Vor 100 Jahren starb Ernst TroeltschWiederentdeckung gewünscht

Hilde Naurath, Redakteurin der Herder Korrespondenz

„Troeltsch ist ein Kontingenzdenker“ – und hat uns als solcher heute noch viel zu sagen, resümierte am Dienstag der Theologe Friedrich Wilhelm Graf in der Katholischen Akademie in Berlin. Der Abend mit dem Titel „Theologe im Welthorizont“ hatte nicht zu viel versprochen: Zwei ausgewiesene Kenner stellten den weitgehend vergessenen protestantischen Religionssoziologen, Theologen und Historiker Ernst Troeltsch (1865–1923) vor: Neben seinem Biographen Graf auch der Soziologe Hans Joas, unter anderem Inhaber der Ernst-Troeltsch-Honorarprofessur an der Berliner Humboldt-Universität.

Anlässlich seines 100. Todestags wird der Denker Troeltsch in diesem Jahr hoffentlich aus dem Dunkel des Vergessens gezogen. Die Ernst-Troeltsch-Gesellschaft widmet ihm ein Gedenkjahr nebst eigenem Kongress Ende Februar. Quasi zum Auftakt wurde der Kulturphilosoph in Berlin jetzt schon einmal – bei aller intellektuellen Differenzierung – in höchsten Tönen gepriesen. Laut Joas stellt er seine (zumindest heute) deutlich berühmteren Zeitgenossen Max Weber, Martin Heidegger und Carl Schmitt, auch einen Karl Barth oder gar Immanuel Kant in den Schatten. Joas zufolge würde er diese Größen auch heute noch hinter sich lassen, hätte er nicht nur zu seinen kurzen Lebzeiten die ihm gebührende Aufmerksamkeit erhalten, sondern auch noch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten der Radikalisierung. Doch die Geschichte wurde ihm nicht gerecht. Der liberale Theologe und Politiker wurde an den Rand gedrängt und letztlich weitgehend vergessen.

Dabei war Troeltsch einer, der „christlichen Symbolbeständen lebensdienstlichen Sinn geben“ wollte, ein Ausgleichender, der das „Christentum nicht regressiv, sondern im Horizont der Moderne“ verstehen wollte, einer, der „ethische Bestände des Christentums auf moderne gesellschaftliche Problemlagen hin zu reformulieren“ wusste, so Graf. Ihn trieb die Frage um, „wie sich Religion und Moderne – trotz aller Widerstände von beiden Seiten – in ein zeitgemäßes Verhältnis zueinander setzen lassen“.

Troeltsch verfasste ein beeindruckendes Oeuvre. Die von Graf herausgegebene „Kritische Gesamtausgabe der Werke Ernst Troeltschs“ machen es leichter denn je, sich ihm zu widmen. Christen aller Kirchen und Nichtchristen aller Couleur sollten die Gelegenheit beim Schopfe packen: Auch angesichts der heutigen Fragen nach Absolutheitsansprüchen in den Ungewissheiten des Lebens – und des Glaubens – helfen seine differenzierten Antworten. Ihn wiederzuentdecken ist jedenfalls besser, als Radikalisierungstendenzen nachzugeben.

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