In wenigen Wochen könnte die Ära des Recep Tayyip Erdogan (69) Geschichte sein. Laut jüngsten Umfragen liegt sein Herausforderer bei den türkischen Präsidentenwahlen am 14. Mai, der Sozialdemokrat Kemal Kilicdaroglu, mit 49 Prozent 7 Prozentpunkte vor dem amtierenden Staatsoberhaupt. Erwartet wird, dass es danach zur Stichwahl um die absolute Mehrheit kommt. Was die Spannung noch erhöht: Mit dem 74-jährigen Kilicdaroglu kandidiert erstmals ein Alevit für die Führung des sunnitischen Landes. Die religiöse Minderheit der Aleviten wird in der Türkei seit Jahrhunderten diskriminiert und gilt strengen Sunniten als ketzerisch.
"Die Türkei könnte mit Kilicdaroglu einen 'Obama-Moment' erleben", glaubt Mahir Sahin, Generalsekretär des Bundes Alevitischer Gemeinden Deutschland. Die Lage der Aleviten, die fast ein Fünftel der türkischen Bevölkerung ausmachen, habe sich in den 20 Jahren der Erdogan-Regierung verschlechtert, sagte er der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). "Erdogan hat den sunnitischen Religionsunterricht, den auch die alevitischen Schüler besuchen müssen, stark ausgeweitet. Auch die Diskriminierung im Staatsdienst hält an. Kein bekennender Alevit wird hoher Beamter in Polizei und Justiz."
Die Aleviten, darunter viele Kurden, haben ein liberales Islamverständnis; manche sehen ihren Glauben auch als eigene Religion. Den Koran legen sie nicht wörtlich aus; die Scharia und religiöse Gebote wie die täglichen Pflichtgebete oder das Kopftuch lehnen sie ab. In Deutschland ist die Alevitische Gemeinde als Religionsgemeinschaft offiziell anerkannt.
Dass ein Alevit zum aussichtsreichen Spitzenkandidaten aufsteigen konnte, liegt an den Hoffnungen, die viele Türken auf seine Republikanische Volkspartei (CHP) setzen. Sie ist traditionell die politische Heimat der Aleviten und profitierte schon bei den Kommunalwahlen 2019 von der wirtschaftspolitischen Selbstentzauberung Erdogans. Derzeit liegt die Inflationsrate in der Türkei bei über 80 Prozent. Obendrein verbinden viele mit dem Präsidenten und seiner Partei AKP Vetternwirtschaft und Missachtung der Demokratie. Zum Wahlbündnis aus CHP und fünf weiteren Parteien zählt selbst die islamistische Saadet-Partei.
Ende April sorgte Kilicdaroglu mit einem Twitter-Video für Aufsehen, das inzwischen rund 100 Millionen Mal geklickt wurde. "Ich bin Alevit", verkündet er darauf offen. Zugleich bezeichnet er sich als Muslim, der sich für Chancengleichheit in der Türkei einsetzen wolle. Zuvor hatte ein Foto seinen Gegnern billige Munition geliefert, auf dem der Oppositionsführer mit Schuhen auf einem Gebetsteppich steht. Ein Versehen, stellte er klar, doch Erdogans Wahlkampfmaschine sprühte Funken, nachdem sie auf dem konservativen Land bereits in Broschüren Stimmung gegen den Aleviten gemacht hatte. Offenbar wirkt Kilicdaroglus Bekenntnis aber auf viele Türken vertrauenswürdig.
Umso mehr präsentiert sich Erdogan in den Tagen vor der Wahl als Verteidiger des rechten Glaubens. Die CHP werde die von ihm forcierte Re-Islamisierung der einst streng laizistischen Türkei wieder zurückdrehen, warnte er seine Basis. Das Kopftuch werde sie in Universitäten und Behörden wieder verbieten, die Hagia Sophia in Istanbul von einer Moschee wieder in ein Museum umwandeln, Homosexuelle und Transgender hofieren. Die Laizisten würden ihren Sieg mit Champagner feiern, die AKP mit Gebeten, rief Justizminister Bekir Bozdag unlängst bei einer Veranstaltung.
Caner Aver, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Essener Zentrums für Türkeistudien, glaubt eher an einen kompromissbereiten Kurs, falls Kilicdaroglu gewinnt. "Er könnte eine Versöhnung der tief gespaltenen Gesellschaft erreichen und die Instrumentalisierung von Religion beenden", sagte er der KNA. Die strukturelle Ausgrenzung der Aleviten werde unter ihm zurückgehen. Auch könnte an den Universitäten und im öffentlichen Diskurs wieder Raum für einen progressiven Islam entstehen - der einst in der Türkei möglich war. Aver schließt auch nicht aus, dass Kilicdaroglu seine eigene Macht begrenzen könnte, um das von Erdogan geschaffene autoritäre Präsidialsystem wieder in eine parlamentarische Demokratie zu verwandeln.
Von Christoph Schmidt
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