Der von Erdogan proklamierte Machtanspruch spiegelt sich bereits in konkreter Politik - durch die Berufung seines neuen Außenministers Hakan Fidan und von Geheimdienstchef Ibrahim Kalin. Fidan war vor den Wahlen seit 2010 Vorgänger Kalins an der Spitze des Geheimdienstes "Milli Istihbarat Teskilati" (MIT). Diesem werfen die französischen Autoren Laure Marchand und Guillaume Perrier in ihrem im Herbst 2022 erschienenen Bericht "Wölfe lieben den Nebel" brutale Aktionen im In- und Ausland vor. Der MIT verschleppe nicht nur politische Gegner aus aller Welt, sondern kontrolliere auch islamische Organisationen im Ausland. Da ist jetzt Kalin nach Jahren als graue Eminenz an der Seite Erdogans genau am richtigen Platz.
Außenminister Fidan wirkt zwar jovialer. Sein Wechsel vom Geheimdienst zur Diplomatie stellt aber eine klare Botschaft an die westliche, noch immer christlich geprägte Welt dar: Dass die Türkei einen härteren Kurs gegenüber den USA und der EU einschlagen wird. Zwar hat Erdogan jetzt wieder seine Beitrittsabsichten zur Europäischen Union beteuert. Doch dürfte es ihm dabei nur um das Herausschinden von möglichst viel Fördermitteln aus Brüssel für die Türkei gehen. Ansonsten fallen inzwischen die Golfstaaten und vor allem Saudi-Arabien als spendierfreudige Sponsoren stärker ins Gewicht. Sie verbinden ihre Zuwendungen auch nicht wie die Europäer und Amerikaner mit menschenrechtlichen Auflagen - vor allem hinsichtlich der Kurden und der christlichen Minoritäten. Das bedeutet natürlich, dass die von einem Atatürk vor 100 Jahren angestoßene Europäisierung der Türkei weiterhin rückläufig ist.
In diese Richtung weist auch die durch Konteradmiral Cem Gürdeniz erarbeitete und von Erdogan für seine dritte, bis 2028 dauernde Präsidentenzeit als richtungsweisend erklärte aggressive Theorie vom "Mavi Vatan", dem "Blauen Vaterland". Darunter verstehen die türkischen Expansionisten das halbe Mittelmeer einschließlich Zyperns und vieler griechischer Inseln. Bei seiner jetzt ersten Auslandsreise in den seit 1974 türkisch besetzten zyprischen Norden, aus dem eine Viertelmillion griechische und armenische Christen vertrieben wurde, hat Erdogan dem Westen die Anerkennung dieser "Zone" als türkisch abverlangt. Seine Begierde richtet sich auch auf Griechenlands Inseln Rhodos, Samos, Chios oder Lesbos, wo viele Nachkommen der 1920/22 vom türkischen Festland verjagten rund zwei Millionen christlichen Anatolier leben.
Vordringliches Problem Erdogans muss jedoch die rasche Sanierung der zerrütteten türkischen Wirtschaft und der Kampf gegen die dadurch ausufernde Verarmung immer breiterer Massen werden. Daran trägt unter anderem Ankaras Tiefzinspolitik die Schuld. Von ihr will Erdogan auch nach seiner Wiederwahl nicht abrücken. So hat er jetzt die von seinem neuen Wirtschaftsteam geplante Leitzinsanhebung auf mindestens 20 Prozent um 5 Prozentpunkte zurückgedreht. Das widerspricht jeder finanzpolitischen Theorie, hängt aber mit Erdogans Festhalten an einer schrittweisen Annäherung an das islamische Zinsverbot zusammen. Er ist davon überzeugt, dass die künftige Größe der Türkei und ihr Wohlstand garantiert seien, wenn in allen Bereichen die vom Islam bestimmten Realitäten des späten Osmanischen Reiches wiederhergestellt würden.
Selbst den technischen Fortschritt sieht Erdogan in solchen nostalgischen Träumen leuchten. So betrachtet der Präsident die von seinem zweiten Schwiegersohn Selcuk Bayraktar produzierten Kampfdrohnen als Entsprechung zu den großkalibrigen Geschützen des ungarischen Kanonengießers Orban, die entscheidend zum Fall von Konstantinopel 1453 beigetragen hatten.
Für die Christen und Juden in der Türkei bedeutet Erdogans Politik indes eine gewisse, an Sultanszeiten orientierte Toleranz. Zwar hat er die Hagia Sophia und eine ganze Reihe weniger bekannter Kirchenmuseen wieder zu Moscheen gemacht. Er genehmigte aber auch die Renovierung und Reaktivierung von Kirchenruinen aus der Zeit der Christenvertreibung. Das gilt besonders für das orthodoxe Ökumenische Patriarchat in Istanbul sowie für die armenisch-katholische Kirche Surp Hovsep im osttürkischen Mardin. Sie war seit dem Armeniergenozid von 1915 dem Verfall preisgegeben.
Bei diesem Thema zeigt sich übrigens, dass Erdogan christenfreundlicher ist als sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu. Dessen auf Atatürk zurückgehende Republikanische Volkspartei (CHP) hat sich zwar schon länger ein sozialdemokratisches Mäntelchen umgehängt. Bei der Präsidenten-Stichwahl am 28. Mai kam jedoch ihr alter nationalreligiöser Kern mit Feindschaft gegen alle Nicht-Muslime, aber auch Nichttürken zum Vorschein, was auch in der Forderung nach Ausweisung der vier Millionen Flüchtlinge aus Syrien gipfelte.
Von Heinz Gstrein
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