Am jedem späten Nachmittag - mit Ausnahme der Wochenenden - bietet sich dem Beobachter in französischen Städten ein etwas seltsam anmutendes Bild. Junge Mädchen verlassen nach Schulschluss das Schulgelände und ziehen als erstes ihr Kopftuch wieder auf. Denn innerhalb der Schulmauern sind alle Formen von Kopfschleiern verboten - seit nunmehr 20 Jahren.
Am 10. Februar 2004 stimmte die Nationalversammlung dem sogenannten Gesetz zu religiösen Zeichen in öffentlichen Schulen (Loi sur les signes religieux dans les ecoles publiques) mit einer deutlichen Mehrheit zu. Schülerinnen und Schülern wurde damit mit dem neuen Schuljahr 2004/2005 das Tragen aller deutlich sichtbaren religiösen Symbole im Unterricht untersagt.
Grundlage dafür ist Frankreichs Verfassung. Seit 1905 sind Staat und Kirche streng getrennt. Seitdem ist auch das nationale Bildungswesen - so werden dessen höchste Repräsentanten in der "Grande Nation" selten müde, mit Stolz zu betonen - laizistisch, also strikt von religiösen Einflüssen getrennt. So sucht man in den Lehrplänen auch Religionsunterricht vergeblich.
1905 schrieben die Parlamentarier auch eine Gleichbehandlung aller Konfessionen vor - obwohl es außer der katholischen Kirche damals praktisch keine Adressaten gab. Knapp 100 Jahre später, beim Gesetz gegen religiöse Zeichen, scheint sich der Gedanke auf den ersten Blick zu wiederholen. Doch ist im Gesetzestext der Zusatz „ostensiblement" - übersetzt etwa deutlich sichtbar oder demonstrativ - durchaus zu beachten. Denn während ein Kreuz auch recht dezent unter der Kleidung verborgen werden kann, geht das mit einem Kopftuch eben nicht.
So wurde das Gesetz - wenn auch von Funktionsträgern vehement bestritten - schnell als antimuslimische Gesetzgebung ausgelegt. Und die jüngsten Entwicklungen scheinen diese Interpretation zu stützen. So untersagte die Regierung in Paris zum Schuljahresbeginn 2023 auch das Tragen von Abayas und Quamis im Klassenzimmer. Die Obergewänder sind vor allem bei Männern und Frauen aus den nordafrikanischen Maghreb-Staaten und dem Nahen Osten beliebt - also aus islamisch geprägten Gesellschaften, die in Frankreich große Minderheiten stellen.
Der damalige Bildungsminister Gabriel Attal verteidigte seinerzeit das Verbot im Fernsehen. Es solle Lehrkräfte unterstützen, den laizistischen Anspruch im Klassenraum durchzusetzen. Denn: „Laizität ist keine Beschränkung, sie ist eine Freiheit", so Attal mit dem erwähnten Nationalstolz.
Doch so klar, wie der Minister es formuliert hat, ist die Auslegung des Beschlusses in der Realität nun nicht. Denn die Meinungen gehen deutlich auseinander, ob es sich bei Abaya und Quamis tatsächlich um religiöse Gewänder handelt. Aus Sicht des Islamverbandes Action droits des musulmans werde damit nicht zwingend eine religiöse Überzeugung ausgedrückt, sondern eine „Verbindung mit einer Kultur oder Region". Der Beschluss ziele hauptsächlich auf „mutmaßlich muslimische Kinder" ab und sei diskriminierend, insbesondere für Mädchen arabischer oder afrikanischer Herkunft, argumentierte der Verband und legte eilig eine Beschwerde ein. Diese wurde aber vor Gericht abgewiesen; das Verbot bleibt in Kraft.
Andererseits gibt es auch Profiteure des Verbots; allen voran der bereits erwähnte Minister Attal. Mit 34 Jahren damals jüngster Bildungsminister der Republik, zudem wortgewandt und charismatisch, empfahl sich Attal für höhere Aufgaben. Nach dem Rücktritt von Ministerpräsidentin Elisabeth Borne Anfang Januar berief ihn Staatspräsident Emmanuel Macron zum neuen Regierungschef - auch hier der Jüngste jemals im Amt.
Und auch in Sachen religiöser Kleidung erhielt Attal nochmals Rückenwind aus dem Elysee-Palast. Denn Macron sprach sich nun perspektivisch bis 2026 für die Einführung von Schuluniformen aus. Damit wären Diskussionen um Kopftücher wie Abayas vom Tisch. Für eine Testphase von Schuluniformen hatte sich kurz nach seinem Amtsantritt als Bildungsminister auch Attal ausgesprochen.
Von Johannes Senk
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