Zum Atlas der ZivilgesellschaftDer Luxus, fordern zu können

Der sechste Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt zeigt, das Güter wie Meinungs- und Pressefreiheit keineswegs selbstverständlich sind. Die katholische deutsche Ortskirche sollte den „Luxus“ eigener Kontrollinstanzen auch für die Weltkirche einfordern.

Hilde Naurath, Redakteurin der Herder Korrespondenz

Gemütlich am Schreibtisch sitzen und seine Meinung kundtun, einer Gewerkschaft beitreten und an Streiks teilnehmen, einfach mal so bei einer Demonstration mitmachen – welch ein Luxus diese nur scheinbaren Selbstverständlichkeiten in Deutschland sind, zeigt ein Blick in den sechsten Atlas der Zivilgesellschaft, den „Brot für die Welt“ gestern in Berlin vorgestellt hat. Demnach gehört die deutsche Bevölkerung zu den glücklichen drei Prozent der Weltbevölkerung, die zivilgesellschaftlich garantierte Grundfreiheiten wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit genießen können. Dagegen lebt mehr als zwei Drittel der Menschheit in autoritären Staaten oder Diktaturen und mehr als ein Viertel in Ländern mit nur wenigen zivilgesellschaftlichen Handlungsräumen.

Zur Zivilgesellschaft zählt der Atlas auch die Kirchen. Einzelne kirchliche Aktionen stellt er kaum vor, mit Ausnahme des Kirchenasyls in Deutschland. Für Pakistan wird lobend erwähnt, dass sich vor allem Kirchen und Moscheen für Flüchtlinge engagiert hatten, bis die Provinzregierung von Belutschistan 2021 drohte, jeden Unterstützer zu bestrafen: Nun können Kirchen und Moscheen nur noch im Verborgenen helfen. Für Georgien dagegen wird ein Negativbeispiel genannt: 2021 „griff ein gewalttätiger Mob Aktivist:innen bei der Pride Week an, nachdem die orthodoxe Kirche zu Protesten aufgerufen hatte. Ein Reporter wurde ebenfalls angegriffen und erlag später seinen Verletzungen.“ Bereits diese beiden Beispiele illustrieren die Bandbreite an Einfluss, den Religionsgemeinschaften vor Ort ausüben. Die große Hoffnung und häufige Erfahrung ist, dass sie sich dem Menschenfreundlichen verpflichtet fühlen. Und doch lässt ein Blick auf die katholische Kirche in Deutschland ahnen, dass es weltweit auch die Kehrseite geben muss, und zwar sowohl im Umgang mit externen Machthabern als auch innerkirchlich. Denn wenn Machtmissbrauch und Vertuschung schon im freien Deutschland gang und gäbe waren – und möglicherweise noch sind –, wie muss es dann erst in autoritären Ländern ohne Kontrollinstanzen wie eine freie Presse aussehen? Wie groß ist dort die Gefahr, dass Kirchenobere und kirchliche Verantwortungsträger nicht nur unheilige Allianzen eingehen, sondern auch ihre eigene Stellung und das Ansehen ihrer Kirche über das Wohl von Schwächeren stellen?

Die katholische Kirche verfügt über ein weltweites Netz an Ortskirchen, doch eigene Kontrollinstanzen sind offensichtlich schwach. Für die deutsche Ortskirche mit ihren Ansätzen zu Aufklärung, Prävention, Intervention und Kontrolle von Machtmissbrauch heißt das: Ist es nicht ihre Pflicht, sich auch weltweit innerkirchlich für die einzusetzen, die ansonsten keinerlei Chance auf Gehör finden? Sie stößt mit ihren Forderungen nach Machtkontrolle und Gleichberechtigung nur zu oft auf Widerstand, da „die Weltkirche“ noch nicht so weit sei. Aber sie hat vielleicht sogar die Pflicht dazu, diesen „Luxus“ zum Wohle derer einzusetzen, die nicht fordern können.

Anzeige: Geschichte der Päpste seit 1800. Von Jörg Ernesti

Die Herder Korrespondenz im Abo

Die Herder Korrespondenz berichtet über aktuelle Themen aus Kirche, Theologie und Religion sowie ihrem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld. 

Zum Kennenlernen: 2 Ausgaben gratis

Jetzt testen