VatikanDas Schweigen der Päpste in Geschichte und Gegenwart

Selten haben sich antisemitische Massaker der Gegenwart und der historische Massenmord an den Juden Europas so überlagert wie in diesem Jahr. Auch ein Historikerkongress kurz vor dem Jahrestag der Judendeportation aus Rom vom 16. Oktober 1943 war betroffen.

Kuppel des Petersdoms
© Pixabay

Drei Tage lang, vom 9. bis 11. Oktober, debattierten in Rom an der Universität Gregoriana Historiker und Theologen darüber, wie viel Pius XII. wann von der Schoah wusste, wie vielen Juden er half, warum er nicht schärfer gegen Nazi-Gräuel protestierte, und was daraus für das Verhältnis von Judentum und katholischer Kirche folgt. Gleichzeitig geriet der regierende Papst Franziskus durch die jüngsten antisemitischen Massaker der Hamas in Israel und die absehbaren kriegerischen Konsequenzen in ein ähnlich dramatisches Dilemma wie sein berühmter Vorgänger vor 80 Jahren.

Es war der israelische Botschafter beim Heiligen Stuhl, Raphael Schutz, der die Verknüpfung von Geschichte und aktueller Situation auf den Punkt brachte. In einem überraschenden Redebeitrag zum Expertenkongress an der Päpstlichen Universität sagte er am 9. Oktober statt eines freundlichen Grußworts: "Ich glaube, dass jeder – sei es als Individuum oder weltanschauliche oder religiöse Organisation – in der Lage sein sollte, in Schlüsselmomenten eine klare und unmissverständliche Haltung zu den großen Ereignissen der Zeit einzunehmen. Wer das nicht schafft, sollte sich sehr ernste Fragen stellen."

In diesem Moment sprach er von der Vergangenheit ebenso wie von der Gegenwart. Zuvor hatte der Diplomat das Ausmaß des Massakers der Hamas-Terroristen vom 7. Oktober im Süden Israels drastisch hochgerechnet. Wenn es sich um einen Anschlag auf die USA gehandelt hätte, wären es, berechnet auf den Anteil der Ermordeten an der Bevölkerung des Landes, mehr als 40.000 Opfer gewesen – mehr als zehnmal so viele wie am 11. September 2001 in New York.

Damit untermauerte Schutz das Recht Israels auf einen massiven Verteidigungsschlag gegen die Hamas; zugleich stellte er den 7. Oktober in eine Reihe mit den Massakern des Holocaust, um die es bei dem Historiker-Kongress vor allem ging. Eine ähnliche Deutung wurde in den Folgetagen auch von israelischen Regierungsvertretern immer wieder vorgebracht: Das Massaker am 7. Oktober 2023 war der größte Massenmord an Juden seit dem Holocaust. Und wieder hat der Vatikan – so der mitschwingende Vorwurf –nicht angemessen darauf reagiert.

Während ihrer Tagung konnten die Kongressteilnehmer in Nachrichtensendungen und Social-Media-Posts dem Papst (und dem Vatikan) quasi in Echtzeit dabei zusehen, wie er mit einer angemessenen Reaktion auf die Morde der Hamas rang – und zugleich außenpolitische Belange und das Überleben der christlichen Minderheit in den islamischen Ländern abwägen musste. Franziskus verhielt sich ähnlich wie seinerzeit Pius XII. – von dem vermutet wird, dass er auch deshalb nicht schärfer gegen Hitlers Judenvernichtung Stellung bezog, weil er um die Gefährdung der Katholiken im Deutschen Reich und den von Nazideutschland besetzten Gebieten wusste.

Beim Fachkongress auf der Gregoriana wurden diese Parallelen nicht explizit benannt. Für Historiker, denen es einzig um die Erforschung dessen geht, was war, verbieten sich derartige Analogien zur Aktualität. Dennoch spielten sie als Hintergrundkulisse bei den Vorträgen und Debatten über drei Tage eine nicht wegzudenkende Rolle und wurden bei Gesprächen am Rande thematisiert.

Aber auch der eigentliche Fachkongress mit seinen historischen, archivarischen und theologischen Vorträgen hatte es in sich. Es wurde deutlich, dass die vom Vatikan angestrebte Versachlichung der Debatte um Pius XII. und sein Agieren im Zweiten Weltkrieg durch die überraschende Öffnung der Archive im Jahr 2020 vorerst doch noch nicht eintreten wird. Offenbar ist es immer noch zu früh, das Thema "Pius XII. und die Juden" als ein historisch abgeschlossenes Kapitel zu betrachten.

In den nun neu zugänglichen Dokumenten suchen und finden die Ankläger ebenso wie die Verteidiger des Weltkriegs-Papstes weiterhin das, was sie suchen: "Belastendes" Material, das untermauert, wie früh und wie umfassend der Vatikan über die systematische Judenvernichtung informiert war – und dennoch schwieg.

Zur Entlastung des Pacelli-Papstes und seines Apparats trugen hingegen neue Funde bei, die noch deutlicher belegen, wie umfassend die von höchster Stelle im Vatikan organisierten Hilfen für Juden in Rom, in weiten Teilen Italiens und in vielen Ländern Europas waren. Hierzu hat insbesondere der Münsteraner Historiker Hubert Wolf wichtiges Material beigesteuert.

Aus anderen Funden wird die reale Bedrohung, der Pius XII. unter der deutschen Besatzung Roms (September 1943 bis Juni 1944) ausgesetzt war, noch klarer – und damit auch ein weiteres Motiv für sein auffälliges Schweigen. Wieder andere Forscher widmen sich nun verstärkt der Nachkriegszeit, in der vatikanische Stellen Kriegsverbrechern zur Flucht verhalfen und der Papst gegen die These von der Kollektivschuld der Deutschen eintrat.

Bis es ein fundiertes Urteil über das Handeln des Papstes während und nach der Schoah gibt, werden, wie es bei dem Kongress hieß, noch fünf oder zehn Jahre vergehen. Zu groß ist die Zahl der Dokumente, die noch angesehen und gedeutet werden müssen. Dass der Streit um die Bewertung von Pius XII. dadurch endet, ist allerdings auch dann noch nicht zu erwarten.

Von Ludwig Ring-Eifel
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