Kein Zweifel, dass dieses Jubiläumsjahr uns viel „Bach“ bescheren wird. Schon werden die Bach-Kunden von den Werbekundigen mit Superlativen umworben: die wirklich komplette Einspielung seiner sämtlichen Werke, das unentbehrliche Handbuch, die maßstabsetzende neue Biographie. Die Fülle der Johann Sebastian Bach gewidmeten Publikationen, Tonträger und Veranstaltungen ist längst unübersehbar geworden. Befürchtungen, das Jubiläumsjahr werde – ähnlich wie es Goethe widerfahren ist – mehr in die Breite als in die Tiefe gehen, drängen sich auf. Bereits anlässlich des letzten Bach-Jahres 1985 wurden Tendenzen zur Vereinnahmung ebenso kritisiert wie Bachs mediale Reduzierung auf „Gloria und Tingeltangel“ (Hans Heinrich Eggebrecht). Doch wie nahe und wie fern ist uns eigentlich dieser Thomaskantor? Wie bei vielen anderen Aspekten der unerschöpflichen Thematik „Bach“ scheint auch in dieser Frage ein „Sowohl – Als auch“ eher angebracht als ein polarisierendes „Entweder – Oder“. Bach ist uns ferner, als es die beliebten Bearbeitungen seiner Kantaten-Favoritstücke (unter Verzicht auf von Bach mitkomponierten, bisweilen befremdlichen Text) für jegliche Besetzung und Anlässe suggerieren; andererseits ist er uns näher als es etwa Wolfgang Hildesheimer in seiner 1985 gehaltenen Rede mit dem programmatischen Titel „Der ferne Bach“ gelten lassen wollte. Bach ist heute so präsent wie kein zweiter Komponist aus vorklassischer Zeit. Mit der gesamten „Alten Musik“ verbindet ihn das Phänomen seiner – zumindest partiellen – Vergessenheit mitsamt der Wiederentdeckung im 19. und 20. Jahrhundert. Seinen Platz in der weltlichen wie geistlichen Musik, in Liturgie, Konzert und Hausmusik, in „traditioneller“ wie „historischer“ Aufführungspraxis behauptet Bach jedoch weltweit ohne Einschränkungen und inzwischen in der ganzen immensen Breite seines überaus umfangreichen Werkes; weit mehr als tausend Kompositionen listet das „Bach-Werke-Verzeichnis“ auf. Weder Schütz noch Monteverdi, weder Telemann noch Händel konnte dies gelingen.
Seinen Zeitgenossen galt Johann Sebastian Bach, der das städtisch-kirchliche Amt des Leipziger Thomaskantors von 1723 bis zu seinem Tod 1750 bekleidet hat, in erster Linie als unangefochtener Meister an den Tasteninstrumenten, und zwar komponierend wie spielend. „Er excelliert auf dem Clavier“, bemerkte bereits einer der Leipziger Ratsherren im Zusammenhang der 1722/23, nach dem Tod Johann Kuhnaus, notwendig gewordenen Neubesetzung des Leipziger Thomaskantorats. Nach Bachs Tod wurde dieses Bild noch um einige charakteristische Züge erweitert, etwa die des „starken Fugisten“ und „großen Harmonisten“. Bach wurde sodann zum „Zeitgenossen“ (Friedhelm Krummacher) verschiedener Generationen, das heißt, er wurde unter höchst unterschiedlichen Vorzeichen dazu „gemacht“. Sein erster Biograph, der Göttinger Universitätsmusikdirektor Johann Nikolaus Forkel, orchestrierte seine Monographie über Bachs „Leben, Kunst und Kunstwerke“ (1802) mit kräftigen nationalen Tönen: „Und dieser Mann … war ein Deutscher. Sei stolz auf ihn, Vaterland; sei auf ihn stolz, aber sei auch seiner wert!“ Philipp Spitta hingegen setzte mit seinem monumentalen zweibändigen „Bach“ (1873/80) einen neuen Akzent, indem er Bach als „Deutschlands größten Kirchenkomponisten“ zeichnete, dabei jedoch den „weltlichen“ Bach, vor allem seine (nach Bachs eigener Einschätzung glückliche) sechsjährige Tätigkeit am Hof zu Köthen (1717– 1723) allzu weit in den Hintergrund drängte.
Zwischen diesen ersten beiden biographischen Werken liegt die fast legendäre Wiederaufführung der Bachschen Matthäuspassion unter Felix Mendelssohn Bartholdy (1829), etwa hundert Jahre nach dem ersten Erklingen des Werkes in der Leipziger Thomaskirche (1729 oder – wahrscheinlicher – bereits 1727). Im Umkreis der in ihrer Wirkung auf die nun vielerorts rasch einsetzende bürgerliche Bach-Pflege kaum zu überschätzenden Aufführung Mendelssohns, unter deren Zuhörern sich Persönlichkeiten wie Hegel, Schleiermacher, Droysen und Heine befanden, klingen dann auch ausgesprochen kunstreligiöse Töne an. Bachs kirchenmusikalische Werke, die sich in gewisser Weise dem im damaligen Luthertum einzigartig favorisierten Konzept „Musik im Dienst der Religion“ verdanken und als Predigt in Tönen, ja bisweilen geradezu als komponiertes Gebet fungierten, wurden als „geistliche Musik“ im Kontext der romantischen Auffassung von der „Musik als Religion“ wiederentdeckt.
Radikalisiert wurde diese kunstreligiöse Tendenz im übrigen gerade in jüngster Zeit sowohl von Philosophen als auch von Musikern. Der rumänisch französische Denker Emile Michel Cioran (1911–1995), dessen radikal pessimistische Skepsis von seiner Faszination für Musik und Mystik reizvoll kontrapunktiert wird, hört Bachs Musik als den „eigentlichen Gottesbeweis“! Und Mauricio Kagel läßt in seiner 1985 uraufgeführten abendfüllenden „Sankt-Bach-Passion“ (inzwischen auch auf CD dokumentiert), die Bachs damalige – mitunter allerdings nur vermeintliche! – „Leidensgeschichte“ mit seiner heutigen „Heiligsprechung“ verknüpft, auch altbekannte Choräle erklingen, nun aber mit Worten wie „Ein feste Burg ist unser Bach“ oder „Dir, dir, Sebastian will ich singen“.
Defizite einer hochspezialisierten Bach-Forschung
Überhaupt sind die „Bach-Bilder“ des 20. Jahrhunderts überaus bunt und divergent. So steht der „Fünfte Evangelist“ neben dem „führenden Repräsentanten der Aufklärung“. Die erste Bezeichnung geht auf den schwedischen lutherischen Erzbischof und Theologen Nathan Söderblom zurück, was jedoch nur bedingt gilt, weil dieser nirgends von Bach als „Fünftem Evangelisten“ spricht, sondern lediglich von seinem Werk als einem „Fünften Evangelium“. Den „Aufklärer“ Bach zeichneten dann einige DDR-Musikwissenschaftler, indem sie Bachs „enzyklopädische“ Interessen – etwa an der Beherrschung des gesamten Vorrats an Tonarten im „Wohltemperierten Klavier“ – zum Dreh- und Angelpunkt des staatlich verordneten Bach-Bildes machten. Bach wurde zudem (von Albert Schweitzer u. a.) emphatisch als das „Ende“ eines großen Kapitels der Musikgeschichte gedeutet – und im Gegenzug wiederum als „Wegbereiter“ interpretiert, von dem spätere Komponisten, Mozart und Beethoven voran, Harmonik und Satztechnik erlernten. Auch hier gilt wohl beides, und zwar bis in unsere unmittelbare Gegenwart, wie es in Anton Weberns Diktum „… denn alles findet bei Bach statt“ ebenso deutlich wird wie in Klaus Hubers ausdrücklich doppeldeutig gemeinter Sicht von Bach als einem kompositorischen „Fluchtpunkt“.
Heute, im „Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ (Walter Benjamin), ist Bachs Werk an einem vorläufigen Höhepunkt seiner weltweiten Präsenz angelangt, was wohl nur zureichend gewürdigt werden kann, wenn man bedenkt, dass etwa keines der größeren oratorischen Werke und kaum eine Kantate Bachs zu seinen Lebzeiten und den späteren Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts überhaupt im Druck vorlag, so dass es einer größeren Öffentlichkeit überhaupt hätte bekannt werden können. Wer die Matthäuspassion kennen lernen wollte, hatte im ganzen 18. Jahrhundert kaum mehr als vier oder fünf Gelegenheiten, das Werk in der Leipziger Karfreitagsvesper unter Bachs Leitung zu hören! Grundlage der heutigen Präsenz Bachs sind nicht zuletzt die enormen philologischen Leistungen der letzten Jahrzehnte, vor allem im Zusammenhang der inzwischen nahezu abgeschlossenen „Neuen Bach-Ausgabe“, die mitsamt der 1900 gegründeten „Neuen Bach-Gesellschaft“ und deren Mitgliedsorgan, dem renommierten „Bach-Jahrbuch“ als eine der wenigen Institutionen die deutsche Spaltung überstanden hat. Eine große Bach-Biographie ist seit Jahrzehnten nicht erschienen. Bedauerlich wäre es, wenn die Publikationen zu Bach allzusehr in die Polarisierung zwischen historischkompendiös (Lexika, Handbücher) und esoterisch-spekulativ (Zahlensymbolik usw.) gerieten und das „Mittelfeld“ gediegener Information und zumal für Musiker brauchbarer Werkinterpreation darüber vernachlässigt würde. Die bisweilen auf die Spitze getriebene Spezialisierung ist eine imponierende Leistung und ein Nachteil der Bachforschung zugleich, denn sie hat in ihrer akribisch-analytischen Tendenz die ebenso wichtigen synthetischen Versuche in den Hintergrund gedrängt. Und was wurde und wird nicht alles erforscht an Bach: von den Linealen (sogenannte „Rastrale“), die er benutzt hat, um Notenlinien aufs Papier zu bringen (heute bieten sie wichtige Aufschlüsse zur exakten Datierung seiner Werke) über seine Beichtväter, die wiederum Anhaltspunkte zur Bestimmung seines „geschichtlichen Ortes“ im Spannungsfeld von lutherischer Orthodoxie, Pietismus und beginnender Aufklärung liefern, bis hin zur Krankheit, die zu seinem Tod führte (vermutlich Diabetes, die sich als Augenleiden und Schreibkrampf äußerte, was somit auch die ungelenke Schrift seiner Spätwerke erklärt).
Schließlich wurde keinem Komponisten auch nur annähernd eine derart intensive theologische Zuwendung zuteil wie Bach. Nach eher vereinzelten Versuchen, von denen Albert Schweitzers „Bach als Mystiker“ besonders publikumswirksam geworden ist, konstituierte sich auf dem Bachfest 1976 in Berlin auf Betreiben des Bachforschers und Theologen Walter Blankenburg die bis heute existierende „Internationale Arbeitsgemeinschaft für theologische Bachforschung“. Inzwischen sind auf dem theologisch-musikwissenschaftlichen Terrain zahlreiche Ergebnisse zu verzeichnen: Bachs Verwurzelung in der lutherischen Orthodoxie seiner Zeit wurde deutlich herausgearbeitet, und viele der von ihm vertonten Texte konnten durch die Aufhellung ihres predigthaften Kontextes im Zusammenhang damaliger Bibelauslegung verständlicher gemacht werden.
Dennoch sind die aus dem 19. Jahrhundert stammenden Ressentiments gegen diese „verruchten deutschen Kirchentexte“ (Carl Friedrich Zelter in einem Brief an Goethe) immer noch virulent; und vielleicht ist es ja auch gar nicht nötig, jede Zeile solcher Barocklyrik um jeden Preis durch das Aufspüren homiletischer Hintergründe für die heutige geistliche Aneignung retten zu wollen. Unter die Lupe genommen wurden zudem Bachs umfangreiche theologische Bibliothek sowie seine theologische Äußerungen, etwa die eigenhändigen Randbemerkungen in seiner dreibändigen Bibel, die erst 1968 in den USA wiederentdeckt wurde. „Bey einer andächtigen Musique ist allezeit Gott mit seiner Gnadengegenwart“ notierte sich Bach etwa zur Stelle 2 Chronik 5,13, wo von der Einsetzung der Tempelmusik die Rede ist. Und was wurde je Treffenderes von einem Komponisten in „musico-theologischer“ Absicht gesagt? Selbst die Unterstreichungen Bachs in dieser Bibel machen deutlich, wie sehr er gegen Ende seines Lebens um eine spirituelle Vergewisserung über sein (kirchen-)musikalisches Tun besorgt war.
Bach als die letzte Brücke zu Glaube und Kirche
Was hören Bach-Hörer, wenn sie heute Bach hören? Fast prophetisch erscheinen die Worte Friedrich Nietzsches nach seiner mehrmaligen Erfahrung mit Bachs Matthäuspassion: „Wer das Christentum völlig verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium.“ In der Tat stehen wir vor einer merkwürdigen Situation: Für viele ist das Werk Bachs die einzig verbliebene Brücke zu Glaubensinhalten und zur Kirche. Die Vermutung, dass in dieser Rezeption die Musik im Mittelpunkt steht und der Text gerade noch „in Kauf genommen“ wird, erscheint wenig plausibel. Viel eher hat es den Anschein, dass Bachs Musik auf verschiedenen Ebenen wahrgenommen werden kann: die Passionen etwa müssen nicht in extenso als in Musik übersetzte Soteriologie gehört werden, wenngleich Bach sicherlich nicht ohne Absicht den Eingangschoral „O Lamm Gottes unschuldig“ ebenso wie den Evangelistenpart mit roter Tinte in die Partitur eingetragen hat. Sie lassen sich auch als musikalische Trauerarbeit, als Musik von Leid und Leidenschaft hören und verstehen.
Nicht zu vernachlässigen ist die ökumenische Bedeutung Bachs, zumal die katholische Kirchenmusik mit keinem Komponisten von ähnlich unbestrittener Vorrangstellung aufwarten kann. Weder die Gregorianik noch Palestrina, weder Mozart noch Bruckner sind mit der Rolle Bachs im Protestantismus vergleichbar. Wohl auch deshalb erklingen in der katholischen Liturgie mit Selbstverständlichkeit Bachs Orgelwerke und gelegentlich auch einer seiner Choralsätze (mit einem ist er sogar im Orgelbuch zum „Gotteslob“ vertreten), ja bisweilen sogar eine Bach-Kantate als Predigtmusik, die in ihrem wortgebundenen Duktus ein Pendant zu den nach wie vor beliebten Messvertonungen des Barock und der Wiener Klassik darstellen kann. Kaum bekannt ist, dass die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils am 11. Oktober 1962 zu Bachs Orgelklängen (Präludium c-Moll BWV 546, gespielt von Fernando Germani) in den Petersdom eingezogen sind; und schon am 19. Juni des Bachjahres 1950 war in der Schweizer Kloster- und Wallfahrtskirche Maria Einsiedeln Bachs „Opus summum et ultimum“, die h-Moll-Messe, im Rahmen eines von dem damaligen Abt Benno Gut zelebrierten Pontifikalamt erklungen. Dass dieses Werk bereits 1790 im Nachlassverzeichnis des zweitältesten Bach-Sohnes Carl Philipp Emanuel als die „große catholische Messe“ bezeichnet wurde, dürfte damals kaum bekannt gewesen sein. Im übrigen zeigt aber gerade die vermächtnishafte h-Moll-Messe recht anschaulich den interpretatorischen Spielraum, den Bachs Musik anbietet. Ohne konkreten Aufführungsanlass hat Bach sie als „Exemplum“ in der Kunst der Messvertonung geschaffen, gleichsam als seine „Kunst der Messe“. Wiederentdeckt und erstmals publiziert wurde sie im Kontext der Ästhetik des Erhabenen unter dem von dem Zürcher Verleger und Musikgelehrten Hans Georg Nägeli stammenden Titel „Hohe Messe“ (1833/45). Walter Blankenburg nannte sie mit guten Gründen ein „christliches Gesamtkunstwerk“, der Dirigent Thomas Hengelbrock einen „Brennspiegel von Lebenswirklichkeiten“ und der japanische Bachforscher Yoshitake Kobayashi (er selbst ist Buddhist) schließlich hört Bachs „Dona nobis pacem“ als einen „Weltfriedensappell“.
Musik zum Hören, Denken und Glauben
All dies zeigt, dass Perspektivität in der Bach-Rezeption kein Nachteil sein muss. Bachs ästhetischer „Überschuss“ an Qualität, der bisweilen ins Feld geführt wird, wenn es darum geht, die Verwendung ein und derselben Musik für verschiedene Texte (das sogenannte „Parodieverfahren“) zu erläutern, scheint auch eine „Bedingung der Möglichkeit“ für die zahlreichen späteren Deutungen darzustellen. Die vielen Interpretationen der „Spätzeithörer“ (Hans Blumenberg) sind letztlich ein Indiz für den ungeheuren Reichtum der Bachschen Musik, der sich keiner Epoche gleichzeitig in toto erschließen vermag, auch nicht Bachs eigener Zeit.
Das Bachjahr 2000 steht nun in der Spannung von Kunst, Kommerz und Kult. Jeder der drei Aspekte führt in die Irre, sobald er verabsolutiert wird. Bachs Kunst stand damals (von wenigen Ausnahmen abgesehen) in funktionalen Zusammenhängen, ohne die sie auch heute nur unzulänglich verstehbar wird. Eine Bachkantate aufzuführen, sie es liturgisch oder konzertant, ohne den Hörern auch das dem Werk zugrundeliegende Evangelium zur Kenntnis zu geben, ist deshalb wenig sinnvoll. Der Freiburger Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht hat darauf hingewiesen, dass Bach heute ein „ästhetisches“ und ein „erkennendes Verstehen“ erfordert, also mithin die Hörer emotional und rational anspricht. Für die geistliche Musik ist das unbedingt zu unterstreichen, weil gerade diese Werke Ordnung und Ausdruck virtuos ineinander integrieren und zudem auf der emotionalen Seite die stärksten Gegensätze ausloten. Der Gedanke ist jedoch noch zu erweitern: Sowohl Ordnung als auch Ausdruck dienen der Artikulation des Glaubens in Wort und Ton. Die musikalische Ordnung darf bei Bach als Spur des göttlichen Schöpfers im Medium menschlich-künstlerischer Schöpfung wahrgenommen werden (die Musik des Luthertums hat die Ablehnung der „natürlichen Theologie“ nie mitvollzogen!), und der Ausdruck stellt nichts anderes dar als den „Affectus fidei“ (Martin Luther) in all seinen Schattierungen, im emotional reichen Spannungsbogen des Kirchenjahres und vor allem in der Grundpolarität von „Crux“ und „Gloria“. Als „Zeitkunst“ legt die Musik Bachs nicht nur aus, was Glauben heißt, sondern sie führt aus, wie Glauben sich vollzieht. Musik zum Hören, zum Denken und letztlich zum Glauben – mit diesem Dreiklang spricht Bach seine Hörer an.
Immer stärker herausgearbeitet wurden in den letzten Jahren Aspekte der choreographischen Inszenierung Bachscher geistlicher Werke. Ansätze hierzu reichen bis in die Anfänge des 20. Jh. zurück (Ferruccio Busoni, Carl Orff), blieben jedoch bisweilen auf der Ebene des Entwurfs stecken. Einen Markstein der letzten Jahrzehnte stellt John Neumeiers Hamburger Choreographie der Matthäuspassion (1980) dar, deren erste Fassung („Skizzen“) im Hamburger Michel aufgeführt wurde und die insgesamt eine bedeutende choreographische Auseinandersetzung mit Stoff, Text und Musik der Matthäuspassion darstellt. Einen ganz anderen Weg schlug Achim Freyer in seiner Choreographie der h-Moll-Messe (Schwetzinger Festspiele 1996) ein, indem er die Musik in elementaren Gesten gleichsam durchbuchstabiert, ohne den engeren theologisch-liturgischen Kontext explizit in den Blick zu nehmen. Unbestritten ist, dass in Bachs Leben und Werk gleich mehrere Superlative zusammenkommen: Er war, wie Martin Geck betont, der erste und bislang einzige Komponist, der sich das Reich der Musik nach all seinen Provinzen (mit Ausnahme der Oper!) so überaus planvoll und konsequent erobert hat. Er hat zudem das Komponieren von mustergültigen und über die Zeiten hinweg gültigen „Exempla“ zu einer Maxime seines Schaffens erhoben. Die „Kunst der Fuge“ sowie die h-Moll-Messe sind dabei lediglich die späten Spitzenwerke dieses ambitionierten Schaffenskonzeptes. Viele andere gehen ihnen voraus: Die Kunst des instrumentalen Konzertierens („Brandenburgische Konzerte“), die Kunst des Solospiels für Violine und Cello (Suiten), die Kunst des Orgelchorals („Orgelbüchlein“), die Kunst der vokal-instrumentalen Choralbearbeitung (der Jahrgang der Choralkantaten als Bachs insgesamt umfangreichstes zyklisches Werk). Schließlich ist kein Komponist bekannt, der Musik und Theologie so konsequent ineinander integriert hat, indem er schlichtweg alle musikalischen Möglichkeiten (Figuren, Affekte, Proportionen) zur Übersetzung des jeweiligen Textes heranzog, so dass die verkündigende Qualität seiner Werke nichts an der Musik ist, sondern die musikalische Qualität selbst, etwa wenn er in einer Kantate („Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“) die Bereiche der „Trübsal“ und des „Reiches Gottes“ durch das gleichzeitige (!) Erklingen von Dur und Moll vergegenwärtigt.
Aufschlussreich im Bach-Jahr 2000 könnten konzertante und liturgische Aufführungskonzepte unter der Devise „Bach und …“ werden. Obwohl Bachs Reichtum sich durch wiederholte Beschäftigung tiefer erschließen kann, droht sein Profil durch allzu häufige Wiederholung auch wiederum zu verflachen. Gerade durch Konfrontation könnte es aber schärfere Konturen gewinnen: Bach und die musikalische Tradition, die er studiert und sich angeeignet hat (z. B. Palestrina); Bach und seine Zeitgenossen (mit denen er regen Austausch pflegte); Bach und seine Schüler (darunter bekanntlich einige seiner Söhne); Bach und die Komponisten des 20. Jahrhunderts, die sich produktiv mit ihm auseinander setzten (vor allem die Zweite Wiener Schule mit Schönberg, Berg und Webern, aber auch Bach und die Avantgarde). Solche neuen Aufführungskontexte als Alternative zur ritualisierten Wiederholung der Hauptwerke („Alle Jahre wieder“ das Weihnachtsoratorium und zumindest eine der Passionen) sowie dem immer mehr favorisierten „Crossover“-Mix (Klassik, Jazz und Buschtrommel) sind Bach und seinen Hörern im Jubiläumsjahr zu wünschen! Auch in punkto Aufführungspraxis scheinen sich inzwischen – nach einer Phase der Polarisierung – Integrationen anzudeuten. Die „Alte-Musik-Szene“ öffnet sich älteren Fragestellungen wie etwa der nach der Architektonik Bachscher Großwerke, während die Erkenntnisse sorgfältigen Quellenstudiums und eine wortbezogen artikulierte Deklamation auch in die bürgerliche Bach-Pflege Einzug gehalten haben. „Klar, doch unerklärbar“ – das berühmte Urteil Carl Friedrich Zelters über Bach wird auch im Bach-Jahr 2000 Gültigkeit behalten.