HK: Herr Professor Sayer, anlässlich der Eröffnung der diesjährigen Misereor-Fastenaktion hat Bischof Kamphaus geklagt, in der wirtschaftlichen Globalisierung seien wir Riesen, in der Globalisierung der Solidarität aber Zwerge. Entsprechend standen die globale Verantwortung, der Aufbau und die Gestaltung einer globalen Verantwortungsgemeinschaft im Zentrum der Aktion. Wie und wo zuerst sollten die Zwerge zum Wachsen gebracht werden?
Sayer: Das Leitwort, unter dem die diesjährige Fastenaktion Misereors an der Jahrtausendwende stand, hieß: Jetzt ist die Zeit – gemeinsam anders handeln. Die zentrale Herausforderung für dieses Gemeinsam-Anders-Handeln, das uns über die Fastenzeit hinaus bewegt, ist ein Prozess der Globalisierung, in der jede Kultur und jede der weltweit etwa 3500 Ethnien ihr Lebensrecht, ihr Recht auf eine eigene Identität bewahren kann. Nachdem sich die erste Hoffnung auf eine weltweite Friedensphase nach dem Ost-West-Konflikt zerschlagen hat, sind wir in vielen Regionen der Erde mit ethnischen Konflikten konfrontiert. Dass diese Ethnien zu einem neuen Umgang miteinander finden, wird immer mehr zu einer Hauptaufgabe der globalen Verantwortungsgemeinschaft. Globale Verantwortung kann ja nicht nur bedeuten, einer ökonomischen Globalisierung Tor und Tür zu öffnen.
HK: Wie lässt sich dieses hohe Ziel in der konkrete Projektarbeit von Misereor umsetzen?
Sayer: Konfliktbearbeitung und Friedensförderung, die ohnehin schon Schwerpunkte unserer Projektförderung in Afrika, Asien und Lateinamerika sind, müssen gezielt gestärkt werden. Das bedeutet beispielsweise im Fall Kolumbiens, dass wir dort Projekte unterstützen, die der Verständigung dienen und unsere Partner für den politischen Dialog qualifizieren. Dabei steht Misereor in intensivem Austausch mit der kolumbianischen Bischofskonferenz, aber auch mit verschiedenen anderen Gruppen, die Verantwortungsträger für den Aufbau einer Zivilgesellschaft sein können. Bei der Guerilla, den Militärs und Paramilitärs ist der Wille zum Frieden sehr bescheiden, denn mit dem Frieden droht ihnen Machtverlust. Das Volk aber, das in Kolumbien zwischen den Fronten steht, will Frieden, hat längst genug von der Gewalt. Jüngst haben 15000 Campesinos, Kleinbauern und Landarbeiter, für den Frieden demonstriert. Sie ergreifen die Initiative und werden darin von Misereor unterstützt.
HK: Eine Vielzahl der jüngeren ethnischen Konflikte wurden, oftmals recht vordergründig, als religiöse Unruhen und Spannungen charakterisiert. Hat da ein weltanschaulich so eindeutig identifizierbares Hilfswerk wie Misereor nicht große Probleme, konfliktmindernd und friedensfördernd zu wirken?
Sayer: Zunächst einmal kommen wir in akuten Konflikten nicht plötzlich von außen eingeflogen, sondern sind über unsere Partner meist lange zuvor präsent. Nehmen Sie das Beispiel Indonesien, wo wir, lange bevor die Konflikte auf einzelnen Inseln eskalierten, Projekte förderten. Zudem haben beispielsweise der Bischof von Ambon und unsere Partner vor Ort mehrfach glaubwürdig versichert, dass es sich nicht um einen religiösen, sondern um einen sozialen und politischen Konflikt handelt. Dieser wurde durch Militärs geschürt, die sich im Staat unersetzbar machen und sich nach außen als Friedensmacht darstellen wollen. Unter unseren Partnern in Indonesien aber sind beispielsweise auch Muslime. Misereor ist sehr weise und vorausschauend gegründet worden mit der Zielrichtung, den Kampf gegen die Armut ohne Ansehen der Rasse, des Geschlechts und auch ohne Ansehen der Religion zu führen. Das gibt uns die Möglichkeit, in jedem einzelnen Fall zu prüfen, was zu sozialem Ausgleich zwischen verschiedenen Ethnien und damit zu einem Friedensdialog beitragen kann.
HK: Wie lässt sich etwa im konkreten Fall Indonesien dann vermeiden, dass die anderen Religions- und Bevölkerungsgruppen das Engagement Misereors doch missverstehen?
Sayer:. Wir achten bei der Förderung von Projekten zum Beispiel darauf, dass gegenüber dem mehrheitlich katholischen chinesischen Bevölkerungsanteil Neid und Missgunst nicht noch mehr wachsen. Entstünde der Eindruck, wir förderten nur Katholiken, würde dies den Konflikt noch einmal verstärken.
HK: Die Gleichung: Entwicklungspolitik ist Friedenspolitik gehört heute zu den Selbstverständlichkeiten unter allen einschlägig Interessierten und Engagierten. Wurde in der Entwicklungszusammenarbeit dieser Aspekt bislang zuwenig berücksichtigt, war man zu lange nur auf wirtschaftliche Wachstumsraten fixiert?
Sayer: Nicht alle Entwicklungszusammenarbeit muss per se schon Friedenspolitik sein. Wenn zum Beispiel Projekte gefördert wurden, die nur einer kleinen wohlhabenden Gruppe eines armen Landes zugute kamen, wenn nur die eine Region gefördert und eine andere ganz außer Acht gelassen wird, werden neue Spannungen aufgebaut. Wo im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit riesige Staudämme oder Industrieanlagen gebaut und dafür ganze Regionen zerstört wurden, war dies schwerlich Friedenspolitik. Es muss immer unterschieden werden, worauf Entwicklungszusammenarbeit zielt, ob sie soziale Spannungen ausgleichen will und Regionen wirtschaftlich so entwickeln kann, dass diese in das Sozialgefüge eines Landes integriert werden können. Armutsorientierte Entwicklungspolitik ist Friedenspolitik.
HK: Hinter dem von Bischof Kamphaus gezeichneten Bild der Riesen und Zwerge steht eine nüchterne Zahl: weltweit gibt es nach wie vor 1,5 Milliarden Menschen, die als absolut arm gelten, denen also auch das Allernotwendigste zum Leben fehlt...
Sayer: Das Bedrückende an dieser Zahl ist vor allem ihr Anstieg in den letzten Jahren, wie es der jüngste UN-Entwicklungsbericht dokumentiert. Die Kluft zwischen Arm und Reich verbreitert sich immer mehr. Die 225 reichsten Männer der Welt besitzen soviel wie 47 Prozent der Weltbevölkerung. Und angesichts solcher Zahlen fällt es mir schwer, den Schalmeien der freien Marktwirtschaft zu folgen. Die Erfahrung bei den Armen lehrt etwas anderes, die Globalisierung der Ökonomie führt zu immer mehr Ausgeschlossenen. Die Armen erfahren, dass sie nicht mehr notwendig sind. In einer globalisierten Wirtschaft zählen sie gar nicht mehr, auch nicht für ihre Regierungen. Von Globalisierung zu reden ist vor diesem Hintergrund eine Verfälschung. Ein Großteil der Weltbevölkerung kann gar nicht teilnehmen an diesem Markt. Dass ein freier Markt und ein freier Wettbewerb alles am besten richten werden, ist ein Trugschluss. Das lehrt das Geschick der Armen. Daher geht es darum, die hier in der Bundesrepublik errungene soziale Gestaltung der Marktwirtschaft zu exportieren und nicht darum, den Ländern Afrikas oder Lateinamerikas ein neoliberales Wirtschaftssystem aufzudrängen. Dieses wird die bislang ausgeschlossenen Gruppen und Sektoren nicht integrieren. Die Politik muss Rahmenordnungen schaffen und ihre Kompetenz der Weltgestaltung wieder wahrnehmen und nicht einfach alles dem Markt und der Wirtschaft überlassen.
HK: Muss sich dieser nüchterne Befund nicht zwangsläufig auch entmutigend und demotivierend auf alle weiteren entwicklungspolitischen Anstrengungen auswirken?
Sayer: In manchen Bereichen sind wir in der Entwicklungspolitik schon ein gutes Stück vorangekommen, etwa im Gesundheitssektor. Auch die Analphabetenquote konnte weltweit deutlich gesenkt werden. Wobei wiederum nicht übersehen werden darf, dass unter den rund 960 Millionen Analphabeten weltweit etwa 70 Prozent Frauen sind. Damit komme ich zu dem vorher Gesagten zurück: Auch die Frage der Gender-Gerechtigkeit kommt in der Diskussion über die Gestaltung des globalen Marktes erst gar nicht vor. Frauen aber sind von den Ausschlussmechanismen des Globalisierungsprozesses besonders betroffen. Außerdem richtet sich meine Sorge derzeit konkret auf die Reformpläne des Internationalen Währungsfonds. Endlich hat man jetzt erreicht, dass soziale Aufgaben und armutsbekämpfende Elemente in den Internationalen Währungsfonds hineingenommen werden. Nun sieht jedoch alles danach aus, dass dies auf Betreiben der USA hin wieder rückgängig gemacht wird. Die Bundesrepublik und die EU-Staaten müssen viel stärker gegen die einseitigen Interessen der USA zugunsten einer armutsbekämpfenden Perspektive eintreten.
„Wir tragen nicht einseitig für den Süden Verantwortung“
HK: Mit welchen Argumenten wollen Sie für den Aufbau oder die Gestaltung einer globalen Verantwortungsgemeinschaft werben? Interesse und Aufmerksamkeit für den Süden scheinen insgesamt gesunken, sieht man einmal ab von punktueller Betroffenheit bei Katastrophen wie jüngst in Mosambik.
Sayer: Globale Verantwortung bedeutet nicht, dass wir einseitig für den Süden Verantwortung tragen oder die Dritte Welt unsererseits entwickeln müssen. Es geht um den Aufbau einer wirklich globalen Verantwortungsgemeinschaft. Lassen Sie mich das anhand der Communio-Ekklesiologie erläutern. Der springende Punkt dieser Ekklesiologie des Zweiten Vatikanums ist, dass die Kirche verstanden wird als Gemeinschaft von einzelnen Ortskirchen, die alle füreinander Verantwortung tragen. Als kirchliches Hilfswerk setzen wir genau an diesem Punkt an. Die Ortskirchen hier in der Bundesrepublik tragen Verantwortung für die anderen Ortskirchen irgendwo in Asien, Afrika, Lateinamerika. Und umgekehrt tragen auch die Kirchen des Südens Verantwortung für uns. Dies ist mir vor allem in den siebzehn Jahren meiner Tätigkeit in Peru klar geworden. Die Kirche im Süden kann durchaus Verantwortung für die Kirche im Norden wahrnehmen und Entscheidendes beitragen. Übertragen auf den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich der Gesellschaft heißt diese Erkenntnis: Was im Norden geschieht, hat Auswirkungen auf den Süden und umgekehrt. Es kann nicht darum gehen, den Süden in Richtung des Nordens zu entwickeln, sondern darum, dass wir uns als interdependent verstehen und füreinander Verantwortung übernehmen.
HK: Es mag ein unausrottbares Missverständnis sein – aber ist der Impuls, der Süden braucht unsere Hilfe, bei den in den Gemeinden Engagierten nicht nach wie vor weitverbreitet?
Sayer: Die Gemeinden, die Partnerschaften mit dem Süden unterhalten, stehen vor der gleichen Schwierigkeit wie wir als kirchliches Hilfswerk. Es ist sehr schwer, die einseitige Position, wir helfen den anderen, zu verlassen. Wir müssen uns als Christen gefallen lassen, dass auch die Kirche im Süden für uns verantwortlich ist, und unsere nachhaltige Verwiesenheit auf den Süden beziehungsweise die Abhängigkeit vom Süden anerkennen. Die Option für die Armen ist eben keine einseitige Fürsorge-Option in dem Sinne, dass sich lediglich Reiche um Arme kümmern sollen. Diese Option ist vielmehr von Gott in Jesus Christus getroffen. Gott hat in Jesus Christus die Armen als Ort seiner Inkarnation gewählt und damit den Armen eine einmalige Würde verliehen und in einmaliger Weise Subjekthaftigkeit zugesprochen. Gott hat sich nicht etwa zu den Armen lediglich hinabgebeugt, sondern ist einer von ihnen geworden. Von der Option für die Armen zu sprechen, heißt folglich, diese Option Gottes zu übernehmen. Wo dies realisiert wird, entsteht ein neues Gleichgewicht: Nicht wir tun etwas für die Armen, sondern Gott ist präsent in den Armen. Wir begegnen Gott in ihnen und diese anerkennen uns als ihre Geschwister. Das hat dann auch Folgen für das Verhalten im ökonomischen Bereich. Wer sich zu der vorrangigen Option Gottes in Jesus für die Armen bekennt, kann sich mit dem Grundskandal der heutigen Menschheit, der skandalösen Kluft zwischen Arm und Reich, nicht abfinden.
HK: Die Option für die Armen ist die Schlüsselkategorie für das bischöfliche Hilfswerk Misereor – wie setzt es diese Interpretation in seiner konkreten Projektarbeit um?
Sayer: Wir haben in jedem Entwicklungsprozess, bei jedem konkreten Projekt zu prüfen, ob die Armen in ihrer Würde und ihrer besonderen Subjekthaftigkeit respektiert werden. Identität und Eigenkräfte der Armen müssen in einer Weise zum Tragen kommen, dass die Projekte stets Projekte der Armen selbst sind und bleiben. Immer wieder müssen wir uns fragen, ob wir ausreichend erkannt haben, dass die Armen selbst befähigt sind, ihre Welt und damit die gemeinsame Welt zu gestalten. Nur dann ist unser Tun Wertschätzung Christi in den Armen und keine Befriedigung des schlechten Gewissens. Nur dann sind wir fähig, von den Armen zu lernen. Die Rede von der Partnerschaftlichkeit ist dann echt, und unser Anspruch, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, verliert den ihm innewohnenden paternalistischen Zug. Arme werden zu Mitgestaltern der einen Welt und Mitwelt und wir erkennen, dass wir und die künftigen Generationen darin von ihnen abhängig sind. Beide Seiten stehen in der einen globalen Verantwortungsgemeinschaft.
HK: Zumindest ein Teil derer, die jährlich für Misereor spenden, wird dies jedoch nach wir vor mit der Motivation tun, schlicht helfen zu wollen...
Sayer: Hier muss ich ein Missverständnis unserer Arbeit klären: Was wir bei Misereor tun, ist eigentlich das, was Sache der Diözesen, der Gemeinden und des einzelnen Christen in Nord und Süd ist, nämlich das „misereor“ Jesu Christi weiterzutragen. Es ist Christi „Erbarmen“, das Gerechtigkeit und ein menschenwürdiges Dasein für alle schaffen will. Misereor unterstützt Diözesen und Gemeinden bei der Bewältigung dieser ihrer ureigenen weltkirchlichen Aufgabe. Wir sind als Institution der Bischofskonferenz hierbei Dienstleister für die Gemeinden. Deshalb bleibt die Aussage, etwas für Misereor tun, oder, für Misereor spenden, missverständlich. Misereor leistet einen Dienst und Mithilfe, um die von Jesus Christus an alle übertragene Aufgabe zu realisieren, nämlich Erbarmen in Gerechtigkeit umzusetzen.
„An armutsorientierter Entwicklungszusammenarbeit darf nicht gespart werden“
HK: Wie steht es um diese weltkirchliche Verantwortungsbereitschaft in unseren Gemeinden? Oft scheinen diese mit sich selbst, den pastoralen und diakonalen Aufgaben hier bei uns genug zu tun zu haben.
Sayer: Ich sehe keinen Anlass für Pessimismus, weder was die Gemeinden, noch die Gesellschaft allgemein betrifft. Die Zahl der Partnergemeinden im Norden wie im Süden beispielsweise nimmt stetig zu. Der Kampagne „Erlassjahr 2000“ für eine umfassende Entschuldung der ärmsten Länder haben sich in der Bundesrepublik zuletzt 1800 Organisationen angeschlossen. Das Anliegen des von uns unterstützten „Global March“, mit dem auch verschiedene Nichtregierungsorganisationen auf das Problem der Kinderarbeit aufmerksam machten, haben sich 50 deutsche Städte und letztlich 500000 Schüler und Schülerinnen sowie ihre Lehrer und Lehrerinnen zu eigen gemacht. Oder sehen Sie den enormen Erfolg und die Verbreitung der Anti-Landminenkampagne. Misereor macht auch sehr gute Erfahrungen mit seiner „Hungermarschbewegung“, gerade was die Resonanz an deutschen Schulen und in Pfarreien betrifft. Die Nord-Süd-Solidarität ist sehr viel stärker ausgeprägt als allgemein angenommen. Allerdings ist bei unseren Spendern die Altersgruppe zwischen 25 und 40 Jahren schwer zu erreichen. Davon allein würde ich aber noch nicht ableiten, dass es kein ausgeprägtes Bewusstsein für die Belange des Süden gäbe.
HK: Zu den Aufgaben von Misereor gehört auch die politische Lobbyarbeit. Nimmt man nur die nüchternen Zahlen zum Indikator, wird diese Arbeit immer mühsamer. In allen OECD-Staaten wurden die Entwicklungshilfe-Budgets drastisch gekürzt, auch in Deutschland. Anlässlich des 20. Jahrestages der Veröffentlichung des sogenannten „Brandt-Berichts“ – dem Abschlussbericht der vom damaligen deutschen Bundeskanzler geleiteten internationalen Nord-Süd-Kommission – haben vor wenigen Wochen Entwicklungspolitiker und Experten eine düstere Bilanz über die entwicklungspolitischen Anstrengungen der vergangenen Dekaden gezogen. Ihr Fazit: Es fehlt vor allem am politischen Willen. Wie wollen Sie die Politik zu einer Kursänderung bewegen?
Sayer: Dass nicht genügend politischer Wille zur Umsetzung des Erkannten vorhanden ist, möchte ich voll unterstreichen. Unsere Botschaft an die Politik kann nur lauten, Entwicklungszusammenarbeit ist so wichtig, weil sie zukunftssichernd ist und einen Politikbereich darstellt, der auch für die künftigen Generationen entscheidende Auswirkungen hat. Das hohe Gewicht, den der Brandt-Bericht der Entwicklungspolitik bescheinigt hat, haben die großen Weltkonferenzen, vom UN-Umweltgipfel 1992 in Rio bis zum Sozialgipfel 1995 in Kopenhagen bestätigt. Die dabei immer wieder bekräftigte Formel, das Aufkommen für die Entwicklungszusammenarbeit müsse 0,7 Prozent des Volkseinkommens betragen, haben auch alle Regierungen in Deutschland in ihre politische Rhetorik übernommen. Also müssen sie sich auch von uns an dieser Maßgabe messen lassen. Seit Jahren aber liegt das Aufkommen in Deutschland unter 0,3 Prozent. Wenn die jetzige rot-grüne Regierung den Haushaltsetat des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit in dem geplanten Maße absenkt, steht dies auch in krassem Widerspruch zu ihrer Zusage, im Sparprogramm sollen zukunftsorientierte Maßnahmen ausgenommen bleiben. An armutsorientierter Entwicklungszusammenarbeit, die friedensstiftend angelegt ist, darf daher nicht gespart werden.
HK: Angesichts sehr weitgehender und vielversprechender Aussagen in den rot-grünen Koalitionsvereinbarungen, waren Entwicklungsexperten und einschlägig engagierte Nichtregierungsorganisationen anfangs recht optimistisch, was ihre politische Lobbyarbeit zugunsten des Südens betrifft...
Sayer: Wir unterstützen ausdrücklich die Schwerpunktsetzung der neuen Regierung, Entwicklungspolitik als globale Strukturpolitik zu gestalten. Im Rahmen dieses Konzeptes setzt sich Bundesministerin Wieczorek-Zeul auch sehr positiv für die Entschuldung der ärmsten Länder ein. Unsere Aufgabe ist es, diese positiven Ansätze und Prozesse zu fördern, indem wir auch helfen, ein bestimmtes öffentliches Klima herzustellen, in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein für Entwicklungsbelange zu schaffen. Es reicht nicht, Regierung und Parteien zu kritisieren, wenngleich Politiker oft viel zu scheu sind und manchem wahltaktisch nach dem Munde reden. Ich vermisse bei ihnen politische Bewusstseinsbildung. Einsichten, wie sie der Brandt-Bericht formuliert hat, finden sich ja in allen Parteiprogrammen. Die Parteien sollten dann aber sehr viel offensiver für diese politischen Anliegen in der Bevölkerung werben, so wie dies auch die Kirchen tun müssen.
HK: Bislang haben Kirchen und Staat in entwicklungspolitischen Belangen bei aller Kritik eng und in wechselseitiger Wertschätzung zusammengearbeitet. Nun mussten auch die Kirchen kämpfen, um eine drastische Absenkung der staatlichen Mittel für ihre entwicklungspolitische Arbeit zu verhindern. Befürchten Sie ein baldiges Ende der guten Zusammenarbeit?
Sayer: Die Zusammenarbeit zwischen Misereor und dem Staat, beziehungsweise den Kirchen und dem Staat im Bereich Entwicklungszusammenarbeit wird sich auch in den nächsten Jahren fruchtbar gestalten lassen. Denn von Seiten des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit, des Außenministeriums oder auch einzelner Parteienvertreter besteht weiterhin großes Interesse an der Zusammenarbeit mit uns, weil wir als kirchliches Hilfswerk über ein sehr breites Partnernetz im Süden verfügen. Als kirchliche Organisationen gelangen wir über das Netz der Ortskirchen bis in die hintersten Winkel. Oft leisten wir auch Arbeit, die staatliche Stellen erst gar nicht übernehmen könnten, etwa in Projekten, die den Dialog zwischen Christen und Muslimen in Afrika fördern. Unsererseits wird der nächste Schritt dabei eine noch stärkere Vernetzung der Partner im Süden untereinander sein, sei dies innerhalb eines Kontinentes oder auch über Kontinente hinweg.
„Von der Zivilgesellschaft her den demokratischen Prozess vorantreiben“
HK: Mit der strikten Partnerorientierung oder der Zielsetzung, Hilfe zur Selbsthilfe leisten zu wollen, hat die kirchliche Entwicklungszusammenarbeit, hat Misereor wichtige Maßstäbe und Impulse gesetzt. Sehr früh wurde beispielsweise auch der ökologischer Aspekt in die Arbeit integriert. Welche Schwerpunkte wird die künftige Misereor-Arbeit neben Konfliktbearbeitung und Dialogförderung haben? Und welche Impulse können Sie damit der entwicklungspolitischen Diskussion insgesamt geben?
Sayer: Ein besonderes Augenmerk werden wir sicherlich auf Aufbau und Förderung der Zivilgesellschaft in den Partnerländern legen. Dies war schon der entscheidende Faktor in unserem Engagement für die Entschuldungskampagne. Denn wenn im Süden keine Zivilgesellschaft vorhanden ist, kann auch die Entschuldung der ärmsten Länder nicht sinnvoll gestaltet werden im Sinne einer armutsbekämpfenden Strategie. Wenn wir uns für die Erlassjahrkampagne einsetzen, geht es nicht darum, das einfach nur Schulden erlassen werden. Grundsätzlich müssen Schulden bezahlt werden. Anders verhält es sich aber, wenn Schulden unmoralisch sind, weil die Kredite aufgenommen wurden ohne Rücksicht auf die Entwicklung der armen Bevölkerung, diese jetzt aber die Schulden zurückzahlen muss. Umgekehrt muss die Entschuldung der Entwicklung der Armen dienen und darf nicht korrupte Eliten entlasten oder unverantwortliches Handeln nachträglich belohnen.
HK: Wie erfolgreich war die Entschuldungskampagne bislang mit ihrem Anliegen? Beim Wirtschaftsgipfel der G7/G8-Staaten im Juni letzten Jahres in Köln verkündete der Bundeskanzler nicht nur den Beschluss einer weitreichenden Entschuldung der als besonders verschuldet definierten Länder; er erklärte auch, es handle sich dabei um Geld, das ohnehin schon abgeschrieben sei. Andere befürchten, die Gläubigerstaaten würden das bei der Entschuldung verlorene Geld durch weitere Einsparungen in ihren entwicklungspolitischen Etats kompensieren...
Sayer: Uns geht es nicht darum, dass die im Pariser Club zusammengeschlossenen Gläubiger mit der Regierung eines Landes über einen Schuldenerlass verhandeln. Für uns dient die Kampagne vor allem der Förderung der Demokratie und der Stärkung der Zivilgesellschaft in den betroffenen Ländern. Ein gutes Beispiel hierfür ist Bolivien, das in die sogenannte HIPC-Initiative fällt, der Entschuldungsinitiative für besonders hochverschuldete Länder. Die katholische Kirche hat die verschiedenen Gruppen in Bolivien zusammengerufen und über hundert Foren auf mehreren Ebenen wurden durchgeführt. Schließlich gab es auch auf Departementebene solche Foren. Denen folgte ein nationales Forum im April. Im Laufe dieses Prozesses werden die Interessen der Armen artikuliert und aus ihrer Perspektive wird während eines „nationalen Dialogs“ im Juni zusammen mit dem Staat ein Entwicklungsplan erarbeitet. Das Ziel ist also längst nicht mehr nur die Entschuldung. Vielmehr gilt es nun, von der Zivilgesellschaft her den demokratischen Prozess voranzutreiben und ihre Wächterfunktion der Regierung gegenüber zu stärken – damit die Korruption staatlicher Stellen endlich zurückgedrängt und das Staatsbudget nicht weiter verschwendet wird und so die sozialen Komponenten, die Armutsbekämpfung zu kurz kommen. So gesehen ist der Aufbau von Zivilgesellschaften eine Grundherausforderung für Misereor in den nächsten Jahren. Damit lässt sich Hoffnung strukturell absichern, die Hoffnung auf eine Entwicklung, die den Armen zugute kommt.
HK: Anders leben, damit andere leben können, lautete bereits Ende der siebziger Jahre ein eindrückliches Leitwort der Misereor-Fastenaktion. Wie „erfolgreich“ war Misereor mit seiner seitdem vielfach wiederholten Mahnung, dass weltweite Solidarität auch Veränderungen in den hochentwickelten Ländern voraussetzt, Umdenken und Umlernen auch hier bei uns einschließt?
Sayer: Dieses Anders-Leben hat zwei Seiten: Durch ein Anders-Leben lässt sich auf der einen Seite etwas einsparen. Die freien Mittel können dann für die Entwicklung des Südens gegeben werden. Anders-Leben lässt sich aber auch so verstehen, dass wir uns besinnen auf ein Gehaltvoller-Leben statt eines Immer-mehr-Haben. Das heißt wahrnehmen, dass bescheidener leben nicht gleichzeitig bedeutet, unzufriedener zu sein. Misereor ist ja auch Fastenaktion und Fasten heißt ja nicht, einfach abnehmen oder den Körper entschlacken. Fasten meint die Suche nach einer spirituellen Mitte, aus der heraus das Leben mit anderen und die Gestaltung einer gerechten Welt gelingen kann. Grundsätzlich lässt sich in diesem Sinne ein Bewusstseinswandel in Teilen der deutschen Bevölkerung feststellen. Anders leben wird gerade in vielen Gemeinden schon lange nicht mehr nur als Verpflichtung zum Müllsortieren verstanden. Bestimmte Lebensqualitäten lassen sich dabei auch im Kontakt mit dem Süden entdecken oder wiederfinden: Grundlegend etwa der Wert eines Lebens in Gemeinschaft, aber auch die identitätsstiftende Funktion von Festen oder das Vertrauen in Solidaritätsstrukturen.