Ein starker Rückgang des kirchlich-institutionellen Christentums im westlichen Europa ist gegenwärtig unbestreitbar zu verzeichnen. Immer mehr Kirchenbänke bleiben beim Sonntagsgottesdienst leer, vielen Ordensgemeinschaften mangelt es an Nachwuchs, das Glaubenswissen schwindet. Inmitten dieser Situation einer Kirchen- und Tradierungskrise gibt es aber auch Aufbrüche, neue christliche Vergesellschaftungsformen wie beispielsweise die Neuen Geistlichen Bewegungen. Ein Beispiel für einen solchen kirchlichen Neuaufbruch sind die Monastischen Gemeinschaften von Jerusalem (Fraternités Monastiques de Jérusalem), die vor 25 Jahren von Pierre-Marie Delfieux in Paris gegründet wurden (vgl. das Interview mit dem Gründer in HK, Februar 1990, 69 ff.).
Die katholische Kirche Frankreichs ist von den gesamtgesellschaftlichen Prozessen einer strukturellen Individualisierung und Deinstitutionalisierung auf ähnliche Weise betroffen wie die deutsche. Gleichzeitig wird sie geprägt von einer großen Vielfalt neuer geistlicher Gruppen, Gemeinschaften und Bewegungen (vgl. HK, April 1992, 162 ff.). Die zumeist in den siebziger Jahren gegründeten nouvelles communautés lassen sich im wesentlichen in charismatische, karitative und monastische Gemeinschaften unterteilen. Der Renouveau charismatique, das Entstehen katholischer charismatischer Gruppen, ist eine Bewegung, die den französischen Katholizismus in den vergangenen 25 Jahren geprägt und verändert hat. Es handelt sich dabei nicht um eine homogene Bewegung, sondern um eine Vielzahl von zum Teil recht unterschiedlichen Gebetsgruppen und Lebensgemeinschaften, wie beispielsweise die Communauté de l’Emmanuel, die Communauté chrétienne de formation oder die Puits de Jacob. Zu den karitativen neuen Gemeinschaften ist die 1964 von Jean Vanier gegründete L’Arche zu rechnen, die geistliche Lebensgemeinschaften mit geistig Behinderten bildet sowie die Communauté de Berdine, 1973 als Lebensgemeinschaft mit Drogenabhängigen von Henri Catta gegründet. Die Fraternités Monastiques de Jérusalem entsprechen in diesem Schema dem monastischen Typ neuer Gemeinschaften.
Nicht alle Gemeinschaften lassen sich exakt in das Schema charismatisch, karitativ oder monastisch einfügen: So hat die 1972 in Lyon gegründete ökumenische Gemeinschaft Chemin Neuf eine sowohl ignatianische wie charismatische Ausrichtung, und die charismatische Communauté des Béatitudes (1973 unter dem Namen Lion de Juda et de l’Agneau gegründet) weist auch monastische Züge auf. Daneben existieren Gruppen und Gemeinschaften von außerhalb Frankreichs entstandenen Bewegungen wie beispielsweise das Opus Dei, die Fokolare, die Neokatechumenen und Comunione e liberazione. Auch der Linkskatholizismus, der in der action catholique in den sechziger und Anfang der siebziger Jahre seine Hochphase hatte, hat zur Bildung von – überwiegend an lateinamerikanischen Basisgemeinden orientierten – Lebensgemeinschaften geführt. Von ihnen bestehen heute allerdings nur noch wenige.
Zahlreiche der in Frankreich gegründeten neuen geistlichen Gemeinschaften gibt es mittlerweile auch in Deutschland: die Gemeinschaft Emmanuel, die Arche, die Gemeinschaft der Seligpreisungen. Nicht so die östlich des Rheins bislang wenig bekannte Gemeinschaft von Jerusalem. In der Kirche Saint-Gervais, nahe des Pariser Rathauses und auf halbem Weg zwischen der Kathedrale Notre Dame und dem Centre Pompidou, trifft sich die Gemeinschaft von Jerusalem dreimal am Tag zum Stundengebet. Während sich der abendliche Berufsverkehr an der Kirche vorbeischiebt, betreten die Schwestern und Brüder, eingehüllt in weiße Gebetsmäntel, einen Gebetsschemel unter dem Arm, den Chorraum von Saint-Gervais. Eine halbe Stunde verweilen sie im stillen Gebet. Währenddessen klappt die Kirchentür auf und zu, dringen Motorenlärm und Autohupen einen Moment lang lauter in das Innere. Städter und Touristen kommen in die Kirche, über hundert an einem ganz gewöhnlichen Werktag, um Vesper und Eucharistie zusammen mit den Mönchen zu feiern. Wenn die Glocken kurz nach sechs verstummen, erheben sich die 50 Ordensleute und die Menschen im Kirchenschiff und stimmen ein in den Eröffnungsruf der Vesper. Es ist eine römisch-katholische Vesper mit einigen ostkirchlichen Anklängen: Ikonen schmücken den Chorraum, die vierstimmig gesungenen Hymnen und Psalmen haben einen byzantinischen Klang, beim Dreimal-Heilig verbeugen sich die Mönche, berühren vor dem Kreuzzeichen mit der Hand den Fußboden. Wichtiger als das Bitten ist der Lobpreis Gottes.
An Allerheiligen des Jahres 1975 begann Pierre-Marie Delfieux zusammen mit vier Gleichgesinnten ein monastisches Leben im Zentrum von Paris zu führen. Der französische Diözesanpriester war zuletzt Hochschulpfarrer an der Sorbonne gewesen, bevor er zwei Jahre lang als Einsiedler in der Sahara, nahe Tamanrasset lebte. Er war in die Einsamkeit der Wüste gegangen, um für eine gewisse Zeit Distanz vom Alltagsleben als Priester zu bekommen und um sich Rechenschaft über seinen Glauben abzulegen. Die Wüste wurde ihm zum Ort der Gottesbegegnung. Er erwog, für immer dort zu bleiben, erkannte aber auch, dass er in der Sahara „eigentlich zu glücklich war“ und dass heute die eigentliche Wüste die Stadt ist. Delfieux kehrte nach Paris zurück und gründete mit Zustimmung von Kardinal François Marty die Monastische Gemeinschaft von Jerusalem. Fünf Männer begannen in der früheren Pfarrkirche Kirche Saint-Gervais das Stundengebet zu beten. Bald kam eine Gemeinschaft von Frauen dazu. Heute, 25 Jahre später, gehören den Monastischen Gemeinschaften von Jerusalem 130 Ordensleute, Schwestern und Brüder, aus über 20 Nationen an. Neben Paris gibt es Niederlassungen in Blois, Vézelay, Straßburg und Florenz. Ihre Berufung sehen sie darin, Stadtmönche zu sein, „im Herzen der Stadt im Herzen Gottes“ zu leben. Im Rhythmus der Stadt treffen sich die Brüder und Schwestern dreimal am Tag zum Stundengebet in der Kirche: „morgens zur Laudes mit denen, die zur Arbeit gehen; mittags zum Gebet während der Arbeitspause; abends zur Vesper und Eucharistiefeier mit denen, die von der Arbeit kommen“, wie es in einem Informationsblatt heißt, das in Saint-Gervais ausliegt. Obwohl Schwestern und Brüder zusammen das Stundengebet singen, sind die Gemeinschaften von Jerusalem dennoch kein gemischter Orden. Brüder und Schwestern leben in verschiedenen Häusern, haben eine getrennte Leitung und sind auch finanziell voneinander unabhängig. Die Gemeinschaften von Jerusalem wurden 1979 offiziell von Kardinal Marty als „pia unio“ und 1991 von Kardinal Jean-Marie Lustiger als zwei „Institute geweihten Lebens“ mit monastischer Ausrichtung anerkannt.
Ein „Lebensbuch“ als geistliche Grundlage
Als Stadtmönche versuchen die Schwestern und Brüder sowohl monastisch als auch städtisch, genauer: monastisch im Kontext großstädtischer Kultur zu leben. So tragen sie den Habit, die Schwestern einen hellblauen und ein weißes, längeres Kopftuch, die Brüder einen dunkelblauen. Sie leben zur Miete und gehen halbtags arbeiten: als Lehrer, Büroangestellte oder in einer Putzkolonne, als Kunstschreinerin, Informatiker oder Heilpraktikerin. Den Nachmittag verbringen die Schwestern und Brüder in Stille: im Gebet, Anbetung und bei geistlicher Schriftlesung. Einmal in der Woche, am Montag, verlassen sie die Stadt zu einem Wüstentag. Nachwuchssorgen haben die Monastischen Gemeinschaften von Jerusalem keine. Das Interesse junger Menschen an ihnen ist so groß, dass drei Mal im Jahr Einkleidungen und Professen in Saint-Gervais gefeiert werden. Das Durchschnittsalter der Ordensgemeinschaft ist ungewohnt niedrig. „In unserer Gemeinschaft treffen sich die traditionellen Werte des Mönchtums und eine Offenheit der modernen Welt gegenüber“, sagt der Pierre-Marie Delfieux. „Wir leben die Gelübde – Armut, Keuschheit und Gehorsam – die Kontemplation, das Schweigen, das Gebet. Wir leben aber auch moderne Werte wie das Miteinander von Brüdern und Schwestern. Wir verreisen manchmal, leben nicht hinter hohen Klostermauern, und die Ökumene ist uns wichtig.“ Der 66-Jährige ist überzeugt: „Das sind Werte, die junge Menschen heute suchen: einen wirklichen Anspruch und eine moderne Offenheit. Wir leben die traditionellen Werte des Mönchtums und übertragen sie auf die Moderne, leben sie inmitten der Stadt.“
Die geistliche Grundlage der Monastischen Gemeinschaften von Jerusalem ist das „Livre de Vie“. Pierre-Marie Delfieux hat es 1978 verfasst. Die Ordensregel ist mittlerweile in über 20 Sprachen übersetzt worden. Vor kurzem ist sie in einer neuen und verbesserten deutschen Übersetzung unter dem Titel „Im Herzen der Städte. Lebensbuch der monastischen Gemeinschaften von Jerusalem“ (Verlag Herder, Freiburg 2000) erschienen. Das „Lebensbuch“ zeigt, dass die Spiritualität der jungen Ordensgemeinschaft auf dem Schatz der großen christlichen Tradition beruht: neben der Heiligen Schrift sind es die monastische Tradition (die Wüstenväter, die Benedikts- und die Basiliusregel, die Regel von Taizé) und die mystische Tradition (Johannes vom Kreuz, Theresa von Avila). Der Geist des Zweiten Vatikanums prägt die Ordensregel, was zahlreiche Zitate seiner Dokumente, vor allem der Kirchenkonstitution „Lumen Gentium“, zeigen.
Die ersten fünf Kapitel des „Lebensbuchs“ sind dem Leben in Gemeinschaft gewidmet. Überschrieben mit „Liebe“, beginnt das erste Kapitel mit dem Satz: „Öffne dein ganzes Leben der Liebe, die Gott dir als erster entgegenbringt“(1). Das zweite Kapitel handelt vom Gebet. Der Ordensgründer betont: „Mit deiner Wahl, im Herzen der Städte zu beten, möchtest du verdeutlichen, dass dein Leben im Herzen Gottes verankert ist. Ein monastisches Leben inmitten der Stadt wählst du nicht aus Solidaritäts- oder Apostolatsgründen. Selbst das Glaubenszeugnis steht noch im Hintergrund; denn der Mönch sehnt sich vor allem danach, im liebenden Umsonst nach Gott Ausschau zu halten“(14). Von seiner Hände Arbeit soll der Mönch leben, doch nur halbtags soll er arbeiten und als abhängiger Lohnarbeiter. „Indem du bewusst nur halbtags und oft nur für einen geringen Lohn arbeitest, rufe dieser Welt ohne viele Worte, aber durch dein einfaches Leben in Erinnerung, dass es neben dem Wert der Arbeit auch den des Gebets gibt, den Reichtum der Unentgeltlichkeit, der Stille, des gemeinschaftlichen Miteinanders, der friedvollen Offenheit für andere und des Lobpreises“ (26). Es folgen zwei Kapitel, die von der Stille und der Offenheit (accueil) handeln. Der zweite Teil der Lebensregel beschreibt das monastische Leben gemäß der evangelischen Räte: Mönchsein in Lauterkeit, Armut, Gehorsam und Demut. Der dritte Teil trägt die Überschrift „Jerusalem“ und handelt von der besonderen Berufung der monastischen Gemeinschaften: dem Leben im Herzen der Stadt. Die Stadt, sie ist einerseits „einer der vorrangigsten Orte der Begegnung von Gott und Mensch. (...) Gott selbst hat sie erwählt, auferbaut, errettet und geheiligt. In sie haben die Menschen all ihren Verstand, ihre Arbeit, ihren Glauben hineingetragen“ (128). Zugleich ist sie aber auch „der Ort des menschlichen Hochmuts, ein Ort voller Lärm, Götzendienst, Sünde, Tod und Elend“ (129). Mit der Stadt, im Rhythmus der Stadt soll der Mönch leben und zugleich eine bestimmte Distanz zum städtischen Leben wahren. Deshalb haben die Schwestern und Brüder keinen Fernseher, gehen sie nicht ins Kino, Konzert oder Theater. Im Herzen der Stadt, im Herzen der Welt wollen sie monastisch leben, gemäß Joh 17,15: „Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt nimmst, sondern dass du sie vor dem Bösen bewahrst.“ Keine äußere Klausur trennt sie von der Welt. Das Lebensbuch rät, eine innere, eine moralische Klausur zu errichten. „Wahre mit Entschiedenheit die Zeiten und Orte, die dem Alleinsein mit Gott oder dem liebenden Miteinander mit den Brüdern und Schwestern vorbehalten sind“ (142). Monastisches Leben ist Leben in der Kirche, schreibt der Gründer seiner Gemeinschaft in ihr Lebensbuch. „Wir sollen keine Kirche innerhalb der Kirche schaffen, sondern eine lebendige Zelle der Kirche in der einen und heiligen Kirche sein“ (152). Das vorletzte Kapitel trägt die Überschrift „Jerusalem“. Jerusalem steht für alle Städte der Welt, für einen bevorzugten Ort der Begegnung von Mensch und Gott; Jerusalem ist die Stadt, zu der Jesus Christus hinaufzog, der Ort der ersten christlichen Gemeinschaften und schließlich ist das himmlische Jerusalem die Verheißung und Vollendung. Von Jerusalem her ergibt sich der Auftrag zur Ökumene, der Leidenschaft für die Einheit der Christen und für die Gemeinschaft mit allen Kindern Abrahams, Juden, Christen, Moslems (174). Das letzte, 15. Kapitel handelt von der Freude.
Präsenz in Vézelay und bald auch auf dem Mont Saint-Michel
Obwohl die Monastischen Gemeinschaften kein pastorales Apostolat haben und völlig absichtslos im Herzen der Stadt das Lob Gottes singen, mit der Stadt und für die Stadt beten wollen, haben sie dennoch eine ungeheure Wirkung und Ausstrahlung auf Menschen unterschiedlicher Altersstufen und sozialer Schichten. Im Laufe der Jahre hat sich eine Art Dritter Orden gebildet, Laiengemeinschaften, die Fraternitäten genannt werden. In Paris gibt es Fraternitäten junger Erwachsener, junger Familien, Gruppen der Erwachsenenkatechese, des Bibel-Teilens, eine „Schule des Lebens“, in der sich Menschen auf der Suche nach ihrer persönlichen Berufung treffen. Die „Kinder Abrahams“ pflegen den Dialog mit Juden und Muslimen. Eine Fraternität verbindet soziales Engagement für Arbeitslose und Gebet, die Mitglieder einer anderen sitzen stundenweise am „Empfang“ in einer Seitenkapelle, bereit zum Gespräch und gemeinsamen Gebet mit Fragenden und Einsamen. Jede Laiengemeinschaft wird von Schwestern und Brüdern der Monastischen Gemeinschaft begleitet. Nicht nur auf Erwachsene, auch auf Kinder und Jugendliche hat die Spiritualität der Ordensgemeinschaft eine große Anziehungskraft. So gibt es ebenfalls Kinder- und Jugendfraternitäten. Im August diesen Jahres sind 40 Brüder und Schwestern mit insgesamt 350 Jugendlichen zu Fuß zum Weltjugendtreffen nach Rom gepilgert.
Die Monastischen Gemeinschaften verwurzeln sich bewusst in der Ortskirche. Sie sind nicht exemt, sondern dem Bischof unterstellt. Von sich aus gründen sie auch keine neuen Niederlassungen, sondern gehen nur dann in eine neue Stadt, wenn der dortige Ortsbischof sie ausdrücklich ruft. Ihrem Charisma entsprechend leben sie in Großstädten. Eine Ausnahme ist Vézelay, ein Dorf in Burgund mit nur 600 Einwohnern, in das jedoch durch die berühmte romanisch-frühgotische Basilika Sainte-Madeleine jedes Jahr viele Tausend Touristen und Pilger kommen (vgl. HK, August 1999, 408 ff.). In dieser alten Klosterkirche singen die Ordensleute das Stundengebet, hier haben junge Erwachsene die Möglichkeit während so genannter „Monastischer Wochen“ das Leben der Schwestern und Brüder zu teilen und hier trifft sich die Fraternität „Ogives“ (Spitzbögen), die sich der Vermittlung von Glaube und Kunst widmet. „Durchgangsstadt“ oder „Stadt in Bewegung“ nennt die Ordensgemeinschaft das Dorf auf dem „ewigen Hügel“ im Morvan und bereitet die Gründung einer Ordensniederlassung auf einem anderen berühmten französischem Hügel vor: auf der Granitinsel Mont Saint-Michel an der normannischen Küste. Drei Millionen Menschen besuchen jedes Jahr den Mont Saint-Michel. „Wir sind dort, wo die Menschen sind“, lautet das Motto der Gemeinschaften von Jerusalem. Und: „Vielleicht tragen wir dazu bei, dass aus manchem Tourist ein Pilger wird.“ Teilt sich die Mönchsgemeinde eine Kirche mit der ortsansässigen Pfarrgemeinde, ist das Zusammenleben nicht immer leicht. Die Pfarrgemeinde von Sainte-Madeleine de Vézelay war von den Mönchen, die aus Paris gekommen waren und eine für sie ungewohnte Liturgie feierten, nicht nur angetan. Es dauerte seine Zeit, bis einvernehmliche Lösungen beispielsweise für die Gottesdienstzeiten gefunden wurden. In Paris hat es diese Schwierigkeiten nicht gegeben, weil Saint-Gervais bei der Gründung der Gemeinschaft keine Pfarrkirche mehr war. Und in Straßburg wurden die Ordensleute vor fünf Jahren in der Pfarrei Saint-Jean sogar mit Freude empfangen. Die kleine Pfarrgemeinde mit hohem Durchschnittsalter der Gemeindemitglieder hat es von Anfang an als Bereicherung und Verlebendigung erfahren, dass Brüder und Schwestern drei Mal am Tag in ihrer Kirche das Stundengebet singen. Und kamen früher kaum 50 Menschen zum Sonntagsgottesdienst, so sind es heute weitaus mehr, die allein zur Vesper und Messe an einem Werktag kommen; Menschen aller Altersstufen, darunter viele junge Erwachsene.
Am 1. November 2000 feiern die Monastischen Gemeinschaften von Jerusalem ihr 25-jähriges Bestehen mit einer festlichen Liturgie in Saint-Gervais. Es wird ein Tag der Erinnerung an die Anfänge der Gemeinschaft werden. Doch auch nach vorne richtet sich der Blick: Für das nächste Jahr ist neben dem Mont Saint-Michel eine Neugründung in Brüssel vorgesehen; daneben ist Istanbul in Planung, wenngleich der Zeitpunkt für die Stadt am Bosperus noch ungewiss ist. Und Deutschland? „Es hat sich gezeigt, dass die Monastischen Gemeinschaften von Jerusalem eine wirkliche Anfrage an die Kirche und an die Welt von heute darstellen“, sagt Frère Pierre-Marie, „dass wir etwas leben, das an vielen Orten gesucht wird, auf das regelrecht gewartet wird.“ Er ist überzeugt: „Auch deutsche Städte wie Berlin, Frankfurt, München oder Stuttgart brauchen Gemeinschaften wie die unsere.“ Auch in einer Zeit der Kirchen- und Tradierungskrise, vielleicht sogar gerade dann, gibt es kirchliche Neuaufbrüche. Dafür sind die Monastischen Gemeinschaften von Jerusalem ein Beispiel. Bemerkenswert sind ihre Prinzipien: Der Augenmerk liegt auf der Stadt, in der ja auch die frühen Christengemeinden zuhause waren. Sie haben Mut zur eigenen christlichen Lebensform, vertrauen auf die Vitalität der christlichen Tradition, ohne auf ihre Relevanz, auf das „Ankommen“ in der gegenwärtigen Gesellschaft zu schielen. Sie leben aus der Kraft der Liturgie, des Lobpreises. Dahinter steht eine Deszendenztheologie, eine Spiritualität, die sich von Gott prägen lässt und ihren Ausgang nicht bei den eigenen Erfahrungen nimmt. Die Nähe zur orthodoxen Spiritualität wird deutlich, in der der Mensch die göttliche Wirklichkeit feiert und sich davon verändern lässt. Was die Mönche der Jerusalem-Gemeinschaft leben, ist ein Bruch mit jenen liberalen Ansätzen, die sich mehr der Relevanz als der Identität verpflichtet sehen. Ihr gemeinschaftlich-kirchliches Lebenszeugnis macht sie zu einer christlichen Lebensgestalt für das 21. Jahrhundert.