AntisemitismusWiesenthal-Zentrum prangert erneut Top-Antisemiten an

Wie in jedem Jahr hat das Simon-Wiesenthal-Zentrum in Los Angeles seine Top-Ten des globalen Antisemitismus veröffentlicht. Und wieder ist Deutschland vertreten - sogar mehrfach. Kritikwürdig sind die aufgeführten Vorfälle sicher. Doch nach Kontroversen der vergangenen Jahre haftet der Veröffentlichung ein Beigeschmack an.

Israelische Flagge
© Pixabay

Die Kasseler Kunstausstellung documenta 15 hat es in diesem Jahr mehrfach auf die Titelseiten der Zeitungen geschafft - nur nicht in dem Sinne, wie es sich die Macher erhofft hatten. Statt Lob hagelte es Kritik, die sich vor allem an einem Werk, dem Banner "People's Justice" des indonesischen Künstlerkollektives Taring Padi entzündete. Das Kunstwerk zeigte antisemitischen Darstellungen, etwa eine als Juden identifizierbare Person, die einen Hut mit den Runen der SS trägt. Weder Veranstalter noch staatliche Stellen schafften es in der Folge, Ruhe in die Diskussion zu bringen.

Auch international musste ein derartiger Antisemitismus-Skandal in Deutschland für Aufmerksamkeit sorgen. Es ist insofern wenig verwunderlich, dass er es in die Top-Ten der schlimmsten antisemitischen Vorfälle des Jahres schaffte, die das Simon Wiesenthal Center (SWC) in Los Angeles alljährlich veröffentlicht.

"People's Justice" sei ein Ausdruck davon, wie Tabus um das Zeigen von Hass gegen Juden in Deutschland bröckelten, heißt es in dem zum Jahresende veröffentlichten Ranking. Dass es überhaupt zu der Ausstellung des Werkes kommen konnte zeige, dass es insbesondere in der "kulturellen Elite" in Deutschland Menschen gebe, die glaubten, "Juden ungestraft verhöhnen, verleugnen, bedrohen und attackieren zu können".

Die documenta steht auf Platz 8 der Liste, ist aber nicht der einzige Punkt mit Deutschlandbezug. Auf Platz 6 etwa werden Angriffe auf Juden gelistet, in New York, Chicago, London - und eben auch auf Synagogen in Bochum und Essen sowie zwei persönliche Attacken in Berlin.

Unter führenden Köpfen der jüdischen Gemeinschaft bestehe große Sorge über zunehmende Hassverbrechen in Deutschland, heißt es in der Erläuterung zum Ranking. Zudem werde "zwei der Antisemitismus-Zaren Deutschlands" selbst Antisemitismus vorgeworfen, ohne dass diese namentlich aufgeführt sind.

Indirekt richtet sich auch Platz 3 zumindest mit einer Teilkritik gegen Deutschland. Es geht um den umstrittenen Holocaust-Vergleich von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas bei einem gemeinsamen Pressetermin mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Das Wiesenthal-Zentrum begrüßt zwar, dass im Nachgang der Äußerungen zu einer Anzeige kam - auch wenn die Staatsanwaltschaft später keine Ermittlungen aufnahm - hält Scholz aber vor, den Vergleich "erst am nächsten Tag verurteilt" zu haben.

Auf Platz 1 im Ranking findet sich mit dem US-Rapper Kanye West in diesem Jahr eine Größe der Kunstszene. Der Musiker veröffentliche über seinen Social-Media-Auftritt antisemitische Verschwörungsmythen. Seine Beiträge seien vor allem nach einem Abendessen mit dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump verbreitet worden, heißt es.

West als Topplatzierung passt gut mit weiteren Feststellungen des Wiesenthal-Zentrums für 2022 überein. Die Autoren monieren einen Anstieg von antisemitischen Bildern und Verschwörungstheorien, die sich insbesondere über Soziale Medien und Nachrichtendienste verbreiteten. Der Messenger-Dienst Telegram erhält dafür auf Platz 10 sogar noch einen eigenen Unterpunkt.

Diese recht besorgniserregenden Beobachtungen decken sich tatsächlich mit dem, was auch Experten und Antisemitismus-Beauftragte in Deutschland zuletzt verkündeten. Insofern ist es nur schwer möglich, eine Gegenrede zu führen, gegen die vom SWC aufgebrachten Punkte. Dementsprechend wurde das Ranking auch in Medien in Deutschland mehr oder weniger ausführlich und mehr oder weniger kritiklos verbreitet.

Dabei müsste letzteres eigentlich verwundern, waren doch gerade in den vergangenen Jahren einige der Rankings aus deutscher Sicht durchaus problematisch. Als 2012 der Publizist Jakob Augstein für israelkritische Äußerungen in die Top-Ten aufgenommen wurde, bezeichnete der Zentralrat der Juden in Deutschland dies als ungerechtfertigt. Auch die Aufnahme des deutschen UN-Botschafters Christoph Heusgen 2019 sorgte für Unverständnis, ebenso 2020 die Nennung des Goethe-Instituts und der Kulturstiftung des Bundes.

Noch größer war die Empörung 2021, als der baden-württembergische Antisemitismusbeauftragte Michael Blume in der Liste genannt wurde. Die Autoren warfen ihm vor, in Beiträgen und in Netzwerken Zionisten mit Nazis verglichen und "antijüdische, israelfeindliche und verschwörerische Twitter-Accounts" mit Likes versehen zu haben.

Blume erhielt daraufhin viel Zuspruch aus jüdischen Kreisen. Die Israelitischen Religionsgemeinschaften in Baden und Württemberg verurteilten eine "Verunglimpfung" Blumes durch das SWC. Wörtlich heißt es in ihrer gemeinsamen Erklärung: "Wie das Simon Wiesenthal Center - ohne mit den Gemeinden vor Ort überhaupt Kontakt zu suchen - auf die Idee kommt, einen derart ausgewiesenen Freund Israels und der Jewish Community auf eine Liste mit Antisemiten zu setzen, ist uns vollkommen unverständlich."

Aus Sicht der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschlands habe es sich "wohl um einen Irrläufer" des Zentrums gehandelt, der korrigiert werden sollte. "Eine solche Entscheidung erweist sich als kontraproduktiv in der Bekämpfung des sich in diesen Zeiten verschärfenden Antisemitismus." Im Raum steht der Vorwurf, dass das SWC auf diese Weise gravierenden Antisemitismus relativiere.

Tatsächlich stellt sich die Frage, wie es solche Nicht-Ereignisse aus einem Mikrokosmos auf eine Liste schaffen etwa mit dem Iranischen Regime, dass Israel sein Existenzrecht abspricht, oder dem Aufstieg offen rechtsradikal auftretender Parteien in Europa. Der stellvertretende Leiter des Wiesenthal-Zentrums, Rabbi Abraham Cooper, sagte zur Augstein-Berufung einst der "Zeit", die Liste solle "eine weltweite Momentaufnahme sein und zeigen, wo und wie Antisemitismus massenkompatibel wird". Eine neuerliche Anfrage, wer für die Zusammenstellung der Liste verantwortlich ist bzw. wer Vorschläge dafür machen kann, blieb jedoch bislang unbeantwortet.

Es zeigt sich aber, dass das SWC durchaus einen Fokus auf einen vermeintlichen linkselitären Antisemitismus legt, der sich allerdings zum Teil auf Solidarität mit Muslimen oder Palästina und eine kritische Sicht auf Israels Politik beschränkt. Blume wirft dem SWC eine Nähe zum ehemaligen US-Präsidenten Trump und dessen rechtskonservativen Unterstützerkreis vor. Vor diesem Hintergrund erhielten die Veröffentlichungen des Zentrums tatsächlich etwas Boulevardeskes, darauf ausgerichtet "Links" zu diffamieren.

Zumindest offen gab es zuletzt keine Unterstützung für den Ex-Präsidenten, eher offene Kritik wegen des oben genannten Treffens mit Rapper West. Richtig ist aber auch, dass das 1977 gegründete SWC schon in der Vergangenheit wegen eigener Positionierung und Aktion Kontroversen auslöste - auch mit dem Namenspatron. Zwar stimmte der österreichische, jüdische Publizist Simon Wiesenthal (1908-2005), bekannt für die energische Verfolgung von NS-Verbrechern nach dem Krieg, anfänglich der Gründung in Los Angeles zu. Daran beteiligt war es selber aber nicht. Später begann er, mit der Einrichtung zu fremdeln. Zudem besteht keinerlei Verbindung zum Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien in Wien; dieses geht tatsächlich auf eine Gründung des Namensgebers zurück.

Abseits des inhaltlichen Fundaments ist aber unter allen Umständen die persönliche Ebene, auf die das Ranking abzielt, kritisch zu sehen. Mit Blume etwa wurde ein Antisemitismus-Beauftragter, der über Deutschlands Grenzen hinaus wohl keine Prominenz genießt, in einer weltweit beachteten Publikation mit mindestens zweifelhaften Vorwürfen bloßgestellt. Auch in der aktuellen Liste ist er wohl als einer der bereits genannten "Antisemitismus-Zaren" gemeint.

Blume und seine Familie fühlten sich durch die persönliche Nennung seinerzeit "so extrem getrollt" wie nie zuvor, erklärte der Antisemitismus-Beauftragte jüngst über Twitter. In der "Jüdischen Allgemeinen" fordert der Autor Arye Sharuz Shalicar nun eine Entschuldigung des SWC an Blume sowie dessen Streichung von der Liste. Bis dahin hätte das Zentrum und deren Veröffentlichungen keine gesellschaftliche Relevanz.

Von Johannes Senk
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