Der Exodus hält an. Immer mehr Mitglieder kehren den großen Kirchen in Deutschland den Rücken. Der Missbrauchsskandal ist nur einer von vielen Gründen. Gehörten 1919 noch 95 Prozent der Bürgerinnen und Bürger einer von beiden großen Kirchen an, so gilt 2021 als Zäsur: Vor zwei Jahren sank ihr Anteil auf unter 50 Prozent. Die Gesellschaft wird säkularer und zugleich religiös pluraler. Menschen anderer Religionen wie dem Islam sind dazugekommen. Sind also die kirchlichen Privilegien, wie sie das Grundgesetz gewährt, noch zeitgemäß?
Die Akademie für politische Bildung lud Ende Juni für zwei Tage nach Tutzing, um sich beim "Forum Verfassungspolitik" dem Verhältnis von Staat und Kirche zu widmen. Wie wird dieses künftig aussehen? Der Frage stellte sich ein prominent besetztes Podium, darunter die CDU-Politikerin Annegret Kramp-Karrenbauer. Als Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken ist sie überzeugt, dass die Kirche nach wie vor eine wichtige Stimme hat. In einer lebendigen Demokratie gelte es aber aufzupassen, "dass es uns nicht geht wie anderen Institutionen, dass wir uns vor allem mit uns selbst beschäftigen und den Kontakt zu jenen vergessen, die wir vertreten".
Die heute verfasste Kirche sei keine Selbstverständlichkeit, so Kramp-Karrenbauer. Um Akzeptanz müsse geworben werden. Beide Kirchen seien unter Druck geraten. Für die katholische könne sie nur sagen: durch viele eigene Fehler. Doch wenn dabei von Privilegien gesprochen werde, die der Staat den Kirchen gewähre, habe dies einen Beigeschmack, als handelte es sich um ein Geschenk. Demgegenüber stünden aber deren Leistungen als Träger von sozialen Einrichtungen wie Kindertagesstätten oder Pflegeheimen. Entsprechend dem Gebot der Subsidiarität werde hier für Vielfalt gesorgt.
Die CDU-Politikerin bezeichnete die eingeübte Praxis als "freundliche Säkularität". Im Übrigen profitiere auch der Staat von der Kirchensteuer, dem Mitgliedsbeitrag der Gläubigen. Für die Einziehung erhalte er zwischen zwei und vier Prozent des Aufkommens. Kramp-Karrenbauer sagte, sie sei eine starke Verfechterin der verfassten Kirche, auch in der Form der Körperschaft des öffentlichen Rechts. Denn um diesen Status zu erlangen, müssten Voraussetzungen erfüllt werden, etwa in Bezug auf Verfassungs- und Rechtstreue. Im Großen und Ganzen habe sich das Verhältnis von Staat und Kirche bewährt und sollte beibehalten werden.
Bereits am Laufen sind Verhandlungen um die Ablöse der Staatsleistungen, die die Kirchen seit 1919 erhalten. Die Bundesregierung will damit endgültig einen Verfassungsauftrag umsetzen. Selbst Kirchenvertreter räumen inzwischen ein, dass es immer schwieriger wird, die zugrundeliegende Historie dieser Regelung zu vermitteln. Konkret geht es um 600 Millionen Euro pro Jahr. Sie sollen Enteignungen von Kirchengütern - aus der Reformationszeit und vor allem von der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert - kompensieren.
Der FDP-Politiker und Staatssekretär im Bundesjustizministerium, Benjamin Strasser, ein Katholik, riet den beiden großen Kirchen in Deutschland, die Sache anzugehen. Die Bedingungen für eine faire Ablösung würden nicht besser. Dabei räumte er aber ein, dass aufgrund aktueller Krisen und Herausforderungen dieses Thema gerade nicht prioritär für die Bundesregierung sei. Auch der Bonner Politikwissenschaftler und Publizist Andreas Püttmann vermochte keinen sonderlichen gesellschaftlichen Druck bei der Frage auf die Politik zu erkennen. Gleichwohl zeigten Umfragen durchaus ein anderes Bild.
Während sich beim Geld die Geister scheiden, offenbart etwa der Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung noch anderes. Demnach geht die Wertschätzung fürs Christentum weit über die Gruppe der kirchennahen Bürger hinaus. So empfänden 73 Prozent der Menschen in Westdeutschland und 68 Prozent in Ostdeutschland das Christentum als Bereicherung, führte Püttmann an. Von der Meinung, dass eine Kirche arm sein müsse, um eine wahrhaft christliche Kirche zu sein, hält der Katholik nichts: "Ihrer Armut vor Gott kann sich auch eine begüterte Glaubensgemeinschaft bewusst sein."
Das bisher noch hohe Kirchensteueraufkommen plus Staatsleistungen ermögliche immerhin weltweite Hilfsaktionen, so der Publizist. Damit werde Menschen, die von sich aus keinen Kontakt zu einer Gemeinde suchen, wenigstens eine Ahnung von christlicher Kultur und Nächstenliebe vermittelt. Das Entweltlichungs-Postulat von Benedikt XVI. meine letztlich, dass sich Katholiken nicht der Welt angleichen, sondern eine Haltung der Unabhängigkeit beibehalten sollten. Auch wenn der Satz "Unsere Heimat ist der Himmel" gelte, dürfe man im Diesseits realistisch und zupackend bleiben.
"Manche fast schon katakombensüchtig agierenden Kreise in der Kirche, die Entweltlichung gern auf ihren Lippen tragen, verstehen sie aber mehr als Vorwurf oder Forderung an andere denn als Gewissensspiegel für sich selbst", führte Püttmann an. Sie seien schon lange genervt von der Herrschaft angeblich "lauer Kirchenfunktionäre in aufgeblähten Ordinariaten, Verbandsgeschäftsstellen, Fakultäten und Akademien". Von einer finanziellen Austrocknung oder Demontage des staatskirchenrechtlichen Systems erhofften sie sich eine Revitalisierung des behäbigen Gewohnheitschristentums.
In Wirklichkeit gehe es ihnen nur um den eigenen Machtzuwachs gegenüber dem liberalen Lager, so der Politologe. Eine ärmere Kirche müsste sich nämlich stärker auf begüterte Fromme stützen. Solch ein kirchenpolitisches Machtkalkül könne aber nicht als entweltlicht deklariert werden.
Den Kirchenfinanzen wachse heute, wo religiöser und politischer Fanatismus wieder aufkeime, quasi theologische Relevanz zu, erklärte Püttmann. Durch die Finanzierung weit verzweigter Strukturen werde soziale Begegnung und Beteiligung möglich. Zudem sei eine Rückkoppelung der Kirche mit der säkularen Gesellschaft sichergestellt. Der Nutzen kirchlicher Finanzkraft sei nicht nur ein pastoraler, sozialer und weltkirchlicher, "sondern indirekt auch einer für die Klugheit der Kirche selbst".
Und wie sieht das ein katholischer FDP-Politiker? Strasser erinnerte an den großen Liberalen Friedrich Naumann. Selbst vielen in seiner Partei sei nicht bewusst, dass dieser evangelischer Pfarrer gewesen sei. In der Weimarer Republik habe Naumann wesentlich als Mittler dazu beigetragen, dass aus Deutschland kein laizistischer Staat wurde, sondern ein kooperatives Trennungsmodell für Staat und Kirche entstand.
Dieses habe sich bewährt, betonte der Staatssekretär. Naumann habe bei dessen Verkündung von einem "Freudentag" vor allem für evangelische Christen gesprochen. Denn diesen sei damit die Möglichkeit eröffnet worden, sich "frei vom Staate" zu entwickeln. Selbstständig hätten die Religionsgemeinschaften ihre Angelegenheiten mit eigenen Kräften nun verwalten können. Die Ablösung der Staatsleistungen könnte eine weitere Chance in diese Richtung sein.
Von Barbara Just
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