Das Thema Religion ist in den neunziger Jahren – gemessen an den drei Jahrzehnten zuvor – vom Rand stärker in die Mitte der Soziologie in Deutschland zurückgekehrt. Den Auftakt bildete der 24. Deutsche Soziologentag in Zürich 1988, auf dem zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder eine Plenarveranstaltung zum Thema Religion stattfand. Als Wissenschaft von der „sozialen Bedeutung des Wendezeit-Syndroms“ empfahl sich die (Religions-)Soziologie in Zürich und reagierte damit auf eine in den achtziger Jahren sich ins Bewusstsein drängende Umstellung des gesellschaftlichen Diskurses um die Religion. Begebe man sich nur konsequent genug – so lautete die Botschaft – auf die „Suche nach den Erben der Christenheit“, dann habe man es bei der Religion nicht länger mit einer im Modernisierungsprozess zwangsläufig absterbenden Kraft, sondern möglicherweise mit einer aufsteigenden, als Bote eines neuen, postmodernen Zeitalters fungierenden Größe zu tun. Vom Ende des Jahrzehnts aus betrachtet haben die Blütenträume vom Anbruch eines neuen religiösen Zeitalters nicht lange angehalten, sind längst einer neuen Nüchternheit in Sachen Religion gewichen. Geblieben ist das Faktum, dass die religionssoziologische Forschung innerhalb der neunziger Jahre einen gewissen Aufschwung verzeichnete und dass sich innerhalb der Soziologie der theoretische und empirische Status der Religionssoziologie insgesamt verbesserte. Seit Beginn der neunziger Jahre ist die Religionssoziologie wieder als Arbeitsgruppe bzw. Sektion innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) vertreten. Geblieben ist aber auch die außerordentliche institutionelle Schwäche der Religionssoziologie in Deutschland, insofern sie – auch nach der Begründung eines neuen religionswissenschaftlichen Schwerpunkts an der Universität Erfurt – faktisch über keinen fachspezifischen Lehrstuhl an einem universitären soziologischen Fach- bzw. Arbeitsbereich verfügt.
Eng mit der allgemeinen soziologischen Theorie verschränkt
Die im internationalen Vergleich besonders auffällige institutionelle Schwäche der Religionssoziologie in Deutschland hat möglicherweise aber auch etwas zu tun mit einer ihrer Stärken, die auch in den neunziger Jahren der deutschen Religionssoziologie ihr spezifisches Profil gegeben hat: ihre enge Verschränkung mit der allgemeinen soziologischen Theorie. Der Beitrag der deutschen Religionssoziologie zu dem, was Hubert Knobloch als „neoklassische Religionssoziologie“ (Religionssoziologie, Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1999, 109) bezeichnet, fällt schon seit den siebziger Jahren überraschend groß aus. Wenn sich auch weder Thomas Luckmann noch Niklas Luhmann als Religionssoziologen rubrizieren lassen, so haben sie doch vom Boden ihrer Theorieentwürfe aus der Auseinandersetzung um das soziologische Verständnis von Religion wichtige Impulse gegeben. Für die neunziger Jahre ist dabei der Versuch charakteristisch, Religion soziologisch als Kommunikation (Luhmann) bzw. als kommunikative Konstruktion (Luckmann) begrifflich zu fassen und sich damit von außersoziologischen Zugängen und Definitionsvorgaben in Sachen Religion nachhaltig zu lösen. Der ebenfalls auf eine Tagung der Sektion Religionssoziologie zurückgehende Sammelband „Religion als Kommunikation“ (Hartmann Tyrell/Volkhard Krech/Hubert Knobloch [Hg.], Ergon Verlag, Würzburg 1998) dokumentiert gut, dass Luhmann in dieser Hinsicht die konsequenteste Position einnimmt. Er begründet seine Entscheidung gegen einen anthropologischen und für einen rein gesellschaftlichen Zugang zur Religion mit dem Hinweis, dass angesichts des gegenwärtigen rapiden Wandels in den gesellschaftlichen Bedingungen der Lebensführung für den Einzelmenschen nur eine eigenständige Gesellschaftstheorie Erklärungskraft beanspruchen könne (135). Kommunikation betrachtet Luhmann als jene anonyme Grundoperation, die die Gesellschaft als soziales System wie ihre Subsysteme produziert und aus eigenen Produkten reproduziert. „Nur als Kommunikation hat Religion deshalb eine gesellschaftliche Existenz. Was in den Köpfen der zahllosen Einzelmenschen stattfindet, könnte niemals zu ,Religion‘ zusammenfinden – es sei denn durch Kommunikation“ (137). Luhmanns Interesse gilt dabei vornehmlich der semantischen und strukturellen Selbstorganisation religiöser Kommunikation in Form von Dogmatiken und Kirchen. Im Gegensatz zu Luhmann beharrt Luckmann auf einer anthropologischen Verankerung religiöser Kommunikation, insofern sie für ihn in elementaren Transzendenzerfahrungen ihren Ursprung hat. Wenn es sich auch stets um gedeutete Erfahrung handelt, setzt Luckmann den Kommunikationsbegriff später an und vermeidet seine Anonymisierung als Operation ohne Subjekte. So kommt Luckmann auch zu der für seinen Ansatz entscheidenden These, dass das, was Luhmann als „Mikrodiversität“ religiöser Kommunikation bezeichnet, gerade als die dominierende moderne Sozialform der Religion zu begreifen sei. Es spricht für die theoretische Produktivität der deutschen (Religions-)Soziologie in den neunziger Jahren, dass in diesem Zeitraum nicht nur die phänomenologisch orientierte Soziologie und die Systemtheorie ihre Konzepte ausgebaut haben, sondern dass auch ein neuer Ansatz die Theoriediskussion zu beleben beginnt. Vom Boden der „objektiven Hermeneutik“ aus hat Ulrich Oevermann einen eigenständigen Zugang zur Religion zu gewinnen versucht (Ein Modell der Struktur von Religiosität. Zugleich ein Strukturmodell von Lebenspraxis und sozialer Zeit, in: Monika Wohlrab-Sahr [Hg.], Biographie und Religion. Zwischen Ritual und Selbstsuche, Frankfurt 1995, 27– 102; Strukturmodell von Religiosität, in: Karl Gabriel [Hg.], Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung, Gütersloh 1996, 29–40). Auch Oevermann sieht die Grundlage der Religion in der kommunikativ bzw. sprachlich strukturierten Vergesellschaftungsform des Menschen, macht sie allerdings an damit gegebenen unhintergehbaren Anforderungen menschlicher Lebenspraxis fest. Mit sprachlicher Vergesellschaftung sieht sich die menschliche Lebenspraxis mit dem Widerspruch konfrontiert, im Bezug auf gewählte Handlungsalternativen einem unhintergehbaren Begründungszwang zu unterliegen, diesem aber immer erst „ex post“ nachkommen zu können. Religionen als „Bewährungsmythen“ „lösen“, bzw. chiffrieren das Grundproblem menschlicher Lebenspraxis von Begründungszwang und -unfähigkeit zugleich. Zu ihrer Geltung sind sie auf eine Gemeinde angewiesen, die ihre Plausibilität kommunikativ zu sichern in der Lage ist.
Schon Helmut Schelskys Beobachtung vom modernen Formwandel des Religiösen in die Richtung von Subjektivierung und Dauerreflexion enthielt eine untergründige Kritik am soziologischen Säkularisierungsparadigma. Im begrifflichen Kostüm der neunziger Jahre kehrt die Kontroverse mit einer gewissen Schärfe auf die Bühne des soziologischen Religionsdiskurses in Deutschland zurück. Von religiöser Individualisierung ist jetzt die Rede, die den (post-)modernen Trend in Sachen Religion angemessener auf den Begriff bringe als die klassischen Annahmen über ihr Verschwinden. Wiederum hat die Kontroverse ihren Niederschlag in einer Veröffentlichung der Sektion Religionssoziologie in der DGS gefunden, der eine Tagung zum Thema vorausging (Karl Gabriel [Hg.], Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung. Biographie und Gruppe als Bezugspunkte moderner Religiosität, Verlag Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1996). Um an den Kern der Auseinandersetzung um ein neues Paradigma der Religionssoziologie jenseits des Säkularisierungsparadigmas zu gelangen, müssen – so die Diskussionslage in den neunziger Jahren – unterschiedliche Dimensionen des Begriffs schärfer unterschieden werden. Konsens unter den Religionssoziologen besteht nach wie vor insoweit, als moderne Gesellschaften als funktional differenzierte, institutionell segmentierte Gesellschaften zu begreifen sind und damit Säkularisierung als Ablösung der übrigen Institutionsbereiche von religiösen Vorgaben und Kontrollen unvermeidlich mit modernen gesellschaftlichen Strukturen verbunden ist. Kontrovers bleibt, ob funktionale Differenzierung notwendig mit der Zurückdrängung der Religion auch auf der Ebene der individuellen Lebensführung und -orientierung verbunden sei bzw. strukturell notwendig verbunden sein müsse.
Nicht dem öffentlichen Zeitgeist Tribut zollen
Der in den neunziger Jahren beliebt gewordene Hinweis auf neue Formen von Religiosität verdecke nur – so die Argumentation von Detlef Pollack als einem der prominenten Kritiker des „neuen Paradigmas“ – die harte, theoretisch gut begründete Annahme, dass unter den Bedingungen funktionaler Diffenzierung Religion auch auf der individuellen Ebene entscheidend geschwächt werde, verblasse und verschwinde. Wer aus dem Säkularisierungsprozess auf der individuellen Ebene einen Formwandel des Religiösen zu konstruieren versuche, zolle einem durchsichtigen öffentlichen Zeitgeist Tribut, der auf Religion – aus welchem Interesse auch immer – nicht verzichten zu können glaube. Sache des Soziologen sei es aber gerade, den Nebel beiseite zu schieben und die moderne Gesellschaft nüchtern mit dem Versiegen ihrer religöisen Ressourcen zu konfrontieren. In spätindustriellen Gesellschaften – so das in den neunziger Jahren erneuerte (Gegen-)Argument Luckmanns – komme es nicht zu dem, was das Säkularisierungsparadigma insinuiere, nämlich einem Verschwinden der Religion. Vielmehr handele es sich um einen tiefgreifenden Wandel in der Sozialform der Religion. Das am historischen Christentum gewonnene offizielle Modell der Religion als spezifisches, gesellschaftlich fest etabliertes Modell der Transzendenzerfahrung sei durch den modernen strukturellen und religiös-kulturellen Pluralismus seiner Geltung unwiderbringlich beraubt. Nach wie vor sei auch kein alternatives, ähnlich institutionell gefestigtes, etabliertes Muster der Religion in Sicht. Insofern impliziert die Zurückweisung des Säkularisierungsparadigmas bei Luckmann nicht die Vorstellung, die sachliche wie soziale Reichweite eines am Christentum gewonnenen Transzendenzglaubens bleibe erhalten und werde nur durch außerkirchliche und neureligiöse Muster ersetzt, wie Pollack anzunehmen scheint. Vielmehr gehört für Luckmann zum Kern der spätindustriellen Sozialform der Religion, sich auf kein etabliertes Muster „großer Transzendenzerfahrungen“ mehr beziehen zu können. Als ihre Domäne bewegt sie sich im – den großen Institutionen gegenüber – „jenseitigen Reich“ des persönlichprivaten Lebensraums und verleiht dessen Themen und Anliegen religiös-transzendente Ausprägung und Weihe. Für Luckmann spiegelt sich der konstatierte Wandel in der Sozialform der Religion sowohl in Mustern der Sakralisierung des Selbst, intimisierter Partnerschaft und Familiarismus wider als auch in den inneren Umstrukturierungsprozessen, die das offizielle Modell im Raum des Privaten heute erfährt. Während Luhmann an dieser Stelle vorsichtiger argumentiert, den Säkularisierungsbegriff auf die Dimension strukturell-funktionaler Differenzierung beschränkt wissen will und von der Privatisierung religiösen Entscheidens spricht, plädiert Pollack von einer systemtheoretischen Position aus vehement für die Beibehaltung des Säkularisierungsparadigmas. Für die Differenz entscheidend dürfte sein, dass Pollack und einige seiner empirisch-massenstatistisch arbeitenden Kollegen jene Phänomene, die Luhmann als „Mikrodiversität religiöser Kommunikation“ bezeichnet, nicht mehr als Religion zu identifizieren vermögen. Wenn man für die Religion ein bestimmtes Niveau struktureller und semantischer Selbstorganisation bzw. Institutionalisierung als offizielles Modell voraussetzt, erscheint es konsistent, in den strukturell angelegten religiösen Individualisierungsprozessen nichts anderes als eine Variante der Säkularisierung zu sehen und keinen Grund ausmachen zu können, der für einen Paradigmenwechsel in der Religionssoziologie spräche. Folgt man dieser Prämisse nicht, dürfte es angemessener sein, den Säkularisierungsbegriff vornehmlich als eine Kategorie des öffentlichen bzw. religionspolitischen Diskurses zu betrachten und religionssoziologisch zu thematisieren, wer, mit welchem Interesse und im Bezug auf welche Phänomene auf den Begriff zurückgreift.
Der Widerspruch gegenüber der klassischen Säkularisierungsperspektive ist in den neunziger Jahren nicht bei der Privatisierungs- bzw. Individualisierungsthese stehen geblieben, sondern hat durch Hinweise auf Prozesse der De- bzw. Entprivatisierung der Religion eine neue Stoßrichtung erhalten. Franz Höllinger (Volksreligion und Herrschaftskirche. Die Wurzeln des religiösen Verhaltens in westlichen Gesellschaften, Verlag Leske und Budrich, Opladen 1996) hat in einer interessanten Studie die Daten des World Value Survey (WVS, 1990/91) und des International Social Survey Programme (ISSP, 1991) für zehn Länder Europas und die USA vergleichend ausgewertet und zur Erklärung der Ergebnisse die These entwickelt, der gesellschaftliche Modernisierungsgrad allein könne die nationalen Unterschiede in der jeweiligen Stellung von Religion, Christentum und Kirche nicht hinreichend erklären (20 ff.). Zu einer schlüssigeren Erklärung gelange man, wenn man die Geschichte der jeweiligen nationalen religiösen Kulturen und Mentalitäten in den Blick nehme. Auf zwei bis heute (nach-)wirkende Konfliktfelder der Religion und ihrer Repräsentanten weist Höllinger hin. Zum einen sei es entscheidend, ob von Beginn der Christianisierung an die kirchlich verfasste Religion die politische Herrschaft stützte bzw. sich ihrer zur gewaltförmigen Durchsetzung bediente, oder ob umgekehrt die Religion in der Auseinandersetzung mit der politischen Herrschaft als auf Seiten des Volkes stehend wahrgenommen wurde (22). Als zweites, für die nationalen Religionskulturen prägendes Konfliktfeld verweist Höllinger auf die jeweilige Größe der Kluft zwischen der gelebten Sexual- und Ehemoral und den kirchlichen Normvorschriften und der Art ihrer Durchsetzung (280 ff.). Wo die christliche Religion – so die These Höllingers – überwiegend herrschaftsstützend und repressiv in ihrer Ehe- und Sexualmoral auftrat und wahrgenommen wurde, bereitete sie selbst das Feld für das, was heute allein als eine Folge des Modernisierungsprozesses erscheint. Wo sie eine kulturelle Verankerung im Volk gefunden habe, nehme der Säkularisierungsprozess bis in die Gegenwart hinein einen anderen Verlauf.
In den USA vollzog sich die Modernisierung ohne Religionszerfall
An die Anfragen Höllingers hinsichtlich des determinierenden Zusammenhangs von Modernität und Säkularisierung schließt sich eine Diskussion an, die aus der amerikanischen (Religions-) Soziologie kommt. So scheut sich etwa José Casanova (Public Religions in the Modern World, The University of Chicago Press, Chicago/London 1994) nicht, direkt von „deprivatization of modern religion“ zu sprechen (211 ff.). Die katholische Befreiungstheologie Lateinamerikas und der islamische Fundamentalismus haben seit den achtziger Jahren die Frage nach der öffentlichen Rolle von Religion neu auf die Tagesordnung gebracht. Aus den Ergebnissen von fünf Fallstudien konfessionell wie politisch sehr unterschiedlicher Länder (Spanien, Polen, Brasilien, der evangelikale Protestantismus und der Katholizismus der USA) zieht Casanova folgende Schlussfolgerungen: Um das Verhältnis von Religion und Modernität schärfer als in der bisherigen religionssoziologischen Forschung in den Blick zu bekommen, müsse man folgende drei, im Säkularisierungsbegriff verschränkten Dimensionen klar voneinander trennen: Säkularisierung als strukturelle Differenzierung, als Niedergang religiösen Glaubens und religiöser Praktiken und als Zurückdrängung der Religion in die Privatsphäre.
Strukturelle Differenzierung – so die Argumentation Casanovas – ist ein mit der Moderne zur Durchsetzung gelangter Trend und konstitutiv mit modernen gesellschaftlichen Strukturen verbunden. Modernitätsinkompatibel sind damit sowohl etablierte (Staats-)Kirchen als auch die dem modernen Bürgerschaftsprinzip widersprechende Fusion von politischer und religiöser Gemeinschaft. Unter den Bedingungen der Religionsfreiheit nehmen vom säkularen Staat aus betrachtet alle Religionen den Charakter von freiwilligen Vereinigungen bzw. Denominationen an.
Obwohl die Säkularisierungstheorie sich vorwiegend aus Beobachtungen in der zweiten Dimension – dem Verfall religiösen Glaubens und religiöser Praktiken unter Modernisierungsbedingungen – speist, weist Casanova mit Nachdruck darauf hin, dass es sich in diesem Fall nicht um einen strukturellen Trend der Moderne handele. Die vergleichend in den Blick genommene Datenlage sei besser zu erklären, wenn man den Rückgang religiösen Glaubens und Handelns in Bezug setzte zu der Frage, wie die religiösen Traditionen jeweils auf die strukturelle Differenzierung reagiert haben.
Als grobe Orientierung könne die Regel gelten, dass dort, wo sich etablierte Religionen gegen den Trend struktureller Differenzierung gestemmt haben und wo entsprechend die Aufklärung in soziale Bewegungen antireligiösen und antikirchlichen Charakters einmündete, es auch zu den für viele westliche Gesellschaften typischen Verfallserscheinung religiösen Glaubens gekommen sei. Wo sich umgekehrt Religionen von Anfang an auf die strukturelle Differenzierung eingelassen und die Struktur von Freiwilligen-Organisationen angenommen haben, haben sich für Casanova durchaus säkularisierungsresistente und modernitätskonforme Muster religiöser Selbstreproduktion herausgebildet. Das sei die Erkenntnis, die man aus dem sogenannten amerikanischen „Exzeptionalismus“ – einer Modernisierung ohne Religionsverfall – gewinnen könne. Auch die Privatisierung der Religion müsse als eine zwar vorwiegend gewählte, aber doch nur als eine Option für die Stellung der Religion in modernen Gesellschaften betrachtet werden und dürfe deshalb nicht zu einem unhintergehbaren strukturellen Trend der Moderne stilisiert werden. Casanova macht die Unterscheidung zwischen staatlicher, politischer und zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit und entwickelt die These, dass theoretisch wie empirisch eine zivilgesellschaftlich orientierte öffentliche Religion mit der strukturellen wie kulturellen Moderne durchaus vereinbar sei.
Sind die Kirchen in Deutschland auf dem Weg zu Akteuren einer zivilgesellschaftlichen, öffentlichen Religion? Nach dem Ausweis der Forschung der neunziger Jahre ist dies eher nicht der Fall. Michael N. Ebertz hat seine Forschungen zur kirchenbezogenen Religion in Deutschland in einer größeren Studie vorgelegt (Erosion der Gnadenanstalt? Zum Wandel der Sozialgestalt von Kirche, Verlag Josef Knecht, Frankfurt 1998). Der Schwerpunkt der Analyse von Ebertz liegt im Bereich des Katholizismus, so dass inzwischen die katholische Kirche makrosoziologisch als breiter untersucht gelten kann als die protestantische. Ebertz konstatiert für die neunziger Jahre einen ungebremsten Verfall der kirchenbezogenen Religion und Religiosität in Deutschland und bringt ihn mit Blick auf den Katholizismus unter das Motto der Erosion der katholischen Gnadenanstalt. Aus den Trümmern der Gnadenanstalt sieht er keine Sozialgestalt von Kirche erstehen, die den Charakter einer typischen denominationellen Freiwilligen-Organisation annehme. Vielmehr sieht er die Kirchen in Deutschland auf dem Weg zu „situativ und fallweise, vor allem rituell und caritativ genutzte(n) – Dienstleistungs- und religiöse(n) Versorgungsorganisationen...“ (289). Nach wie vor fehlt damit den Kirchen eine Sozialform, die ihnen die Kraft zur religiösen Selbstreproduktion unter Bedingungen radikalisierter Modernität gäbe. So lässt sich die fortgesetzte Erosion der kirchenbezogenen Religion in Deutschland erklären, ohne auf das Deutungsschema eines der verschärften Modernisierung zwangsläufig folgenden Säkularisierungsprozesses zu rekurieren. Ob Versuche beider großen Kirchen in Deutschland, über öffentliche, politisch-ethische Konsultationen sich als zivilgesellschaftliche Akteure einer öffentlichen Religion neu zu profilieren, eine nachhaltige Richtungsänderung anzeigen, lässt sich heute noch schwer eindeutig ausmachen.
Kein religiöser Aufbruch in Ostdeutschland
Es musste für die Religionssoziologie in Deutschland eine besondere Herausforderung darstellen, dass sie sich 1989/1990 in einem Land wiederfand, das wie nirgendwo sonst auf der Welt zwei sehr unterschiedlich geprägte Religionssysteme aufwies. Welche Entwicklung würden – so die zentrale Frage – Religion und Kirche nach dem Ende der staatlichen Repression und Unterdrückung in Ostdeutschland einschlagen? Im Frühjahr ist ein von Detlef Pollack und Gert Pickel herausgegebener Sammelband erschienen (Religiöser und kirchlicher Wandel in Ostdeutschland 1989–1999, Verlag Leske und Budrich, Opladen 2000), der eine erste Bilanz einer zehnjährigen „freien“ Religionsentwicklung in Ostdeutschland zu ziehen versucht. Alle verfügbaren Daten verweisen darauf, dass in Ostdeutschland der von manchen erwartete, in nicht wenigen Transformationsländern auch tatsächlich eingetretene religiöse Aufbruch ausgeblieben ist. Dies gilt sowohl für die kirchenbezogene Religion und Religiosität wie für empirisch fassbare, außerkirchliche Religiositätsmuster. Nur noch vergleichbar etwa mit Estland, gehört Ostdeutschland auch am Ende des Jahrzehnts zu den Ländern, die für faktisch alle Indikatoren von Religiosität und Kirchlichkeit in Europa und darüber hinaus die geringsten Werte aufweisen.
Die Strategien zur Erklärung der Entwicklung variieren wiederum in erster Linie danach, wie stark auf einen generellen Säkularisierungstrend rekurriert wird. Für die einen verweist die Entwicklung nach 1989 in Ost- wie in Westdeutschland auf einen erneuten Säkularisierungsschub in ganz Deutschland. Nur auf der Oberfläche – etwa in der noch beibehaltenen formellen Kirchenmitgliedschaft auch der Nicht-Religiösen und Nicht-Christlichen im Westen – bestünden noch mehr oder weniger große Unterschiede. In Ostdeutschland zeige sich entsprechend heute die Zukunft der Religion in ganz Deutschland. Die anderen sehen eher historisch und strukturell kontingente Faktoren am Werk und sind sich in Sachen der Zukunft der Religion in Deutschland nicht so sicher. Offenbar trifft die gesellschaftliche Modernisierung dort die Religion am empfindlichsten, wo – über staatlich veranstaltete Sozialisationsprozesse verstärkt – die Privatisierung der Religion mit ihrer öffentlichen Stigmatisierung verbunden ist. Diese Ausgangssituation 1989/90 in Ostdeutschland konnte gerade durch eine Strategie kirchlichen Handelns nicht entscheidend aufgebrochen werden, die die Kirche in den Augen eines großen Teils der Bevölkerung zurück in die Nähe zu den herrschaftlichen institutionellen Strukturen brachte. Erst das kommende Jahrzehnt wird wohl zeigen, welche Gestalt das Religionssystem der „Berliner Republik“ tatsächlich annehmen wird. Der religionssoziologische Diskurs der neunziger Jahre hat nicht zuletzt dadurch an Gewicht gewonnen, dass weltweit und alle Weltreligionen involvierende religiöse, antimodernistische Protestbewegungen Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Mit dem schillernden Begriff des Fundamentalismus wurde der Versuch unternommen, den modernitätstheoretisch unerwarteten Phänomenen mit einem – auch ideenpolitisch vielfältig verwendbaren – Etikett zu Leibe zu rücken. Es ist das Verdienst der vielbeachteten Studie von Martin Riesebrodt (Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung. Amerikanische Protestanten [1910–28] und iranische Schiiten [1961–79] im Vergleich, Verlag J. C. B. Mohr, Tübingen 1990), den Fundamentalismusbegriff zu einer soziologisch brauchbaren Kategorie entwickelt zu haben. Riesebrodt analysiert den protestantischen Fundamentalismus in den USA zwischen 1910 und 1928 und arbeitet Strukturanalogien zum schiitischen Fundamentalismus im Iran zwischen 1961 und 1979 heraus. Auf dieser Grundlage identifiziert er den Typus eines „rationalen Fundamentalismus der Weltbeherrschung“ (214), der sich als ein radikaler Traditionalimus im Kampf gegen die Entwertung insbesondere patriarchaler Traditionen und Lebensformen verstehen läßt. Von den Trägerschichten her begreift Riesebrodt den Fundamentalismus als eine sozialökonomische Kategorien typisch übergreifende sozial-moralische Milieu- bzw. Protestbewegung, die sich spezifisch gegen die moderne Versachlichung patriarchal und personal geregelter Sozialbeziehungen in allen Lebensbereichen – insbesondere aber auf dem Feld von Familie, Sexualität und Autorität – wendet. Seine die Mobilisierung ermöglichende und vorantreibende Nahrung findet der Fundamentalismus für Riesebrodt vornehmlich in drei Prozessen: in rapider Urbanisierung und Pluralisierung, im Aufstieg neuer ökonomischer Eliten sowie in den modernen Zentralisierungs- und Bürokratisierungsprozessen der politischen Institutionen.
Angesichts des sichtbar gewordenen Abstraktionsgrads (religions-)soziologischer Theoriebildung kann es nicht überraschen, dass auch für die neunziger Jahre eine nicht zu übersehende Kluft zwischen Theorie und Empirie in Sachen Religion zu konstatieren ist. Andererseits sind aber die Versuche unübersehbar, die Tradition theorieloser Religionsforschung hinter sich zu lassen und Religion auf anspruchsvollere Weise als bisher theoretisch angeleitet und methodisch abgesichert zu erforschen. In den neunziger Jahren ist den bisher in der Religionsforschung dominierenden quantitativmassenstatistischen Forschungsstrategien eine echte Konkurrenz durch den Einsatz qualitativer Methoden entstanden.
Inzwischen liegen für alle neueren qualitativen Forschungsrichtungen vom narrativen Interview bis zur objektiven Hermeneutik religionssoziologisch relevante empirische Studien vor. Thematische Schwerpunkte bilden dabei Studien zur religiösen Konversion (Hubert Knobloch/Volkhard Krech/Monika Wohlrab-Sahr [Hg.], Religiöse Konversion. Systematische und fallorientierte Studien in soziologischer Perspektive, UVK Universitätsverlag, Konstanz 1998), zum Verhältnis von Biographie und Religion (Monika Wohlrab-Sahr [Hg.], Biographie und Religion. Zwischen Ritual und Selbstsuche, Campus Verlag Frankfurt 1995), zu Ausdrucksformen jugendlicher Religiosität (Albrecht Schöll, Zwischen religiöser Revolte und frommer Anpassung. Die Rolle der Religion in der Adoleszenzkrise, Gütersloh 1992; Dietlind Fischer/Albrecht Schöll, Lebenspraxis und Religion. Fallstudien zur subjektiven Religiosität von Jugendlichen, Gütersloh 1994) und zur religiösen Sinnstiftung in Gruppen (Gabriele B. Christmann, Die ,religioiden‘ Anteile im Denken von Umweltschützer/innen. Über Herkunft und Aufrechterhaltung umweltschützerischer Sinnelemente, in: Karl Gabriel [Hg.], Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung. Gütersloh 1996, 198–214; Karl Gabriel/Monika Treber, Deutungsmuster christlicher Dritte-Welt-Gruppen, in: Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung, 173–197). Für die neunziger Jahre lässt sich aber auch eine deutliche Verfeinerung des Instrumentariums der quantitativ-massenstatistischen Religionsforschung konstatieren. Als ausgefeiltestes Beispiel kann dabei die „Sonderfall-Studie“ zur Religion in der Schweiz gelten (Alfred Dubach/ Roland J. Campiche [Hg.], Jede [r] ein Sonderfall? Religion in der Schweiz. NZN Buchverlag, Zürich 1993). Ihr gelingt es in differenzierter Weise, auch religiöse Orientierungsmuster jenseits kirchenbezogener Religiosität empirisch zu erschließen. Das inzwischen auch in deutscher Übersetzung vorliegende Buch von Robert Wuthnow (Der Wandel der religiösen Landschaft in den USA seit dem zweiten Weltkrieg, Ergon-Verlag Würzburg 1996) endet mit der Beobachtung, dass heute „Amerika seine Legitimation aus der Technologie...“ gewinnt, „indem es sich als würdiger Unterstützer einer Sache erweist, die allen Anzeichen nach heilig zu sein scheint“ (322 f.). Technologie als millenaristischer Mythos scheint augenblicklich im Zuge des neuen globalen Wettstreits der Weltregionen auf Europa überzugreifen und im religiös und weltanschaulich plural gewordenen Deutschland auf besonders günstige Rezeptionsbedingungen zu stoßen. Was Forschungsfragen dieser Art angeht, weist die deutsche Religionssoziologie der neunziger Jahre – mit vorwiegend qualitativen Methoden dem Individualisierungsprozess der Religion nachspürend – Defizite auf. Hier warten Aufgaben, die sie bisher noch nicht in ausreichendem Maße in den Blick genommen hat.