Die Veröffentlichung des Freiburger Missbrauchsberichts sorgt in diesen Tagen für Empörung. Auf 600 Seiten untersuchten vier externe Experten am Beispiel von 24 Fällen, wie Kirchenverantwortliche durch ihr Handeln Missbrauch möglicherweise begünstigten. Im Fokus stehen dabei der verstorbene Erzbischof Oskar Saier sowie der frühere Erzbischof Robert Zollitsch, 2008 bis 2014 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Zollitsch habe das kanonische Recht in seiner Amtszeit völlig ignoriert, erklärte einer der Ko-Autoren bei der Veröffentlichung des Berichts. „Die betroffenen Kinder, Jugendlichen und Eltern schienen für ihn gar nicht existiert zu haben.“
Zollitsch hatte vorab über einen Sprecher ankündigen lassen, sich dazu nicht äußern zu wollen – angeblich „aus Rücksicht auf die Betroffenen“. Schon im Sommer 2022 gestand der frühere Erzbischof per Videobotschaft zwar Fehler ein. Er begründete sein Handeln allerdings damals mit der „kirchlichen Tradition und einer überkommenen Praxis“, Fälle sexualisierter Gewalt und Missbrauchs „intern zu behandeln“.
Der Bericht wirft Zollitsch „massive Vertuschung“ vor – und damit den Vorsatz, durch sein Ignorieren und Schweigen bewusst mutmaßliche und erwiesene Täter geschützt zu haben. Selbst wenn man Zollitschs Erklärung Glauben schenken wollte, dass er schlichtweg „zu naiv und arglos“ gewesen sei, um Missbrauchsvorwürfe der Polizei zu melden: Hätte ihn das tatsächlich von jeglicher rechtlichen Verantwortung entbunden?
Kirchenrechlich ist die Meldung von Missbrauch von Kindern und Jugendlichen bei der Glaubenskongregation seit Jahrzehnten vorgesehen. Unter dem Titel „Vos estis lux mundi“ hat Papst Franziskus 2019 die Meldepflicht verschärft. Der Meldende unterliegt inzwischen sogar einem besonderem Schutz, wonach ihm „kein Schweigegebot hinsichtlich ihres Inhalts auferlegt werden“ dürfe. Im März 2023 legte der Vatikan eine überarbeitete und noch einmal verschärfte Version des Erlasses vor, die nicht nur Kleriker, sondern auch bestimmte Laien in Verantwortung zieht. Das Gesetz tritt am 30. April in Kraft.
Auf staatlicher Ebene ist man in Deutschland dagegen bislang zurückhaltend. Wer von einer Straftat wie Mord oder Raub erfährt, ist gesetzlich dazu verpflichtet, Anzeige zu erstatten. Nicht aber bei sexuellem Missbrauch. In Kanada, mehreren US-Staaten sowie europäischen Ländern gibt es bereits eine Anzeigepflicht bei sexuellem Missbrauch. Auch in Deutschland gab es politische Reformpläne. 2003 etwa legte die damalige Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) einen Gesetzesentwurf vor, der bei Nichtanzeige bis zu fünf Jahre Gefängnisstrafe vorsah. Die Länder lehnten ab. Selbst manche Verbände sprachen sich teilweise gegen eine Anzeigepflicht aus, weil das Verhältnis zwischen Opfern und Vertrauensperson mit einer Anzeigepflicht beschädigt werden könnte.
Der Umgang mit möglichen sexuellen Straftaten benötigt fachliche Expertise. Deswegen ist politisches Handeln gefragt: Der Staat darf sich nicht aus der Verantwortung ziehen, indem er die Entscheidung über eine Anzeige einfach an die Betroffenen abgibt. Es braucht eine gesetzliche Regelung.