Ergebnisse der Hirnforschung im Licht von Philosophie und TheologieLebensprinzip des Organismus

Vor zehn Jahren wurde in den USA die „Dekade des Gehirns“ ausgerufen. Die Hirnforschung hat in der Folge tatsächlich Resultate erbracht, die manche Annahmen über den Menschen hinfällig werden lassen (vgl. auch HK, Mai 1999, 264–267). Josef Quitterer, Assistent am Institut für Christliche Philosophie der Universität Innsbruck, diskutiert die neurophysiologischen Erkenntnisse aus philosophisch-theologischer Perspektive.

Hat die Gehirnforschung überhaupt Implikationen für Philosophie und Theologie? Dass diese Frage in Bezug auf die Philosophie nicht trivial ist, ergibt sich aus dem klassischen Selbstverständnis der Philosophie als einer Disziplin, die sich mit Fragen beschäftigt, die vor jeder empirischen Wissenschaft liegen. Warum sollte sich die Philosophie, deren Gegenstand unter anderem die Bedingungen der Möglichkeit jeder empirischen Erkenntnis sind, mit den zeitbedingten Erkenntnissen empirischer Wissenschaften wie der Gehirnforschung beschäftigen? Ähnliches gilt für die Theologie. Eine Haltung, wie sie Gerhard Roth im Buch von Caspar Söling „Das Gehirn-Seele-Problem“ (Paderborn 1995, XI f.) schildert, ist unter Theologen sicher keine Seltenheit: „,Was Sie als Hirnforscher zum Verhältnis von Gehirn und Geist gesagt haben, kann ich als Theologe voll akzeptieren! Allerdings bleibt das Eigentliche der Seele davon ganz unberührt‘. ,Seele‘ wird von den Theologen dabei als das ,ganz Jenseitige, Andere‘ beschrieben, das was naturwissenschaftlich grundsätzlich nicht erklärbar ist.“

Die Immunisierungsstrategie ist kontraproduktiv

Die Themen Selbst, Bewusstsein, Geist, Seele etc. waren auch bis vor kurzem tatsächlich für naturwissenschaftliche Erklärungen tabu. Philosophen und Theologen blieben weitgehend ungestört, wenn sie im Rekurs auf derartige Phänomene die Einzigartigkeit der menschlichen Person rechtfertigten. Zumindest was die Philosophie angeht, hat sich diese Situation grundlegend geändert. Spätestens seit den Arbeiten des Philosophen Willard v. O. Quine ist das Selbstverständnis der Philosophie als Wissenschaft von den apriori gültigen Wahrheiten grundlegend erschüttert. Ebenso wie die Theoriensysteme empirischer Wissenschaften haben sich nach Quine auch philosophische Systeme der Frage zu stellen, ob sie der Gesamtheit unseres Erfahrungsmaterials gerecht werden oder nicht. Dementsprechend sind auch die Gegenstände philosophischer Überlegungen nicht mehr tabu für empirisch-wissenschaftliche Zugänge. Der Begriff „Naturalismus“ steht für aktuelle Bestrebungen im Bereich der Philosophie, der menschlichen Person und den ihr eigentümlichen Fähigkeiten die Sonderstellung abzusprechen und sie wie natürliche Phänomene zu behandeln, das heißt wie solche, die den Methoden der positiven wissenschaftlichen Forschung zugänglich sind (vgl. Josef Quitterer und Edmund Runggaldier [Hg.]: Der Neue Naturalismus, Stuttgart 1999). Aber auch für die Theologie erweist sich die Immunisierungsstrategie auf lange Sicht als kontraproduktiv. Dies gilt zum einen schon deshalb, weil die menschliche Seele auch in der Tradition der Kirche nicht notwendigerweise als etwas angesehen wurde, was völlig außerhalb der natürlichen Phänomene anzusiedeln wäre. So erfährt der christliche Seelenbegriff seine wesentliche Bestimmung aus der aristotelischthomistischen Tradition, wonach die Seele als Lebensprinzip eines lebendigen Organismus angesehen wird. Der christliche Seelenbegriff ist also von seinem Selbstverständnis her nicht schon von vorneherein jeder biologisch-naturwissenschaftlichen Zugangsweise entzogen. Darüber hinaus ist die Kirche gerade in den aktuellen Diskussionen im Zusammenhang mit Hirntod, Organspende, Gentechnik etc. gefordert, Stellung zu beziehen. Theologie und Philosophie sehen sich mit der Tatsache konfrontiert, dass empirische Wissenschaften heute Antworten auf Fragen geben, die früher in ihren Kompetenzbereich fielen. Nach der Auffassung des Molekularbiologen Francis Crick ist die Bilanz von Philosophie und Theologie nach zweitausend Jahren der Beschäftigung mit dem Leib-Seele-Problem so armselig, dass sie jede Glaubwürdigkeit verspielt hätten und jetzt das Feld zugunsten der Neurophysiologie räumen müssten (Francis Crick: Was die Seele wirklich ist? Die naturwissenschaftliche Erforschung des Bewusstseins, München 1994).

Ermutigt durch die Erfolge von Neurowissenschaft, der Erforschung Künstlicher Intelligenz und empirischer Psychologie stoßen die positiven Wissenschaften in jene Bereiche vor, die bisher der Philosophie und Theologie vorbehalten waren. Das Phänomen des menschlichen Bewusstseins wird als eine der letzten wissenschaftlichen Herausforderungen gesehen. Diese Zielsetzung hat zu einer bisher nicht gekannten interdisziplinären Zusammenarbeit im Bereich der positiven Wissenschaften geführt. Der Begriff „Kognitionswissenschaft“ wird in diesem Zusammenhang häufig als Oberbegriff für verschiedene Disziplinen verwendet, die sich zu einer großen Koalition zusammengeschlossen hätten, um gemeinsam das „Mysterium“ des Bewusstseins und der menschlichen Person zu entschlüsseln.

Die Erfolge der Computerwissenschaft beim Bau immer schnellerer und intelligenterer Systeme haben dazu geführt, ihre Art der Informationsverarbeitung als das grundlegende Erklärungsmodell des menschlichen Geistes anzusehen (vgl. Allen Newell und Herbert A. Simon: Human Problem Solving, Englewood Cliffs 1972). Gleichzeitig liefert die Neurophysiologie neue Einsichten zur Informationsweitergabe im Gehirn, angefangen vom Neuron bis zu größeren Neuronenverbänden, die unser kognitives Verhalten steuern (vgl. dazu u. a. Andy Clark: Stairway to the Mind. The Controversial New Science of Consciousness, New York 1995). Daneben gelingt eine immer präzisere Bestimmung der neuronalen Grundlagen bestimmter geistiger Fähigkeiten durch die Analyse von Gehirnschädigungen mittels neuartiger Messverfahren. Die empirische Psychologie bringt in das Unternehmen Kognitionswissenschaft laufend neue Erkenntnisse über das Zustandekommen menschlicher kognitiver Fähigkeiten wie Sprachverstehen oder visuelle Wahrnehmung ein.

Eine Fülle neuer neurophysiologischer Einsichten

Natürlich ist auch die Philosophie an den interdisziplinären Anstrengungen zur Erforschung des Bewusstseins beteiligt. Unter dem Oberbegriff „Philosophy of Mind“ werden seit drei Jahrzehnten in zahllosen Publikationen zum einen die verschiedenen Bewusstseinsphänomene und die damit zusammenhängenden Erklärungsprobleme diskutiert; zum anderen werden darin die methodischen und wissenschaftstheoretischen Grundlagen der kognitiven Wissenschaften selbst untersucht (Einen guten Überblick über die wichtigsten Positionen im Bereich der Philosophie des Geistes bieten Godehard Brüntrup: Das Leib-Seele-Problem. Eine Einführung, Stuttgart 1996, und Ansgar Beckermann: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Berlin 1999).

Zum Verhältnis der Philosophie zu den empirisch vorgehenden Kognitionswissenschaften ist jedoch anzumerken: Bewusstseinsphänomene sind für die Kognitionswissenschaften deshalb von Interesse, weil sie bei der Erklärung des Verhaltens intelligenter Systeme eine entscheidende Rolle als Erklärungsbedingungen spielen. Philosophische Theorien über das Wesen und die Natur des Mentalen sind für die kognitiven Wissenschaften also nur so weit relevant, als sie Gründe für den großen Erfolg der Annahme von Bewusstseinszuständen als Erklärungsbedingungen bei der Prognose und Erklärung des Verhaltens von intelligenten Systemen liefern. Umgekehrt sind neurophysiologische Befunde für die Philosophie nur so weit von Bedeutung als sie Aufschluss über das Explanandum „menschliches Bewusstsein“ liefern. Die Frage, inwieweit die Neurophysiologie das menschliche Bewusstsein erklären kann oder nicht, ist somit eine philosophische und keine neurophysiologische Frage. Vor diesem Hintergrund betreffen die meisten wissenschaftlichen Erkenntnisse der Gehirnforschungen zunächst jene hochgesteckten Erwartungen, die von Seiten der Philosophie – vor allem des philosophischen Naturalismus – an sie gestellt wurden. Als Beispiel hierfür sei nur auf die philosophische Auffassung der Identitätstheorie verwiesen, die in den fünfziger und sechziger Jahren die Diskussion in der analytischen Philosophie des Geistes beherrschte und dabei an die anfänglichen Erfolge der Gehirnforschung anknüpfte. Nach dieser Auffassung ist jeder geistige Zustand einer bestimmten Art – zum Beispiel der Absicht, morgen Fasan zu essen – immer identisch mit einem neurophysiologischen Geschehen einer bestimmten Art. Die Absicht, morgen Fasan zu essen, wäre demnach in allen Menschen identisch mit der Aktivierung einer bestimmten Art von „C-Fasern“ (David Lewis: Die Identität von Körper und Geist, Frankfurt 1989). Dem Einwand, bisher sei der Nachweis derartiger Identitätsbeziehungen zwischen Geistigem und Physikalischem in der Wissenschaft noch nicht gelungen, begegnete man mit dem Hinweis auf die prinzipielle Möglichkeit eines derartigen Nachweises in einer künftigen (verbesserten) Neurowissenschaft.

Paradoxerweise hat jedoch die von der Philosophie in Anspruch genommene künftige Neurowissenschaft genau das Gegenteil des prognostizierten Resultats erbracht. So wurde vor allem in jüngeren Untersuchungen an Schlaganfall-Patienten deutlich, dass bestimmte mentale Fähigkeiten (wie z. B. die Sprachverarbeitung) nicht notwendigerweise an ein ganz bestimmtes Areal oder eine ganz bestimmte Population von Nervenzellen gekoppelt sind. Statt von einer strengen Zuordnung bestimmter geistiger Fähigkeiten zu bestimmten neuronalen Strukturen spricht man von „neuronaler Plastizität“. Das heißt, nach dem Schlaganfall können gesunde Hirnzellen allmählich die Funktion jener geschädigten Bereiche übernehmen, die für die betreffende mentale Fähigkeit „zuständig“ waren. Während die Gehirnforschung anfänglich noch von verschiedenen – voneinander relativ unabhängigen – autonomen Bereichen ausging, denen man bestimmte Phänomene im mentalen Bereich zuordnen kann (Phrenologie), führte vor allem der Einsatz neuer Messmethoden zu einer Revision dieser Vorstellung. Bei den Methoden, welche die Hirnforschung revolutionierten, handelt es sich um zwei bildgebende Verfahren – PET (Positronen-Emissions-Tomographie) und fMR (funktionelle Kernspintomographie). In beiden Verfahren bedient man sich des erhöhten Sauerstoff- bzw. Glukosebedarfs aktiver Neuronenverbände, um ein Bild der gesamten neuronalen Aktivität im Gehirn zu einem bestimmten Zeitpunkt zu gewinnen. Die Relevanz der Ergebnisse für die identitätstheoretischen Lösungsversuche des Leib-Seele-Problems, die man mittels dieser Verfahren gewinnen konnte, sind eindeutig: Eine bestimmte Art geistiger Zustände lässt sich nicht einer genau umschriebenen Gehirnregion zuordnen. Stattdessen kooperieren verschiedene Gehirnregionen miteinander, um parallel verarbeitend verschiedene Funktionen zu erfüllen.

In den letzten Jahren hat vor allem die von dem Philosophen David Chalmers ambitioniert vorgetragene Einteilung sämtlicher Bewusstseinsphänomene in sogenannte „easy problems“ und „hard problems“ den Anstrengungen zur Erforschung des menschlichen Bewusstseins neuen Schwung verliehen (The Conscious Mind. In Search of a Fundamental Theory, Oxford 1996). Chalmers unterscheidet zwischen jenen Bewusstseinsphänomenen, bei denen man eine positiv wissenschaftliche Erklärung erwarten kann und jenen, bei denen die positiven Wissenschaften auf prinzipielle Probleme stoßen. Zu den easy problems zählen alle mentalen Zustände, die durch Funktionen rekonstruierbar sind. Unter Funktion ist dabei ein kausales Schema gemeint, das durch neuronale Mechanismen realisiert ist. Ist man in der Lage, ein Phänomen, das für Bewusstsein typisch ist, in allen seinen kausalen Beziehungen zu beschreiben, und finden sich Mechanismen, die im Gehirn diese kausalen Beziehungen vollziehen, dann kann das betreffende Phänomen als reduziert beziehungsweise erklärt betrachtet werden. Zu den easy problems werden deshalb vor allem jene Bewusstseinsphänomene gerechnet, die eine relationale Struktur haben. Darunter fallen unter anderem die Fähigkeit des kognitiven Systems, die verschiedenen Aspekte des bewusst Wahrgenommenen zu integrieren (binding problem), die Fähigkeit zur Introspektion (die Eigenwahrnehmung der inneren Prozesse und Zustände durch das Subjekt), die autonome Beeinflussung der inneren Zustände durch das System (das Phänomen der menschlichen Freiheit) und interessanterweise auch die bewußt vollzogene Kontrolle des Verhaltens (absichtliches Handeln).

Aktualität der aristotelischen Seelenlehre

Im Gegensatz dazu betreffen die hard problems jene Bewusstseinsphänomene, deren wesentlicher Gehalt nicht-relational ist und deshalb funktional nicht rekonstruierbar zu sein scheint. So werden die sogenannten „Qualia“ meist als intrinsische Bewusstseinsphänomene verstanden, deren Wesen sich im subjektiven Erleben einer bestimmten Gefühlsqualität erschöpft. Gemeint ist dabei, wie es für jemanden ist (what it is like), zum Beispiel Schmerzen zu erleben oder bestimmte Farben zu sehen. Das Phänomen des subjektiven Erlebens wird deshalb heute von vielen Fachleuten als die entscheidende Herausforderung gesehen, der sich eine positiv-wissenschaftliche Erforschung des menschlichen Gehirns zu stellen hat. Die Anstrengungen, welche in diese Richtung unternommen werden, sind inzwischen auch Gegenstand der Diskussion im Bereich der christlichen Philosophie und Theologie (vgl. dazu Günter Rager [Hg.]: Das Ich und mein Gehirn. Persönliches Erleben, verantwortetes Handeln und objektive Wissenschaft, Freiburg 2000). Obwohl in der Neurowissenschaft noch keine Klärung des Problems der menschlichen Subjektivität in Sicht ist, gibt es in jüngster Zeit aufschlussreiche Befunde im Zusammenhang mit dem menschlichen Selbst, die die Revision zahlreicher überkommener Vorstellungen erzwingen und zu neuen Theorien führen. Eindeutig widerlegt ist inzwischen die Annahme einer lokalisierbaren Zentralinstanz im Gehirn, an der alle Informationen zusammenlaufen und die gleichsam als das neuronale Korrelat des menschlichen Selbst anzusehen wäre. Dies hat wiederum zu verschiedenen philosophischen Theorien geführt, wonach das menschliche Selbst letztlich ein bloßes Konstrukt oder eine erklärende Fiktion sei. Nach Daniel Dennett (Philosophie des menschlichen Bewusstseins, Hamburg 1994, Kap. 13) und Owen Flanagan (Consciousness reconsidered, Cambridge/Mass. 1992, Kap. 10) handelt es sich beim menschlichen Selbst um eine theoretische Entität, welcher lediglich die Funktion einer möglichst kohärenten Erklärung des Gesamtverhaltens des kognitiven Systems „Mensch“ zukommt.

Die neuesten neurobiologischen Erkenntnisse scheinen jedoch gegen eine derartige instrumentalistische Relativierung des Selbst zu sprechen. Für die Entstehung des menschlichen Selbst und des damit zusammenhängenden Phänomens des subjektiven Erlebens werden ganz konkrete neurobiologische Gegebenheiten in unserem Gehirn verantwortlich gemacht. Eine entscheidende Rolle für das Auftreten eines Selbst als einer Instanz, auf die alle Erlebnisse und Wahrnehmungen subjektiv bezogen werden, scheint dabei die somatosensorische beziehungsweise somatomotorische Darstellung (Repräsentation) des Körpers im Gehirn zu spielen. Die permanente Aktivierung einer Körperrepräsentation im Gehirn scheint einen wesentlichen Beitrag für die Entstehung des Phänomens der Subjektivität – des Gefühls, dass sämtliche Erlebnisse meine Erlebnisse sind – zu liefern. Diese Hypothese wurde nach meinem Kenntnisstand zum ersten Mal 1993 von dem deutschen Philosophen Thomas Metzinger in seinem Buch „Subjekt und Selbstmodell“ (Paderborn 1993, 160 ff.) formuliert. Metzinger beruft sich in seiner Darstellung auf die Thesen des US-amerikanischen Neurophysiologen Ronald Melzack, der zur Erklärung von Phantomschmerzen eine sogenannte Neuromatrix annimmt – eine permanente Repräsentation des Körpers im Gehirn durch ein neuronales Aktivierungsmuster. Nach Metzinger bildet diese neuronale Körperrepräsentation die neurobiologische Grundlage für das menschliche Selbst. Bei diesem Selbst handelt es sich jedoch letztlich um ein Modell, welches das System von sich selbst entwirft. Der Eindruck eines Selbst beziehungsweise eines Ichs als Zentrum, dem alle Geschehnisse subjektiv gegeben sind, entsteht nur, weil das System sich selbst mit diesem Selbstmodell „verwechselt“. Metzinger bezeichnet dies als „naiv-realistisches Selbstmissverständnis“ (257).

Auch der Neurobiologe Antonio Damasio (The Feeling of What Happens. Body and Emotion in the Making of Consciousness, New York 1999) zieht aus seinen empirischen Studien die Konsequenz, dass der Körper zum Bewusstsein mehr beisteuert als die grundlegenden Lebensfunktionen. Bei der empirischen Stützung dieser realistischen Auffassung eines neurobiologisch verankerten Ich- oder Selbst-Bewusstseins beruft er sich vor allem auf pathologische Fälle, in denen es zu Störungen oder Ausfällen des Ich-Bewusstseins kommt: Koma, Epilepsie, Akinetischer Mutismus, Alzheimer etc. Die neurobiologische Analyse dieser pathologischen Fälle legt nach Damasio eine Unterscheidung zwischen Kern-Bewusstsein und ausgedehntem Bewusstsein nahe. Auf einer ersten Ebene wird vom sogenannten „Kernselbst“ gesprochen. Dabei handelt es sich um jene Ebene, in welcher ein „Gefühl des Selbst“ erzeugt wird. Dieses Kern-Selbst bildet die Voraussetzung dafür, dass bestimmte Veränderungen des Organismus subjektiv erlebt werden können. Von diesem Kern-Bewusstsein unterscheidet Damasio das ausgedehnte Bewusstsein, in welchem das sogenannte autobiographische Selbst gebildet wird. Den verschiedenen Formen des Selbst lassen sich nach Damasio verschiedene Gehirnregionen zuordnen. Die verschiedenen pathologischen Fälle lassen darauf schließen, dass die neurophysiologischen Bedingungen für die grundlegende Form des Bewusstseins, für die Subjektivität unseres Erlebens, in den phylogenetisch älteren und den Körperfunktionen näherstehenden Bereichen des Gehirns anzusiedeln sind: Hirnstamm (Formatio reticularis), Cingulum, Thalamus und primärer sensorischer Cortex. Die phylogenetisch jüngeren Teile des Gehirns spielen eine wesentlich geringere Rolle bei der Realisierung dieser grundlegenden Form menschlicher Subjektivität. Die Tatsache, dass die angesprochenen Hirnregionen wesentlich bei der Steuerung und Repräsentation von Körperprozessen beteiligt sind, lässt nach Damasio auf einen direkten Zusammenhang zwischen dem subjektiven Erleben und der neuronalen Repräsentation und Steuerung der Körperfunktionen schließen. Das Kern-Bewusstsein ist nach Damasio unmittelbar mit der permanenten Repräsentation der grundlegenden Körperfunktionen verknüpft. Diese Repräsentation geschieht durch das sogenannte „Proto-Selbst“. Die Tatsache, dass die grundlegenden Regulationsmechanismen des Organismus relativ stabil sind, macht sie nach Damasio zur optimalen Grundlage für die im Ich-Bewusstsein vorausgesetzte Referenz auf dasselbe gleichbleibende Subjekt. Eine wesentliche Bedingung für die Entstehung menschlicher Subjektivität ist demnach die Repräsentation des dynamischen Gleichgewichts (Homeostasis) der verschiedenen Körperzustände durch das Proto-Selbst. Bewusstsein, ein Gefühl des Selbst, tritt auf, wenn ein Objekt, der Organismus und die Beziehung zwischen beiden repräsentiert wird.

Die neurobiologische Grundlage des Kern-Selbst ist die Darstellung (Repräsentation) der Kausalbeziehung zwischen Objekt und Organismus beziehungsweise des sich ändernden Proto-Selbst in Karten zweiter Ordnung. Auf dieser Ebene werden also die körperlichen Veränderungen repräsentiert, die sich aus der Affizierung des Organismus durch äußere und innere Objekte ergeben. Eine zentrale Rolle bei der Übersetzung dieser Reaktionen des Organismus in mentale Bilder spielen dabei die Emotionen. Emotionen begleiten die durch äußere und innere Gegenstände hervorgerufene Reaktion des Körpers. Als somatische Marker machen sie diese Wechselwirkungen auch für einen späteren Zugriff im ausgedehnten Bewusstsein (Erinnerung) zugänglich. Die philosophischen Implikationen dieser empirisch fundierten neurobiologischen Hypothese können nicht hoch genug eingeschätzt werden. Viele philosophische Bestimmungen des Leib-Seele-Verhältnisses gehen von einer strikten Trennung zwischen dem Bereich des Körperlichen und des Geistigen aus. Die jüngsten Arbeiten von Melzack, Metzinger, Damasio und anderen Fachleuten zeigen, dass ein adäquates Verständnis geistiger Prozesse nur im Zusammenhang mit der Repräsentation körperlicher Veränderungen möglich ist. Auf der anderen Seite lässt sich das Leib-Seele-Problem nicht auf ein mind-brain-Problem reduzieren, wie das in den letzten Jahrzehnten vor allem von naturalistisch gesinnten Philosophen nahegelegt wurde. Philosophische Gedankenexperimente, wie vom Körper abgetrennte Gehirne (vgl. Hilary Putnam, „Gehirne im Tank“), die als neue Versionen des Solipsismus-Arguments konstruiert wurden, widersprechen den Befunden der Neurophysiologie. Es ist sicher bemerkenswert, dass sich die jüngsten interdisziplinären Diskussionen im Bereich der Gehirnforschung in die Richtung einer Bestimmung des menschlichen Geistes bewegen, die der aristotelisch-thomistischen Seelenlehre sehr nahe kommt. Die mentalen Fähigkeiten können demnach nur verstanden werden vor dem Hintergrund der Gesamtorganisation des Organismus, in dem sie auftreten. Die aristotelische Auffassung von der Seele als Lebensprinzip des organischen Körpers und vom intelligiblen Seelenvermögen als erster Entelechie des menschlichen Organismus erfahren auf diese Weise eine neue Aktualität.

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