Mit einem heißen Eisen die Zunge durchstoßen zu bekommen, drohte früher nicht wenigen, die der Gotteslästerung für schuldig befunden wurden. Ob der Reisende im Wirtshaus oder der Matrose auf hoher See, Menschen, die sich außerhalb der etablierten Ordnung bewegten, waren offensichtlich besonders in der Gefahr, einer entsprechenden Versuchung zu erliegen oder ihrer bezichtigt zu werden, wie Alain Cabantous in seiner jüngst erschienenen „Geschichte der Blasphemie“ (Weimar 1999) detailreich belegt. Vor dem Hintergrund der Entstehung moderner Gesellschaften zeigt er, dass Anklagen und Prozesse gegen einen Angriff auf das religiöse Fundament der Gesellschaft besonders in Umbruchzeiten zu beobachten sind. Im Zeitalter von Reformation und Gegenreformation war der Blasphemievorwurf sogar in der interkonfessionellen Auseinandersetzung ein scheinbar probates Mittel, um die jeweils anderen zu diskreditieren.
Cabantous’ Chronik der neuzeitlichen Gottesschmähung endet überraschenderweise bereits Mitte des 19. Jahrhunderts, weil die Kritik an der „Sprache der Hölle“ (Vinzenz von Paul) in jener Zeit außerhalb der Kirchen verstumme. Er weiß aber immerhin darum, dass das Thema bis in unsere Tage hinein virulent ist. Allein seit dem Erscheinen des Buches sind mit der deutschen Erstaufführung von Terrence McNallys „Corpus Christi“ am Stadttheater in Heilbronn (vgl. HK, Mai 2000, 258 f.) und dem Kinostart des Films „Dogma“ von Kevin Smith am Gründonnerstag dieses Jahres zwei Beispiele zu nennen, die für besonders viel Aufsehen gesorgt haben. In der Werbung war es zuletzt die Reklame für die Zigarettenmarke „West“, die die sakrale Aura des Kirchlichen auf ihr Produkt umzulenken versuchte. Die in Süddeutschland ansässige Bekleidungsfirma „Nastrovje Potsdam“ ließ gleich ein Christusporträt mit schmachtendem Blick unter der Dornenkrone auf Unterwäsche ihrer Kollektion „Vive Maria“ drucken. Hier wie bei anderen Gelegenheiten war jeweils der reflexartig erhobene Vorwurf der Blasphemie bei der Hand und sorgte für die von den Urhebern vielfach gewünschte oder immerhin einkalkulierte Steigerung des Bekanntheitsgrads.
Nun ist nicht zu bestreiten, dass es bei den Erzeugnissen der Werbebranche, in den Medien und im aktuellen Kunstgeschehen – neben hintergründigen und wirklich geistreichen Inanspruchnahmen und Verfremdungen christlicher Topoi – viele Geschmacklosigkeiten, manche antikirchliche Polemik, ja sogar antichristliche Häme gibt, wie es immer schon einen gewissen Reiz auszuüben schien, die Sphäre des Heiligen mit dem Vulgären, Ordinären und Obszönen zu konfrontieren. Angesichts von erlebter und zugleich erlittener Banalität mag der Versuch, blasphemisch zu sein, heute zu den letzten Möglichkeiten des Tabubruchs gehören, den die Gesetze des Werbemarkts und der Kunstszene diktieren. Ob es sich dabei nach der Phase des freundlichen Desinteresses an der Religion um neu aufkeimenden, gar organisierten Hass auf das Christliche handelt, darf mehr als bezweifelt werden. Faktum ist immerhin, dass sich viele Christen nicht nur in sogenannten „rechtskatholischen“ Gruppierungen, die sich profilieren wollen, regelmäßig aufs Neue fragen, inwieweit man die eigene Überzeugung nicht besser vor einer Herabwürdigung schützen kann. Das alles andere als entspannte Verhältnis zwischen den Erben christlicher Milieus und der Mediengesellschaft wie der gegenwärtigen Kunstszene entlädt sich immer wieder in der Forderung nach Verboten gegen mutmaßlich Blasphemisches.
Die rechtlichen Möglichkeiten dafür sind allerdings bekanntermaßen nicht sehr groß. Zwar enthält das deutsche Strafgesetzbuch den immer wieder als lax kritisierten Paragraphen 166, der für die Religionsbeschimpfung Strafen androht – allerdings eben nur für den Fall, dass der „öffentliche Friede“ bedroht ist. Wie das „Landeskomitee der Katholiken in Bayern“ vor einiger Zeit lakonisch festgestellt hat, besteht das Problem darin, dass „Christen in der Regel friedliche Bürger sind und sich auch gegen Beleidigung ihres Glaubens nicht öffentlich zusammenrotten“ und deshalb die Gerichte zwangsläufig keine Notwendigkeit zum Handeln sehen. Während früher unzüchtige Bemerkungen über Gott zugleich als aufrührerischer Angriff auf die von ihm inthronisierte Obrigkeit verstanden und deshalb auch von dieser geahndet wurden, ist heute ausschließlich der soziale Friede Ziel der rechtlichen Regelungen: Die gültige Fassung des Paragraphen stammt aus dem Jahr 1969 und hat seiner Zeit den Tatbestand der „Gotteslästerung“ zugunsten des Schutzes jedweden religiösen oder auch nur weltanschaulichen Bekenntnisses vor Verunglimpfung abgelöst. Seine Reichweite wird innerhalb der Rechtssystematik im weltanschaulich neutralen Staat jedoch darüber hinaus durch das im Artikel 5 des Grundgesetzes garantierte Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung beziehungsweise auf die Autonomie der Kunst beschnitten, so dass es nach einer Güterabwägung vor Gericht in der Regel dazu kommt, dass den Grundrechten Vorrang eingeräumt wird. Auch beim Deutschen Presse- oder beim Deutschen Werberat bleibt es in der Regel bei Beschwerden. Vor allem mittels letzterem gelingt es zumindest hin und wieder, durch die Androhung einer „öffentlichen Rüge“ das entsprechende Unternehmen zu einer Zurücknahme der Werbekampagne zu bewegen.
Michelangelos Gottvaterbild als Höhepunkt der „Geschichte einer 1000-jährigen Blasphemie“
Von Seiten der Theologie ist in dieser Frage, was eigentlich blasphmisch, nur wenig an Unterstützung zu erwarten, das Thema taucht nicht in vielen Publikationslisten auf. Mit gutem Grund: Zu schnell wurde jahrhundertelang im Glaubensdisput der Verdacht auf unorthodoxe Lehren mit dem Vorwurf der Blasphemie bedacht. Zwar lehrt der Blick in die hebräische Bibel, dass dort die Schmähung Gottes durchaus als Grund für eine Steinigung betrachtet wird. In der Reflexion auf das zweite Gebot, „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen“ (Ex 20,7), das den Monotheismus des ersten Gebots präzisiert, stellt sich schnell heraus: Das landläufig als Lästerung Inkriminierte ist nur eine Spielart der mangelnden Ehrerbietung Gottes gegenüber. Letztlich, so beispielsweise das Lexikon für Theologie und Kirche, sei es Blasphemie, wenn man „Gottes Geheimnishaftigkeit vollständig in begriffliche und bildhafte Verfügbarkeit“ überführen wolle. Demnach müssen sich sowohl Theologie als auch die kirchliche Verkündigung selbst immer wieder fragen, inwieweit sie in der Gefahr stehen, blasphemisch zu werden. Die theologischen Kriterien der Beurteilung können sich deshalb auch nicht am empirisch ermittelbaren Durchschnittsgeschmack von Christen orientieren. Auf der Hand liegt dies etwa bei vielen kitschig-schwülstigen Werken sogenannter christlicher Kunst. Grundsätzlich bemerkte jüngst der Direktor des Freisinger Diözesanmuseums, Peter B. Steiner, in der Vortragsreihe der ostdeutschen katholischen Akademien zu den zehn Geboten, dass die Entwicklung der Ikonographie des Gottvaterbildes selbst die „Geschichte einer 1000-jährigen Blasphemie“ sei, als deren künstlerischen Höhepunkt er Michelangelos Darstellung von Gottvater ausmachte. Auf der anderen Seite ist offenkundig, dass es gerade innerhalb der Kunst – in deren Wesen es liegt, Erwartungen zu durchkreuzen – vielfach ein Ringen um religiöse Fragen und Haltungen gibt, wenn sie entsprechende Bezüge herstellt. Die Antwortversuche, die im Einzelfall zu diskutieren sind, mögen auf den ersten Blick nicht orthodox sein, sie weisen allerdings überraschend oft einen spirituellen Ernst auf, der den Schluss verbietet, hier handele es sich lediglich um eine Beleidigung Gottes. Berichten nicht selbst die Evangelisten wiederholt davon, dass man Jesus, der manche Erwartungen seiner Zuhörer enttäuscht hat, vorgeworfen habe, er lästere Gott? Bei allem Insistieren auf der Differenz zwischen dem Schöpfer und dem von ihm Geschaffenen lässt sich darüber hinaus mit der christlich gebotenen Orientierung an Jesus manche Erregung mindern: Die auf den ersten Blick einleuchtende Scheu, Heiliges mit Profanem in Berührung kommen zu lassen, könnte durch die im Credo bekannte Verbindung von Göttlichem und Menschlichem in Jesus von Nazareth einer größeren Gelassenheit weichen. Es ist der unterschwellig fortdauernde leibfeindliche Manichäismus innerhalb der christlichen Tradition, der die Kombination von Religiösem mit Körperlichem oder gar Sexuellem so brisant macht. Hier ist das Erfolgsrezept für „blasphemische“ Äußerungen zu finden. Das Problem der Gotteslästerung dürfte vor diesem Hintergrund weniger darin bestehen, dass Gott selbst beleidigt werden könnte, was formal aufgrund seiner Transzendenz und inhaltlich unter Hinweis auf seine biblisch bezeugte Barmherzigkeit (zornig ist er um der gedemütigten Menschen willen!) mit guten Gründen bestritten werden darf.
Gotteslästerung muss ferner nicht nur bewusst und vorsätzlich sein: Gott selbst kann nur lästern, wer auch an ihn glaubt. Blasphemie, genau dies spiegelt sich in der rechtlichen Situation wider, ist deshalb vor allem ein Problem des gesellschaftlichen Miteinanders, der gegenseitigen Achtung und Toleranz. Natürlich muss es Christen deshalb auch heute noch möglich sein, für das ihnen Heilige Freiräume zu bewahren. Und trotzdem ist es in einer pluralistischen Gesellschaft nicht mehr ohne weiteres möglich, die Aura des Heiligen vor jeder Verletzung zu schützen. Auch ist der Rekurs auf die eigenen „religiösen Gefühle“ genauso legitim wie problematisch: Niemand sollte abgesprochen werden, dass er seine Überzeugungen an einer wirklich empfindlichen Stelle verletzt sieht. Wo allerdings ist der Maßstab? Sollte man nicht auch auf der anderen Seite eingestehen, dass mancher außerhalb der Kirche durch Christen in seinen Empfindungen verletzt wird? Darüber hinaus liegt auf der Hand, dass schon die Werbung und noch mehr die Kunst, hier in konstitutiver, dort in problematischer Weise, vor allem über den Appell an die Emotionen funktioniert. Wer aber Gefühle hervorzurufen versucht, vermag diese auch schnell zu verletzen.
Für die Frage nach der angemessenen christlichen Reaktion auf überzogene Provokationen gilt deshalb zuerst einmal, dass ein resignativ gestimmter Kulturpessimismus ein schlechter Nährboden für überzeugende Antworten ist. Nicht jede nicht-religiöse Verwendung eines religiösen Symbols ist schon Blasphemie. Das Landeskomitee der bayerischen Katholiken hat empfohlen, nicht auf „jede böswillige Glosse einer Boulevardzeitung oder die Blödelei eines Fernsehmoderators“ zu reagieren. Das „Totschweigen“, und wenn überhaupt: eine „humorvolle“ Antwort, sei in vielen Fällen die angemessene und wirkungsvollere Reaktion, um sich auf die „wirklich gravierenden Fälle bösartiger Religionsbeschimpfung“ konzentrieren zu können – die auch streng von Kirchenkritik unterschieden werden muss. Denn natürlich müssen ehrverletzende Beleidigungen von Amtsträgern nicht hingenommen werden. Als gesellschaftliche Institution, die selbst öffentliche Kritik übt, darf sich die Kirche aber keinesfalls kritische Anfragen prinzipiell verbitten. Zentral ist auch die Berücksichtigung der Art der Öffentlichkeit, die der mutmaßlichen Blasphemie ausgesetzt wird. Wenn die Grenzen zwischen Kunst und Werbung auch nicht immer scharf zu ziehen sind, macht es einen Unterschied, ob es sich um eine kalkulierte Tabuverletzung zu Werbezwecken um des wirtschaftlichen Vorteil eine Fernsehshow unter Quotendruck oder willen, ein Theaterstück handelt, dem ein künstlerischer Entwurf zugrunde liegt. Maßgeblich ist im Fall von Dramen und Filmen nicht nur die Frage, ob der Künstler überhaupt die Verletzung religiöser Gefühle intendiert, sondern auch, warum er zu solchen Stilmitteln greift: Möglicherweise möchte er auf Fehlentwicklungen der christlichen wie der kirchlichen Praxis aufmerksam machen und Denkanstöße geben. Was die Kunst betrifft, sollte man angesichts der Erosion des christlichen Erbes prinzipiell neugierig und dankbar dafür sein, wenn Themen des Glaubens und der biblischen Tradition auch außerhalb des kirchlichen Kontextes offensichtlich weiterhin zur Auseinandersetzung inspirieren. Nicht dogmatische Korrektheit kann angesichts solcher Kunstwerke der Maßstab der Beurteilung sein: „Die Frage ist vielmehr, ob sie religiöse, christliche, konfessionelle Erfahrungen glaubhaft, wirkungsvoll und originell zum Ausdruck bringen; ob sie formal stimmig, spirituell bereichernd und emotional ansprechend sind“ (Ludger Verst).
Halbwissen erschwert die Auseinandersetzung
Außer Frage steht, dass Christen auch auf die Grenzen des ihrer Ansicht nach Zumutbaren aufmerksam machen müssen. Wenn sie dies tun, sollten sie sich allerdings zuerst gründlich und unvoreingenommen informieren, damit es ihnen nicht wie dem Salzburger Weihbischof Andreas Laun ergeht, der im Frühjahr seine bereits verbreitete Kritik an der Fotografie-Ausstellung „I.N.R.I.“ wieder zurücknehmen musste, nachdem er sich die von ihm bemängelte Kreuzesdarstellung angeschaut hatte und feststellen musste, dass sie weder „gotteslästerlich“ noch „obszön“ ist. Sachlich begründete Kritik ist in der Diskussion hingegen immer gefragt. Zu oft diskreditieren jedoch Aufgebrachte, selbst wo auf die Androhung von Gewalt in jeglicher Form verzichtet wird, mit einer Melange von denunziatorischem Eifer, Polemik und Halbwissen nicht nur sich selbst, sondern erschweren die kritische Auseinandersetzung als solche. In einem Brief an den Intendanten des Heilbronner Theaters begann der Schreiber etwa voller Empörung: „Mit Entsetzen habe ich gehört, dass in Ihrem Kino ein Stück gespielt wird...“. Friedrich Graf von Westphalen hat in diesem Zusammenhang vor dem Kölner Diözesanrat darauf aufmerksam gemacht, dass ein erkennbar organisierter Protest, womöglich mit Unterschriftenlisten und kopierten Briefen, die rechtliche Position der Kritiker schwächt, weil die „Öffentlichkeit“ als manipuliert erscheint. Westphalen gab darüber hinaus zu bedenken, dass sich Christen auch fragen lassen müssen, inwiefern sie selbst überzeugend für ihre Glaubenshaltungen werben, um auf diese Weise Gegenakzente zu setzen. Ähnliches gilt für den Ruf nach Verboten: Wo das Christentum nicht als repressiv erfahren wird, werden sich schließlich auch weniger Menschen finden, die sich an blasphemisch daherkommenden Werken ergötzen, um ihre Frustrationen über die christlichen Kirchen zu kanalisieren. Verbote zementieren letztlich nur die Vorurteile, die die blasphemische Phantasie auch in der Zukunft beflügeln können. Wäre es deshalb in einer Zeit des schwindenden gesellschaftlichen Einflusses von Christen nicht blauäugig, nach schärferen Gesetzen zu schielen? Wichtig ist zuletzt auch der Blick nach innen. Bischof Robert Nugent Lynch (St. Petersburg, Florida), der frühere Sekretär der US-amerikanischen Bischofskonferenz, hat seinen Landsleuten geraten, man solle vermeiden, dass es zwischen den entschiedenen Kritikern und verständnisvoller Gesinnten zu einem „Kampf unter Katholiken“ komme, während man doch eigentlich für den gemeinsamen Glauben einstehen wolle.