SerbienEin Jahr nach dem Schock des Doppel-Amoklaufs

Zwei Massaker binnen 48 Stunden veränderten Serbien nachhaltig. Warum das Balkan-Land trotz erstarkender Zivilgesellschaft noch weit von einem EU-Beitritt entfernt ist.

Belgrad
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Es war der größte Umbruch, den Serbien seit dem Sturz des Autokraten Slobodan Milosevic (2000) erlebte. „Das ganze Land war in einer Schockstarre“, erinnert sich Sofija Todorovic, Demokratie-Aktivistin in Belgrad. Vor einem Jahr, am 3. Mai, stürmte ein Teenager die Vladislav-Ribnikar-Grundschule in der Hauptstadt, erschoss einen Wachmann und neun seiner Mitschüler.

„Gleich am nächsten Tag kam die Nachricht von einem weiteren Massaker in Mladenovac, verübt von einem 22-Jährigen mit neun Toten und 13 Verletzten. Die Serben waren sprachlos.“ Der Doppel-Amoklauf vor einem Jahr hat das EU-Beitrittskandidatenland stark verändert – zum Ärger von Präsident Aleksandar Vucic, der zunehmend Kontrolle ausübt.

„Serbien gegen Gewalt“ – unter diesem Motto versammelten sich nach den Blutbädern Hunderttausende Bürger auf den Straßen. Wöchentlich kam es zu Massendemos gegen Präsident Vucic und die von ihm kontrollierten Boulevardzeitungen und TV-Sender, denen sie Gewaltverherrlichung vorwarfen.

„Das Schulmassaker vom Mai hat die Herrschaft von Aleksandar Vucic gehörig erschüttert“, erläutert Vedran Dzihic, Balkan-Experte an der Universität Wien. Zwar gab es in Serbien in jüngerer Vergangenheit immer wieder Proteste, etwa gegen Covid-Maßnahmen oder den Bergbaukonzern Rio Tinto. „Aber hier gingen die Emotionen tiefer, da es sich bei den Opfern um Kinder handelte“, so Dzihic.

Aus der Bürgerbewegung entwuchs ein politisches Bündnis. Im November gab Vucic den Forderungen der Gegner nach und rief Neuwahlen aus. „Allerdings schaffte es das Regime auch diesmal wieder, mit der üblichen Mischung aus Ablenkung (Kosovo-Frage), medialer Beherrschung des öffentlichen Raums und starkem Nationalismus die Reihen zu schließen“, meint Dzihic. Bei den Wahlen Mitte Dezember sei in großem Stil getrickst und gestohlen worden.

Die proeuropäische liberale Parteiallianz „Serbien gegen Gewalt“ landete auf Platz zwei, und Vucic sitzt mit seiner Serbischen Fortschrittspartei (SNS) weiter fest im Sattel. Ein Jahr nach dem Massenprotest scheint die Wut auf die regierungsnahen Medien und andere Missstände bei den meisten nahezu vergessen. Das habe mehrere Gründe, sagt die Politologin Todorovic. Unter anderem hätten „die Regierenden hart daran gearbeitet, die Menschen von der Straße zurück in die Apathie zu drängen“.

Der Jahrestag des Doppel-Massakers Anfang Mai fällt mit dem orthodoxen Osterfest zusammen. Dafür hat Vucic gemeinsam mit Milorad Dodik, dem nationalistischen Serben-Führer aus Bosnien-Herzegowina, eine große „Oster-Versammlung“ angekündigt: Statt Gedenken an die Opfer des Amoklaufs steht serbischer Nationalismus auf dem Programm.

Jedoch: Unter der Asche glüht er noch, der Funke von „Serbien gegen Gewalt“, glaubt Jelena Jerinic, Parlamentsabgeordnete der „Grün-Linken Front“ (ZLF). „Die Menschen sind immer noch da, ebenso wie die Probleme, gegen die wir kämpfen.“ Gemeinsam mit anderen Parteien fordert Jerinic Vucics Wahlbündnis bei den Lokalwahlen am 2. Juni heraus.

Auch die umstrittene Wahl in der Hauptstadt Belgrad wird wiederholt – darauf hatten die EU und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) gepocht. Diesmal kämpfen die Regierungsgegner nicht als „Serbien gegen Gewalt“, sondern als Bündnis Biram Borbu („Ich wähle den Kampf“). Das Konzept laut Parlamentarierin Jerinic: „Einen Fuß in den Institutionen, den anderen auf der Straße.“

Unterdessen kündigte die Ex-Ministerpräsidentin und neue Parlamentspräsidentin Ana Brnabic für die Lokalwahlen an: „Wir schaffen eine politische Barriere gegen alle Feinde Serbiens.“ Darunter versteht das Regime offenbar nicht nur die Opposition: „Vucic hat sich mit dem Wahlbetrug, aber vor allem auch mit einer noch einmal radikalisierten anti-westlichen und auch anti-deutschen Rhetorik in den vergangenen Wochen und Monaten deutlich von der EU entfernt“, berichtet Politologe Dzihic.

Die Beziehungen zu Russland seien intakt; im Juni werde auch Chinas Präsident Serbien besuchen. Dzihic: „All das zusammengenommen ist ein klares Zeichen, dass Vucic die EU-Mitgliedschaft nicht als eine reale und ernsthafte Option betrachtet.“ Zu den politischen Nachwehen des Doppel-Amoklaufs meint der Experte: „Es ist ziemlich sicher, dass es auch 2024 neue Proteste geben wird – und die Wahlarena nicht die einzige bleiben wird, wo Widerstand gegen das Regime ausgeübt wird.“

Von Markus Schönherr
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