps Uber und Bolt. Chidi Donaldus ist täglich mit seinem grauen Toyota in Lagos unterwegs: „Das Benzin ist extrem teuer geworden. Ich muss kalkulieren, welche Fahrten sich noch lohnen“, sagt er. Viele Menschen gehen mittlerweile zu Fuß, um auch kleine Beträge zu sparen, oder sie bleiben ganz zu Hause.
Gleiches gilt für den Transport von Lebensmitteln, die häufig über viele hundert Kilometer zu den Konsumenten gebracht werden. In ihrem Viertel muss Adeola Olanyi umgerechnet mehr als 50 Euro-Cent für sechs bis sieben Tomaten zahlen. Der staatlich festgelegte Mindestlohn liegt bei knapp 35 Euro. Reinigungskräfte und Fahrer in Privathaushalten verdienen mitunter knapp das Doppelte.
Auch der Import bietet keinen Ausweg. Nach Angaben der nationalen Statistikbehörde (NBS) wurden 2022 umgerechnet knapp 2,2 Milliarden Euro für Lebensmitteleinfuhren ausgegeben. Doch auch die werden zunehmend unbezahlbar. Der nigerianische Naria ist schwach wie nie zuvor; der Wechselkurs zum Dollar liegt bei 792:1. Vor zehn Jahren waren es noch 159:1.
„Die Lage in Nigeria ist komplex“, sagt Raymond Anoliefo, Leiter des Caritas-Komitees für Gerechtigkeit, Entwicklung und Frieden im Erzbistum Lagos. Viele Auswirkungen seien heute noch gar nicht ersichtlich. „Wenn Menschen beispielsweise nur noch zweimal wöchentlich zur Arbeit kommen, sinkt die Produktivität.“
In der Mega-City Lagos sind zwar viele Dienstleistungsunternehmen und die Landesbehörden ansässig. „Doch aufgrund der hohen Preise für das Internet und schlechte Stromversorgung ist Homeoffice keine Lösung.“ Auch befürchtet der katholische Priester, dass sich die Sicherheitslage verschlechtern wird und es vermehrt zu Einbrüchen und Überfällen kommt. „In den Fokus geraten dann aber nicht die Reichen, weil sie gut durch Zäune geschützt sind, sondern jene, die ebenfalls nicht viel haben.“
Mittlerweile hat die Regierung von Bola Tinubu, der Ende Februar zum Präsidenten gewählt wurde, einen Ausnahmezustand für Nahrungsmittel verhängt und Farmern zugesagt, sie mit Düngemitteln und Getreide zu unterstützen. Davon profitieren Adeola Olanyi und die übrigen Frauen allerdings nicht. Sie wollen lieber selbst erfolgreich sein und so viele Familien wie möglich in ihrem Viertel unterstützen. „Wir wollen ein Beispiel für andere sein, damit in Lagos möglichst viele Stadtgärten entstehen.
Von Katrin Gänsler
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