Wo kein Grashalm steht und kein Apfel heranwächst, kann auch nicht geerntet werden. Wer in der Stadt lebt, ist vom bäuerlichen Zyklus von Saat und Ernte denkbar weit weg. Dessen Ernte findet im Supermarkt statt, wo die Auswahl zwischen Kartoffeln aus verschiedenen Ländern getroffen wird. Erntedank scheint hier als Relikt einer vorindustriellen Zeit auf. Im ländlichen Raum dagegen wird das Fest noch begangen. Denn es ist nicht selbstverständlich, dass die Ernte eingefahren werden kann und der Schaden durch Blitz und Hagel in Grenzen bleibt.
Erntedank ist ein guter Anlass, um diesen Zusammenhang in die aktive Erinnerung hinein zu holen. Dass alle Menschen satt werden können und genug zu essen haben, ist nur in den westlichen Ländern ein Automatismus. Der russische Krieg gegen die Ukraine brennt es erneut ins Gedächtnis, wie brüchig die Versorgung mit Getreide sein kann; die Blockade der Häfen im Schwarzen Meer durch die russische Kriegsmarine schneidet große Länder in Afrika von jenen Tonnagen an Weizen ab, die das Überleben sicherten.
Zu den stärksten Teilen des Vaterunser zählt deshalb die Bitte „Unser tägliches Brot gibt uns heute.“ Die einen haben Brot und werfen es teils weg, weil es nicht vom Tag ist. Für andere ist nicht selbstverständlich, dass sie dieses Grundnahrungsmittel überhaupt in der Küche vorfinden. Die Erzählungen der Großeltern, die lange Jahre nach dem Weltkrieg hungerten, klingen in den Ohren nach. Es gibt guten Grund, die Erinnerung an damalige Not zu bewahren. Sie sind Bausteine einer Demut, die auch dem modernen, im Überfluss lebenden Menschen gut ansteht. Denn das breite Angebot eines Marktes ist kein Selbstläufer. Dahinter stecken harte Arbeit und agrarische Intelligenz, aber auch Wetterglück und die Gnade, auf diesem und nicht einem anderen Kontinent zu leben. All das könnte zu geschärfter Dankbarkeit führen für diese Gaben – Lebensmittel. Mancher arbeitet sich heute durch Regalmeter an Büchern, um dann aufwändige Listen von Lebensmitteln aufzustellen, die nichts mit Getreide zu tun haben. Und doch gilt: „Unser tägliches Brot gib uns heute."