Wahlzettel sehen auf den ersten Blick einfach aus: links die Parteinamen, rechts eine Spalte zum Ankreuzen. Doch hinter den Namen verbergen sich komplexe Wahlprogramme. Bei den US-Wahlen umfasst das Programm der Republican Party 16 Seiten, das der Democrats 92 Seiten. Darauf erklären die zwei Partei jeweils mehrere Dutzend Wahlziele. Zwei Beispiele, vereinfacht ausgedrückt: Kandidatin Kamala Harris will ein Recht auf Abtreibung durchsetzen, Donald Trump nicht. Der frühere Präsident plant die „größte Abschiebung in der Geschichte der USA“, Harris ist dagegen.
Die zwei Punkte haben inhaltlich wenig miteinander zu tun. Papst Franziskus stellte sie in einem Interview trotzdem nebeneinander: „Wer Migranten zurückweist, macht sich ebenso schuldig wie jemand, der Abtreibung befürwortet.“ Beide seien gegen das Leben, sagte Franziskus über Harris und Trump. Er rief Katholiken in den USA zur Wahl auf. Eine konkrete Wahlempfehlung gab er aber nicht. Nur so viel: „Man muss das geringere Übel wählen. Und wer ist das geringere Übel: Jene Dame oder jener Herr? Ich weiß es nicht.“
Die Bischofskonferenz der Vereinigten Staaten distanzierte sich: „Sowohl Abtreibung als auch die Sorge für Migranten sind Themen, die die US-Bischöfe den Katholiken bei ihrer Wahlentscheidung ans Herz legen“, so eine Pressemeldung. In ihrem Dokument „Forming Consciences for Faithful Citizenship“ heiße es jedoch: „Die Bedrohung durch die Abtreibung bleibt unsere oberste Priorität“. Sie sei ein „direkter Angriff“ auf „unsere verletzlichsten Brüder und Schwestern“ und zerstöre in den USA jedes Jahr mehr als eine Million Leben.
Noch deutlich harschere Kritik erfolgte in konservativ-rechten Kreisen. Der Vorwurf: Papst Franziskus würde Äpfel mit Birnen vergleichen. Giuseppe Nardi etwa sprach auf dem umstrittenen Webportal „katholisches.info“ von „moraltheologisch starkem Tobak“: „Franziskus setzt die Weigerung, einem Migranten die Niederlassung in einem fremden Land zu gewähren, mit der Tötung eines Menschen gleich.“
In der Argumentation steckt allerdings ein Gedankenfehler: Franziskus vergleicht Abtreibungen mit Abschiebungen keineswegs. Sondern er setzt sie in einen gemeinsamen Kontext: die Präsidentschaftswahlen. Der Papst spricht damit ein Dilemma an, das Wahlzettel mit sich bringen: Mit ihrem Kreuz müssen Wähler das gesamte Wahlprogramm einer Partei bejahen. Die Komplexität der Themen wird auf eine Stimmabgabe heruntergebrochen. Abtreibungen oder Abschiebungen? Der Wahlzettel lässt hier keine Wahl.