Der Beitrag der Kirche zum Ende der PRI-Herrschaft in MexikoPolitisches Erdbeben

Mit dem Sieg der Opposition in den mexikanischen Präsidentschaftswahlen im Juli ist die 71 Jahre ununterbrochene Herrschaft der „Partei der institutionalisierten Revolution“ zu Ende gegangen. Wie Gerhard Kruip, leitender Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie (Hannover), zeigt, hat die von der PRI lange unterdrückte katholische Kirche mit ihrem öffentlichen Eintreten für politische Partizipation und Menschenrechte viel zu diesem Wechsel beigetragen.

In den letzten Jahrzehnten war Mexiko immer wieder durch negative Schlagzeilen in der Weltöffentlichkeit präsent: Zahlungsunfähigkeit und Schuldenkrise 1982, schweres Erdbeben mit vielen Toten und großen Schäden 1985, Wahlbetrug beiden Präsidentschaftswahlen 1988, Guerilla-Aufstand der Zapatisten und mehrere politische Morde (unter anderem Ermordung des Präsidentschaftskandidaten Luis Donaldo Colosio) 1994, Zusammenbruch des Wechselkurses des mexikanischen Peso zum Jahreswechsel 1994/95 mit dem auf ganz Lateinamerika ausstrahlenden „Tequila-Effekt“, anhaltende Menschenrechtsverletzungen in Chiapas, hohe Umweltbelastung in der ungebremst wachsenden Hauptstadt Mexiko-Stadt mit über 20 Millionen Einwohnern und immer wieder Drogenhandel, Korruption und wachsende Kriminalität. Doch Anfang Juli dieses Jahres berichteten die Medien weltweit von einem historisch zu nennenden und uneingeschränkt positiv zu würdigendem Ereignis, mit dem die inzwischen insgesamt über 98 Millionen Einwohner eine neue Epoche einläuteten und mit Enthusiasmus und neuen Hoffnungen ins 21. Jahrhundert eines veränderten Mexikos starteten: dem Wahlsieg des Kandidaten der oppositionellen Partei Nationale Aktion (PAN) mit 42,52 Prozent der Stimmen über die seit 71 Jahren ununterbrochen regierende „Partei der Institutionalisierten Revolution“ (PRI).

Damit geht ein von vielen Politologen wegen seiner Flexibilität und Stabilität fasziniert betrachtetes autoritäres Regime zu Ende. Ihm war es durch eine ausgeklügelte Balance von „Zuckerbrot und Peitsche“, durch Nepotismus, Korruption- und selektive Repression, in Verbindung mit einer geschickten Kombination progressiv-revolutionärer und nationalistischer Rhetorik gelungen, alle oppositionellen Bestrebungen entweder zu integrieren oder zu marginalisieren und auf diese Weise so lange an der Macht zu bleiben, dass die PRI im Bewusstsein der meisten Mexikaner den Charakter des Ewigen und Unabänderlichen bekam. Mario Vargas Llosa hatte das Herrschaftssystem der PRI einmal als „perfekte Diktatur“ bezeichnet. Demokratische Reformen hatte das Regime immer nur so weit zugelassen, als sie zur Aufrechterhaltung eines Minimums an politischer Legitimität unumgänglich waren – und wenn nötig, hatte es wie im Falle der Gouverneurswahlen in Chihuahua 1986 oder der Präsidentschaftswahlen 1988 wieder zum Mittel des kaum verschleierten Wahlbetrugs gegriffen.

Als die ersten Umfragen und Hochrechnungen am Wahlabend des 2. Juli einen klaren Sieg des PAN-Kandidaten Vicente Fox vorhersagten, hielt das Land deshalb zunächst den Atem an. Denn trotz des entschiedenen Eintretens des amtierenden PRI-Präsidenten Ernesto Zedillo für eine echte Demokratisierung, das sich unter anderem in der Stärkung der in die parteipolitische Unabhängigkeit entlassenen Wahlbehörde „Instituto Federal Electoral“ (IFE) niedergeschlagen hatte, gab es bis zuletzt Zweifel, ob das Regime einen Machtwechsel wirklich akzeptieren würde. Erst als am selben Abend der amtierende Präsident Zedillo und der Kandidat der PRI, Francisco Labastida, die erstaunlich deutliche Niederlage eingestanden (Labastida erhielt 36,10 Prozent) und dem Sieger gratuliert hatten, wurde das Land von einem ungehinderten und immer noch anhaltenden Siegestaumel erfasst. Diese Euphorie riss sogar diejenigen mit, die für den linksoppositionellen Kandidaten der „Partei der Demokratischen Revolution“ (PRD) gestimmt hatten, sich nun aber trotz des erstaunlich schlechten Abschneidens von Cuauhtémoc Cárdenas (16,64 Prozent) darüber freuten, dass zumindest die PRI geschlagen war. Mit Sicherheit haben auch viele Anhänger von Cárdenas im Sinne einer vorher breit diskutierten „strategischen“ statt ideologisch motivierten Stimmabgabe bei Fox ihr Kreuzchen gemacht. Obwohl sie ansonsten den politischen Optionen der als wirtschaftsliberal und zugleich konservativ-katholisch zu charakterisierenden PAN ganz und gar nicht nahe stehen, wollten sie einfach in Anbetracht eines deutlichen Vorsprungs von Fox vor Cárdenas unter der Bedingung eines Wahlsystems, das keinen zweiten Wahlgang, sondern die Wahl mit einfacher Mehrheit vorsieht, einen Sieg des Kandidaten der PRI verhindern. Entsprechend hatte Fox auch seine Wahlkampagne angelegt und immer wieder betont, ein Ende der PRI-Herrschaft sei nun in jedem Falle wichtiger als der Streit um linke oder rechte politische Positionen, der Wechsel in der Regierung („alternancia“) wichtiger als die Durchsetzung einer grundsätzlichen politischen Alternative. Zuletzt hatte er ganz gezielt auch um linke Wähler geworben, indem er sich beispielsweise von früheren Äußerungen distanzierte, in denen er für eine Privatisierung der Erdölindustrie eingetreten war. Diese war von Lázaro Cárdenas, dem Vater des PRD-Kandidaten, in den dreißiger Jahren verstaatlicht worden und erbringt seitdem nicht nur einen erheblichen Teil der (damit allerdings vom Rohölpreis abhängigen) Staatseinnahmen, sondern gilt auch als Symbol nationaler Eigenständigkeit. Für Cuauhtémoc Cárdenas und seine Anhänger war die Wahlniederlage trotz des Sieges ihres Bürgermeisterkandidaten für die Hauptstadt besonders schmerzlich, denn sie hatten seit Mitte der achtziger Jahre die Hauptlast der Oppositionsarbeit getragen und die meisten Repressionsopfer in Kauf genommen. 1988 waren sie nur durch Wahlbetrug unterlegen. Aber es ist ihnen offenbar nicht gelungen, sich in den Augen der Mexikaner als die realistischere, erfolgversprechendere Alternative zur vorherrschenden marktorientierten (meist als „neoliberal“ apostrophierten) Politik auszuweisen, in der sich PAN und PRI kaum unterscheiden. Allerdings hat die PRD durch politische Fehler auch selbst zu ihrer Niederlage beigetragen: Beispielsweise kam es bei parteiinternen Wahlen im März 1999 zu Manipulationen, die dem Ansehen der Partei als einer Partei der demokratischen Revolution schwer geschadet haben.

Tiefgreifende Modernisierungsprozesse

Wer ist dieser Mann, dem es gelungen ist, die PRI zu stürzen? Es war ein großer Vorteil von Fox, den er in seiner Kampagne auch immer wieder zu nutzen verstand, dass er nicht zu „den Politikern“ gehört, sondern erst relativ spät als intellektuell und finanziell unabhängiger Bürger in die Politik gegangen ist. Er galt sogar unter politischen Freunden als Außenseiter. Macht und Geld scheinen für den am Wahltag 58 Jahre alt gewordenen Fox tatsächlich nicht an erster Stelle zu stehen. Fox ist aufgewachsen in dem als besonders katholisch und konservativ geltenden Bundesstaat Guanajuato, der in den zwanziger und dreißiger Jahren eines der Zentren des katholischen Widerstands gegen den Antiklerikalismus der mexikanischen Revolution gewesen ist. Er begann seinen beruflichen Werdegang nach einem betriebswirtschaftlichen Studium als kleiner Getränkelieferant und arbeitete sich dann zum Generalmanager von Coca-Cola in Mexiko empor, bevor er sich 1979 aus privaten Gründen auf das Landgut seiner Familie zurückzog.

Er repräsentiert einen Typ des erfolgreichen Unternehmers, der einen gesunden Pragmatismus mit einer offenbar starken religiösen Bindung und sozialem Verantwortungsbewusstsein verbindet. Er orientiert sich auf Grund seiner Nähe zur Katholischen Soziallehre an ordoliberalen Konzepten einer „Marktwirtschaft mit sozialer Verantwortung“, wie der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ in Lateinamerika inzwischen häufig übersetzt wird. Die „Option für die Armen“ ist ihm als Schüler lateinamerikanischer Jesuiten durchaus nicht fremd. Seine politische Karriere begann nach dem Beitritt zur PAN 1988 als Gouverneur von Guanajuato zwischen 1995 und 1999, wo er seine politischen Fähigkeiten unter Beweis stellte. Aber weiterhin entlehnt er einen Teil seiner Ziele und Strategien der Kultur betriebswirtschaftlichen Denkens, wenn er etwa sein Kabinett nach Kriterien professioneller Personalauswahl zusammenstellen und die Staatsbürokratie einem Prozess des „Total Quality Management“ unterwerfen möchte. Dabei umgibt er sich mit hoch angesehenen Beratern aus unterschiedlichen politischen Lagern, unter ihnen etwa Jorge Castañeda, der bis kurz vor den letzten Wahlen noch zum Team von Cárdenas gehört hatte. Er schmiedet Allianzen über bisher als unüberbrückbar geltende Grenzen hinweg und hat bereits angekündigt, dass sein Kabinett plural und ausgewogen zusammengesetzt sein solle, sowohl hinsichtlich des Geschlechts, der geografischen Herkunft wie der Parteizugehörigkeit.

Innerkirchlich tun sich die Bischöfe mit Partizipation und Transparenz schwer

Natürlich ist der Wechsel nur zu erklären, wenn man die hinter ihm liegenden, tiefgreifenderen Modernisierungsprozesse berücksichtigt, von denen Mexiko in den letzten Jahrzehnten erfasst worden ist. Wie überall sind dies Prozesse der Auflösung traditioneller Milieus, der Individualisierung und Pluralisierung, die mit höherer sozialer und geographischer Mobilität, höherer formaler Bildung und dynamischer Urbanisierung verbunden sind. Gewählt wurde Fox denn auch von diesem „modernen Mexiko“, den jüngeren Mexikanern mit besserer Schulbildung aus den großen Städten vor allem im Norden und im Zentrum. Die Menschen auf dem Land im traditionellen Südwesten und Süden haben weiterhin überwiegend PRI gewählt, vielfach sicherlich aus Gewohnheit, häufig aus Angst, wahrscheinlich selten aus reflektierter politischer Überzeugung. In den Bundesstaaten Chiapas, Guerrero, Hidalgo, Oaxaca und Sinaloa stellt die PRI fast alle Abgeordneten – es sind dies übrigens die Staaten, aus denen die meisten Unregelmäßigkeiten im Ablauf der Wahlen gemeldet wurden –, während sie für den Hauptstadtdistrikt überhaupt keinen Sitz errang. Hier deutet sich bereits eine erste politische Herausforderung für Fox an. So sehr er auch das moderne Mexiko repräsentiert, die Partei PAN, die ihn als Kandidaten aufstellte, hat ihre Widerstandskraft gegen das PRI-System lange Zeit aus den traditionellen Ressourcen eines katholischen Milieus bezogen und wird immer noch durch einen konservativ-katholischen Kern dominiert. Dieser entspricht in manchen seiner fast schon fundamentalistischen Bestrebungen eher einer rückwärtsgewandten „Gegenmoderne“ als den individuellen und gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen der Mehrheit seiner Wähler. Fox ist sich der damit verbundenen Probleme bewusst und hat deshalb auch schon zum Ärger mancher Parteistrategen klar gemacht, er sei es, der regieren werde, nicht die PAN.

Großen Anteil am Demokratisierungsprozess Mexikos hat auch die katholische Kirche. Seit dem Neuaufbruch der lateinamerikanischen Bischofskonferenzen von Medellín 1968 und für Mexiko besonders seit Puebla 1979 hat eine mehr oder weniger befreiungstheologisch ausgerichtete Kirche vor allem in geduldiger und langfristig angelegter pastoraler Basisarbeit in Bildungsprojekten, in Basisgemeinden, in der Förderung von Kooperativen und Nicht-Regierungsorganisationen sowie der öffentlichen Kritik gesellschaftlicher Missstände einen erheblichen Beitrag dazu geleistet, dass die Menschen selbstbewusster und politisch mündiger wurden. Spätestens seit dem kirchlichen Protest gegen den Wahlbetrug 1986 in Chihuahua – Erzbischof Adalberto Almeida Merino konnte damals nur mit großer Mühe durch Nuntius Girolamo Prigione von einem angedrohten „Gottesdienststreik“ abgehalten werden, der an den berühmten Widerstand der Kirche in den zwanziger Jahren erinnerte – gehörte der Kampf für Demokratie und Einhaltung der Menschenrechte sowie die Kritik an allen Formen der Korruption zum Standardrepertoire kirchlicher Stellungnahmen. Die Bischöfe ließen sich von ihrer Kritik auch kaum dadurch abhalten, dass die PRI-Regierung mit einer rechtsstaatlichen Regelung des seit der Revolution ungeklärten Staat-Kirche-Verhältnisses, durch eine 1992 in Kraft getretene Verfassungsänderung die kirchliche Hierarchie zur eigenen Legitimierung einzuspannen versuchte. Am 25. März 2000, wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen, traten die Bischöfe mit einem umfangreichen Hirtenwort unter dem Titel „Von der Begegnung mit Christus zur Solidarität mit allen“, dem bedeutsamsten Dokument seit Anfang der siebziger Jahre, an die Öffentlichkeit. Das Hirtenwort schlägt allein schon auf Grund seiner mit einem historischen Schuldbekenntnis verbundenen Forderung nach einer neuen Sicht der mexikanischen Geschichte und der auch in ihren problematischen Teilen nicht verschwiegenen Rolle der Kirche neue Töne an: Beispielsweise werden die beiden Helden des Unabhängigkeitskrieges, die damals exkommunizierten katholischen Priester Hidalgo und Morelos, durchaus positiv gewürdigt. Wichtiger jedoch waren die die Gegenwart betreffenden Äußerungen, die in ihrer Kritik an den bestehenden Verhältnissen sehr deutlich ausfielen. Die Bischöfe konstatierten einen dringenden Reformbedarf im Land. Trotz guter makroökonomischer Daten gebe es immer noch eine zu große soziale Ungleichheit und Marginalisierung. Die Armut habe in den letzten Jahren noch zugenommen und die Vorteile des Globalisierungsprozesses seien nur wenigen zugute gekommen. Angesichts der genannten Probleme forderten sie die Mexikaner ganz im Sinne der Vorstellung einer die gesellschaftlichen Belange offen diskutierenden Zivilgesellschaft dazu auf, „Orte der Begegnung, des Dialogs und der Reflexion zu schaffen, an denen, ausgehend von der Situation und der Identität unserer Nation, überprüft werden muss, worin wir als Mexikaner/-innen uns einig sind, welches unsere gemeinsamen Bezugspunkte sind und worin die wichtigsten Probleme liegen, denen wir uns gegenübersehen, so dass wir Wege finden können, uns in einem Klima der Versöhnung, der Gerechtigkeit und des Friedens weiter zu entwickeln.“ In der öffentlichen Diskussion spielten besonders die auf die Wahlen bezogenen Äußerungen eine Rolle. Die Bischöfe forderten eine umfassende politische Partizipation aller und ein Wahlrecht, das endlich den Wahlbetrug und die Ungleichheit der Chancen überwindet. Sie kritisierten den immer noch verbreiteten Stimmenkauf und die Einschüchterungspraktiken, die zu einer „Stimmabgabe aus Angst“ führten. Immer noch bestehe deshalb die Gefahr einer „autoritären Regression“, sogar auf dem Wege von Wahlen. Sie betonten, dass zu einem wirklichen Übergang zur Demokratie auch die „reale Möglichkeit“ eines Regierungswechsels gehöre – eine Textpassage, die den Oppositionskandidaten natürlich sehr gelegen kam und dementsprechend ausgeschlachtet wurde. Fox hat sogar Tausende Exemplare des Hirtenwortes in seinem Wahlkampf verteilt. In einem bemerkenswerten Kontrast zu diesem öffentlichen Eintreten für mehr Partizipation, Transparenz und demokratische Rechte steht der kirchliche Umgang mit internen Konflikten. Auf großes Unverständnis stieß – wenn man zwischen den Zeilen liest, sogar beim Hauptbetroffenen – die Ernennung von Raúl Vera López zum Bischof von Saltillo. Nach harten innerkirchlichen Auseinandersetzungen um die pastorale und politische Arbeit von Bischof Samuel Ruiz García in San Cristóbal de Las Casas (Chiapas) war Vera 1995 zu dessen Koadjutor mit dem Recht der Nachfolge berufen worden. Was anfänglich als ein Disziplinierungsversuch für Ruiz betrachtet wurde (vielleicht auch so gedacht war), entpuppte sich als Unterstützung seiner Arbeit, weil sich Vera sehr gut auf die Situation in Chiapas einstellte, entschieden für die Rechte der indigenen Gruppen eintrat, Menschenrechtsverletzungen durch die lokalen Behörden und besonders das Militär kritisierte. Als nun Anfang 2000 Samuel Ruiz aus Altersgründen vom Bischofsamt zurücktrat, wurde allgemein erwartet, dass Vera ihm nachfolgen würde. Die wenig plausible Entscheidung des Vatikans, ihn zum Bischof von Saltillo zu ernennen, konnte fast nur als ein neuerlicher Versuch verstanden werden, durch die Berufung eines anderen Bischofs nach San Cristóbal das Ruder der dortigen pastoralen Arbeit, die durch eine Diözesansynode vor dem Ausscheiden von Ruiz nochmals bekräftigt worden war, doch noch herumzureißen. Hinter diesem undurchschaubaren Manöver wurden in der Öffentlichkeit Machenschaften des „Club von Rom“ vermutet, einer Gruppe von stark romorientierten mexikanischen Bischöfen, die weiterhin in der Durchsetzung ihrer konservativen Linie mit dem früheren Nuntius Prigione und dem jetzt in der Kurie tätigen mexikanischen Bischof Javier Lozano Barragán zusammenarbeiten.

Doch so eindeutig liegen die Dinge nicht. Denn mit dem sechzigjährigen Felipe Arizmendi Esquivel ist ein Bischof nach San Cristóbal berufen worden, der als ehemaliger Bischof von Tapachula die Situation in Chiapas gut kennt, lange Jahre solidarisch mit Samuel Ruiz zusammengearbeitet hat – unter anderem in der Bischöflichen Kommission für Frieden und Versöhnung in Chiapas – und in seinen bisherigen öffentlichen Äußerungen vor allem den Willen zur Kontinuität bekundet. In seiner Antrittspredigt am 1. Mai bezeichnete er die Option für die Armen als für die Kirche wesentlich, weil sie Teil ihrer Identität und ihrer Treue zu Christus sei. Zu den Indígenas gewandt, betonte er: „Meine mir von Jesus Christus auferlegte Verpflichtung ist es, Euch beizustehen und weiterhin Eure menschliche Entwicklung und evangeliumsgemäße Befreiung zu unterstützen, damit Ihr Subjekte Eurer Geschichte und der Evangelisierung seid.“ Ähnlich undurchschaubar wie die Abberufung Veras war der neuerliche Wechsel des Nuntius. Nach nur zweieinhalb Jahren wurde Justo Mullor García abberufen, der sich große Verdienste um die verbesserte Zusammenarbeit des mexikanischen Epsikopats erworben und auch die Arbeit von Samuel Ruiz konstruktiv unterstützt hat. Für eine Einschätzung seines zum 1. März ernannten Nachfolgers Leonardo Sandri, der in der Öffentlichkeit bisher wenig präsent ist, ist es noch zu früh.

Kann die übliche Wirtschaftskrise zum Präsidentschaftswechsel vermieden werden?

Der neu gewählte mexikanische Präsident, der sein Amt erst am 1. Dezember antritt und von einer breiten Zustimmungswelle getragen wird (78 Prozent der Mexikaner glauben nach Umfragen, dass seine Regierung besser sein wird als die der PRI), sieht sich einer Reihe schwieriger Herausforderungen gegenüber. Zwar hat sich die wirtschaftliche Lage Mexikos nach dem massiven Einbruch 1994/95 wieder erheblich gebessert. Die Wachstumsraten der letzten Jahre waren hoch (jährlich mehr als fünf Prozent). Die TLC-Verträge mit den USA und Kanada (Tratado de Libre Comercio bzw. NAFTA, North American Free Trade Agreement) haben dank der anhaltend dynamischen Konjunktur in den USA erheblich zur wirtschaftlichen Erholung beigetragen. Durch das im Juli dieses Jahres in Kraft getretene Freihandelsabkommen mit der EU wurden die Voraussetzungen für eine stärkere Diversifizierung der Exporte geschaffen, um sich aus der starken Abhängigkeit von den USA (bisher gehen 90 Prozent der mexikanischen Ausfuhren in die USA) zu lösen. Die Inflation konnte durch die konsequente Politik der inzwischen unabhängigen mexikanischen Zentralbank wieder auf Werte um zehn Prozent herunter geführt werden, die Auslandsverschuldung bewegt sich in einem wieder verkraftbaren Rahmen. Insgesamt scheinen die Voraussetzungen dafür günstig, dass dieses Mal die übliche Wirtschaftskrise zum Präsidentschaftswechsel vermieden werden kann. Die Börsen haben jedenfalls zunächst einmal sehr positiv reagiert. Die Reallöhne steigen nach dem massiven Einbruch 1995/96 seit 1998 wieder leicht an. Trotzdem sind die Löhne immer noch sehr niedrig. Der gesetzliche Mindestlohn liegt derzeit bei etwa vier US-Dollar pro Tag. Und eine jüngst vom nationalen Statistik-Institut INEGI veröffentlichte Studie belegt, dass die extreme Ungleichheit der Einkommen in den letzten Jahren noch zugenommen hat. Die zehn Prozent reichsten mexikanischen Haushalte verfügen über 38,11 Prozent (1996 waren es 36,60 Prozent) aller Einkommen, während die ärmsten zehn Prozent nur über 1,5 Prozent, die ärmsten 40 Prozent immer noch nur über 12,47 Prozent der Einkünfte verfügen. 40 Prozent der Mexikaner müssen mit weniger als zwei US-Dollar pro Tag auskommen.

Will das Land die Voraussetzungen für eine positive Entwicklung unter den Bedingungen der Globalisierung schaffen, muss neben der direkten Armutsbekämpfung präventiv ein funktionierendes System sozialer Sicherung geschaffen, das Rechtssystem nach rechtsstaatlichen Kriterien reformiert, die vielfach eingespielte Korruption bekämpft, eine effektive Steuererhebung etabliert und sehr viel mehr als bisher in Erziehung und Ausbildung investiert werden. Insgesamt ist der historische Einschnitt so gewaltig, dass von einer umfassenden Reform des gesamten Landes, angesichts des alle Bereiche des öffentlichen Lebens durchdringenden Machterhaltungssystems der PRI sogar von einer Kulturrevolution gesprochen werden muss. Vicente Fox hat seinen Wahlsieg selbst mit dem Fall der Berliner Mauer verglichen. Entsprechend langfristige und grundlegende Weichenstellungen sind erforderlich. Fox hat in Aussicht gestellt, bis zur Amtsübernahme unter breiter öffentlicher Beteiligung eine Vision für die nächsten 25 Jahre zu erarbeiten. Für die Umsetzung seiner politischen Ziele bleibt Fox auf die Zusammenarbeit mit den anderen Parteien angewiesen, denn er hat im Parlament nur eine relative Mehrheit. Im Senat unterstützt ihn nur die zweitgrößte Gruppe, während die einfache Mehrheit noch von der PRI gehalten wird.

Natürlich sind das Band des gemeinsamen Machterhaltungsinteresses geschwächt und die Möglichkeiten sowohl der Verteilung von Pfründen wie der Einschüchterung reduziert. Aber die jahrzehntelang eingespielten Mechanismen dürfen sicherlich nicht unterschätzt werden. Viel wird davon abhängen, ob die PRI so geschwächt wird bzw. ob relevante Teile der PRI aus pragmatischen Interessen sich der PAN, andere Teile aus ideologischer Affinität der PRD anschließen, so dass sich mit PAN und PRD ein Zwei-Parteien-System etabliert, oder ob sich ein sehr viel weniger überschaubares Drei-Parteien-Gefüge einspielt. Auch ist es eine offene Frage, ob die PRD der Versuchung erliegt, gegenüber Fox eine Fundamentalopposition zu betreiben und ihn dadurch in eine Zusammenarbeit mit den bisherigen Machthabern zu zwingen, oder ob es den beiden Parteien, die bislang gegenüber der PRI in Opposition standen, gelingt, besser als bisher zusammenzuarbeiten, um das zarte Pflänzchen der Demokratie weiter wachsen zu lassen. Noch ist nicht ausgemacht, welche Lager sich langfristig bilden und in welchem Kräfteverhältnis sie zueinander stehen werden. Die politische Entwicklung Mexikos bleibt spannend.

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