Es mag mit der Jahrtausendwende zusammenhängen, dass das „Erinnern“ zu den großen Themen der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts gehört hat. Wer tausend Jahre Revue passieren lässt, stellt sich schnell die Frage, welche Art on Beziehung zur Vergangenheit eigentlich möglich ist. Und beim an Jahrhundertwenden obligatorischen Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte waren es weniger die Erfolge und Fortschritte der Menschheit, als all jene Gräueltaten, auf die man verwiesen wird, wenn von den Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts die Rede ist. Nicht zuletzt die von Martin Walser und Ignatz Bubis vor zwei Jahren ausgelöste Debatte ist Beleg für die anhaltende Virulenz der Frage, welches Erinnern geschichtlichem Versagen gegenüber angemessen ist (vgl. HK, Dezember 1998, 598). Auch für den französischen Philosophen Paul Ricœur, der Anfang September des letzten Jahres mit seinem jüngsten Werk „La mémoire, l’histoire, l’oubli“ die Früchte seiner im vergangenen Jahrzehnt entwickelten Reflexionen zum Thema Erinnerung vorgelegt hat, stehen diese Fragen im Zentrum des Interesses – wenngleich er sich keineswegs auf die deutsche Perspektive beschränkt. So steht von Anfang an eine die deutsche political correctness irritierende These im Raum, dass es auch ein Zuviel des Erinnerns geben kann. Immer wieder findet sich bei Ricœur der Hinweis auf die Kriege des Balkans, aber auch auf die Gewalt in Nordirland oder im Nahen Osten, deren Ursachen er in einem selbstzerstörerischen Gedenken der – unbestrittenermaßen erlittenen – eigenen Demütigungen und des selbst erfahrenen Unrechts sieht. Was ist angesichts eines zweifelhaften Nationalstolzes, der sich in immer neuer Gewalt entlädt, das rechte Maß für das Erinnern? Inwiefern ist eine an den historischen Fakten orientierte Geschichtswissenschaft der Erinnerungsarbeit dienlich? In welchem Verhältnis steht das Gedächtnis zum Vergessen und wie lassen sich schließlich Vergessen und Verzeihen voneinander abgrenzen? Das sind die wesentlichen Fragen, denen sich der bald 88 Jahre alte Ricœur, von dem kolportiert wird, dass er in seinem jüngsten Werk auch sein letztes größeres sieht, zuwendet. Vor mehr als 50 Jahren hat er begonnen, sich intensiv in die jeweils aktuellen geisteswissenschaftlichen Debatten einzumischen und an den maßgeblichen intellektuellen Strömungen abzuarbeiten: ob dies die Existenzphilosophie oder die Psychoanalyse war, der Strukturalismus oder die Lingustik, der Kommunitarismus oder die analytische Philosophie. Aber erst mit seiner Emeritierung vor gut zwanzig Jahren hat seine produktivste Schaffensperiode begonnen.
In den achtziger Jahren erschien das dreibändige Werk „Zeit und Erzählung“ (Fink Verlag, München 1988–1991 [frz.: 1983– 1985]), Anfang der neunziger Jahre seine philosophische Anthropologie „Das Selbst als ein Anderer“ (Fink Verlag, München 1996 [frz.: 1990]). Mit dieser Monographie, innerhalb der auch ein eigenständiger ethischer Ansatz vorgelegt wird, unterzieht der vor allem als Hermeneutiker bekannte Ricœur seine Philosophie, die ursprünglich an der Reflexion auf den Menschen und sein Tun ausgerichtet war, einer Relecture und profitiert dabei von seinen zwischenzeitlich erworbenen Einsichten in die grundsätzliche Bedeutung der Interpretation. Beide Werke finden mit „La mémoire, l’histoire, l’oubli“, dessen deutsche Übersetzung vom Fink Verlag für 2002 geplant ist, eine Fortschreibung (Erste Skizzen seiner Thesen finden sich in einem Bändchen Ricœur mit einer Reihe von Vorträgen und Artikeln: „Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen“, Wallstein Verlag, Göttingen 1998). Wie von Beginn seines Philosophierens an bei Ricœur üblich, haben die offenen Fragen wie die nicht behandelten Aspekte seiner gerade abgeschlossenen Forschungen ihm keine Ruhe gelassen und zur Ausarbeitung eines neuen Themenkomplexes gedrängt. So hatte der Philosoph in „Zeit und Erzählung“ das Paradox der Zeit, deren objektive – an der Kosmologie orientierte – Betrachtung mit dem subjektiven Zeitverständnis nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen ist, dahingehend produktiv zu machen versucht, dass sowohl literarische Fiktionen als auch die Historiographie jeweils auf ihre Weise die unterschiedlichen Zeitbegriffe miteinander zu versöhnen versuchen, ohne dies vollständig leisten zu können. Dass zwischen der Erfahrung der Zeit und deren narrativen Verarbeitungen die Erinnerung (oder eben das Vergessen) anzusiedeln ist, bildet den Ausgangspunkt für die Erinnerungstheorie, die jetzt in Angriff genommen wird. In der neuerlichen Besinnung auf das Phänomen des Gedächtnisses versucht Ricœur dabei auch, die in „Zeit und Erzählung“ nicht ausgearbeitete Unterscheidung zwischen der Imagination der Schriftsteller und dem Wahrheitsbegriff der Historiker ernst zu nehmen.
Das Zeugnis als missing link zur Vergangenheit
Ricœurs jüngstes großes Werk mit annähernd 700 Seiten ist in Anlehnung an den Titel in drei Teile untergliedert, mit denen er eine „Phänomenologie des Gedächtnisses“, eine Konkretisierung seiner Theorie der Geschichtsschreibung und Thesen zur Notwendigkeit und Problematik des „Vergessens“ vorstellt. Schon innerhalb seiner Besinnung auf das Gedächtnis treibt Ricœur die Frage um, wie denn überhaupt der Bezug des Menschen zur Vergangenheit gedacht werden kann, was genau den Vergangenheitscharakter der Vergangenheit ausmacht und inwiefern es noch eine Gegenwart der Vergangenheit, eine Präsenz der eigentlich längst abwesenden Zeit gibt. Genau dies sind die „Rätsel der Vergangenheit“. Wie in den allermeisten seiner Monographien geht Ricœur diese Rätsel nicht traditionsvergessen an, sondern bezieht das in der Philosophiegeschichte zu diesem Punkt bisher Gedachte bei der Problemstellung und -lösung mit ein. In noch stärkerem Maße als bisher finden sich im jüngsten Werk des Philosophen eine Unmenge von Referaten zu anderen Positionen, die es gelegentlich erschwert, Ricœurs eigenem Gedankengang zu folgen. Die Stärke, eine enzyklopädisch anmutende Fülle an Literatur vorzustellen und zu verarbeiten, um sie für den eigenen Erkenntnisfortschritt fruchtbar zu machen, ist und bleibt zugleich eine große Schwäche Ricœurs. Immerhin gibt es in diesem Fall eine Reihe von Präsentationen und Zusammenfassungen des Gedankengangs. So kritisiert Ricœur am Beginn die platonische Vorstellung, das Erinnerte sei im Gedächtnis wie ein Siegelabdruck im Wachs wiederzufinden und deshalb als Bild von jenem Vergangenen aufzufassen, dessen Qualität womöglich durch die Ähnlichkeit mit dem, „wie es wirklich gewesen ist“ (Leopold von Ranke), bestimmt werde. Ähnlich wie der Hirnforscher Wolf Singer auf dem letzten Deutschen Historikertag in seinem Eröffnungsvortrag auf die Komplexität der Erinnerungsvorgänge hinwies („Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft“, dokumentiert in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.9.2000), greift auch Ricœur immer wieder neuere Erkenntnisse der Hirnforschung auf. Er hatte diese bereits vor einiger Zeit zusammen mit dem Neurobiologen Jean-Pierre Changeux in einem umfangreichen Gesprächsband diskutiert (Ce qui nous fait penser: La nature et la règle, Editions Odile Jacob, Paris 1998). Gegenüber der Interpretation des Erinnerungsgeschehens mit dem Paradigma der Imagination favorisiert Ricœur jedoch den dynamischeren Begriff des Zeugnisses als missing link zur Vergangenheit. Mit der vom französischen Reflexionsphilosophen Jean Nabert übernommenen Kategorie des Zeugnisses wird vor allem der zeitliche Abstand besser wahrgenommen: dass man sich vor allem an Ereignisse erinnert, die geschehen sind oder im zum freien Entschluss fähigen Menschen ihren Urheber haben. Die Erkenntnis geschichtlicher Wahrheit gründet darin, dass sich das Gedächtnis nicht täuscht, wie man darauf vertraut, dass das Zeugnis kein Täuschungsversuch ist. „Denn wie sollte man vor allem den Opfern gegenüber gerecht sein, wenn man nicht sicher sein könnte, dass die Erzählung über die Vergangenheit keine Fiktion ist?“, fasst Ricœur seine Position in einem Interview zusammen (Frankfurter Rundschau, 11.11.2000). Nur mit der kritischen Überprüfung des Wahrheitsgehaltes der historischen Zeugnisse als Quelle der Historiographie ist es schließlich möglich, den Anspruch der Geschichtsschreibung, etwas tatsächlich Geschehens zu berichten, von den Wahrheitsansprüchen des rein Imaginären, der Phantasie der Fiktion abzugrenzen und das Erinnerte von der Halluzination zu unterscheiden.
Zum Problem der Wahrheit gesellen sich mit der Inanspruchnahme des Zeugnisses deshalb auch Fragen nach Wahrhaftigkeit und Vertrauen. Diesem Vertrauen, um das jeder Zeuge wirbt, steht legitimerweise der Verdacht gegenüber, dass das Zeugnis nicht wahr sein könnte. Man muss zwar versuchen, den Verdacht auszuräumen – ohne ihn jedoch vollständig beseitigen zu können. Ricœur greift hier auf seine frühere Überzeugung zurück, dass – um jede Naivität und jeden Relativismus zu vermeiden – eine „Kritik der Zeugnisse“ notwendig ist. Letztlich ist diese allerdings darauf angewiesen, gegen ein falsches Zeugnis ein vertrauenswürdigeres Zeugnis aufzubieten und zu prüfen, ob die Gesamtheit der Zeugnisse verlässlich ist. Dies ist der Sinn einer am Ideal der Objektivität ausgerichteten Geschichtswissenschaft (sine ira et studio), die sich aufgrund der Distanz zum Geschehen als Korrektiv für jede emotional aufgeladene Erinnerungsarbeit anbietet. Dabei sollen die historische Erklärung in den Geschichtswissenschaften und das Erinnern-Wollen nicht einfach gegenüber gestellt werden, wie Oliver Mongin in der Zeitschrift „Esprit“ betont, die aus Anlass des Erscheinens von Ricœur jüngstem Werk dem Verhältnis von Erinnerungsarbeit und Geschichtsschreibung ein Themenheft gewidmet hat (Titel: „Les historiens et le travail de mémoire“, Esprit Nr. 8–9/2000)
Kritik an der Vorstellung eines „kollektiven Gedächtnisses“
Im Sinne von Michel de Cereau strukturiert Ricœur seine Theorie der Geschichtsschreibung mit einem Dreischritt, dessen einzelne Phasen auch bei der durchgängigen Bedeutung der Interpretation, die der Hermeneutiker Ricœur hervorhebt, streng voneinander zu unterscheiden sind. Auf einer ersten Ebene geht es um das Auffinden der geschichtlichen Spuren in Archiven, in denen die Dokumente – im besten Fall diejenigen der Augenzeugen – gesammelt werden, um später ausgewertet werden zu können. Davon unterschieden ist die Ebene des Erklärens und Verstehens historischer Ereignisse, bei dem die Fragen nach dem Warum aufgeworfen und begründet beantwortet werden müssen. Schließlich ist noch einmal die Ebene der literarischen Darstellung eines geschichtlichen Zusammenhangs für eine breite Leserschaft zu unterscheiden, bei der sich am schärfsten die Problematik der wahrheitsgetreuen Darstellung des Vergangenen stellt – zumal eine entsprechende Erwartung zuvor die Recherche der Dokumente in den Archiven geleitet hat.
Bereits im Sommer hatte der in Paris forschende Philosoph Rainer Rochlitz Ricœur nach dessen Marc-Bloch-Vorlesung zum gleichem Thema (leicht gekürzt in: Le Monde, 15.6.2000) kritisiert, dass er aufgrund seiner phänomenologischen Betrachtung des Gedächtnisses einem privatistischen Erinnerungsbegriff erliege und die gesellschaftliche Bedeutung der Erinnerung unterbelichte (Le Monde, 25./26.6.2000). Wenn dieser Vorwurf auch nach dem Erscheinen von „La mémoire, l’historie, l’oubli“ als weniger triftig erscheint, so geht es Ricœur sehr wohl darum, auf die Problematik der Vorstellung eines „kollektiven Gedächtnisses“ (Maurice Halbwachs) aufmerksam zu machen. Er will dies nur in einem anlogen Sinne als solches verstanden wissen, weil der Status eines solches Super-Bewusstseins, wie es die „positivistische Soziologie“ zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts behauptet habe, undeutlich ist. Tatsächlich wird in Ricœur Erinnerungstheorie großen Wert darauf gelegt, dass es jeweils der Einzelne ist, der sich erinnert. Auf der anderen Seite wäre man jedoch als Einzelner allein nie dazu in der Lage, sich über versprengte Episoden und andere Erinnerungsfetzen hinaus wirklich zu erinnern. Gerade Erzählungen bilden für den Hermeneutiker das Instrumentarium für die Erinnerungsgemeinschaft, innerhalb derer das Selbst und seine Nächsten in Interaktion stehen – wobei das gemeinsame Erinnern der Kommunikationspartner abnimmt, je weiter sie voneinander entfernt sind. Die erforderliche Vermittlung durch die Sprache korrigiert jede überzogene Konzeption eines individuellen Gedächtnisses, die Ricœur – etwa bei Husserl – als Ich-Versessenheit kritisiert.
Überraschenderweise findet sich nun aber in Ricœur Erinnerungstheorie auch ein „Lob des Vergessens“. Bei seinem Plädoyer für die – innerhalb bestimmter Grenzen – legitime Funktion des Vergessens bezieht sich Ricœur sogar immer wieder auf Friedrich Nietzsches Diktum in der zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung“, dass zuviel Geschichte den Menschen töte (Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben). Selbst wenn das Gedächtnis gegen das Vergessen ankämpfen muss, so die These des französischen Philosophen, ist das Vergessen nicht einfach in jeder Beziehung ein Feind des Gedächtnisses und damit auch der Geschichte (537). Einmal abgesehen davon, dass jede Erinnerung ein zuvoriges – wenn auch nicht vollständiges – Vergessen, voraussetzt, ist schon auf einer sehr formalen Ebene deutlich, dass kein Erinnern ohne das Auswählen des Erinnerungswerten auskommen kann. Ohne das Vernachlässigen aller unwichtigen Elemente wäre es nicht möglich, dem Erinnern Profil zu verleihen. Wird nicht selbst in den Zeiten moderner Datenverarbeitung mehr als offenkundig, dass kein Archiv groß genug wäre, um alle verfügbaren Informationen zu speichern? Die Quintessenz aus dieser Aufwertung liegt letztlich darin, dass sowohl beim Erinnern als auch beim Vergessen ein Missbrauch möglich ist. Ricœur hat sich intensiv genug mit der Ideologiekritik (Vgl. vor allem „Lectures on Ideology and Utopia“, New York 1986) auseinandergesetzt, um das fälschlicherweise in Anspruch genommene Gedenken zu kennen, wenn das Gedächtnis manipuliert und instrumentalisiert wird, indem bestimmte Tatsachen ausgeblendet werden sollen: etwa die höchst problematische Tatsache, dass die Gründungsakte vieler Staaten auf kämpferische Auseinandersetzungen oder sogar Krieg zurückgehen und mit einer triumphalistischen Sichtweise die Opfer jener Gewalthandlungen abermals erniedrigt werden. Dass die Gerechtigkeit größer als die Selbstgerechtigkeit ist, gilt deshalb auch für jedes Erinnern. Die Zweischneidigkeit des Vergessens und Erinnerns läßt sich schließlich vor diesem Hintergrund an Ricœur Beschäftigung mit dem von ihm so genannten „verletzten Gedächtnis“ erläutern, das gleichermaßen durch ein Zuwenig als auch ein Zuviel an Erinnerung entstehen und auf immer verwundet bleiben kann. Ricœur wendet sich damit nicht gegen ein in Grenzen sinnvolles Memorieren von Wissen, sehr wohl aber gegen eine „Erinnerungskultur“, innerhalb derer ihn der ritualisierte und ständig erneuerte Aufruf zum Gedenken an den „Wiederholungszwang“ Freuds (dem Ricœur in den sechziger Jahren ein dickes Buch gewidmet hat) erinnert.
Das traumatisierte Gedächtnis von seinen Fixierungen heilen
Ausdrücklich hat Ricœur dies – auf dem Höhepunkt der deutschen Walser-Bubis-Debatte – mit Blick auf das gesellschaftliche Leben in Frankreich behauptet: „Ich möchte davor warnen, dass man sich dem Glauben hingibt, durch bloß wiederholende Erinnerung könne man verhindern, dass sich die Gräuel wiederholen. In Frankreich gibt es einen regelrechten Missbrauch der Erinnerung. Man ist ständig dabei, irgendeiner Sache zu gedenken, aber man verlässt nie die Logik der Wiederholung im Freudschen Sinne.“ (Die Zeit, 8.10.1998). Unabhängig davon, ob die Diagnose ein Zuviel oder ein Zuwenig an Erinnern lautet: Ziel muss es nach Ricœur sein, das traumatisierte Gedächtnis von seinen Fixierungen zu heilen, indem man es der Erinnerungsarbeit aussetzt, die einer Trauerarbeit gleichkommt, deren mühevollen Charakter Ricœur nicht müde wird zu betonen: „Was die einen mit Gram kultivieren und die anderen mit einem schlechten Gewissen meiden, ist der gleiche Wiederholungszwang des Gedächtnisses. Die einen verlieren sich gern in ihm, während die anderen Angst haben, von ihm verschlungen zu werden. Aber die einen wie die anderen leiden unter dem gleichen Defizit an kritischer Distanz“ (96). Erinnern ist deshalb nur gegen Widerstände möglich. Eine eng ausgelegte „Pflicht der Erinnerung“, die über die mit Blick auf den Auszug aus Ägypten ausgesprochene Mahnung „Zakhor“ im Buch Deuteronomium (vgl. Dtn 6,6–9) hinausgeht, ist für Ricœur vor diesem Hintergrund eines drohenden Wiederholungszwangs mit zu vielen Ambivalenzen behaftet. Sie darf deshalb nicht ohne weiteres gefordert werden – zumal es subtile Formen der Manipulation geben kann, wenn man sich selbst zum Sprecher der Opfer macht (109).
Es versteht sich von selbst, dass im Hintergrund dieser Überlegungen stets die Erfahrung der Shoa als wichtigste Bezugsgröße anwesend ist. Auch für Ricœur sind mit der Shoa die Grenzen der Erfahrung, der Sprache ja sogar „des gesamten Unternehmens der Geschichtsschreibung“ erreicht (329). Mit Bezug auf Karl Jaspers, dem Ricœur sein erstes Buch gewidmet hat, wird „Auschwitz“ als Grenzbegriff verstanden. Und doch wendet sich Ricœur gegen die Folgerung, dass Erklären oder Verstehen und Vergeben das Gleiche seien (335). Mit Blick auf den deutschen Historikerstreit in den achtziger Jahren, auf den er sich mehrfach bezieht, kommt ihm alles darauf an, zwischen dem historischen Verstehen, das auch vergleichen können muss, und dem moralischen Urteil über ein in seiner Abgründigkeit einzigartiges Fehlverhalten zu unterscheiden. Der Historiker unterscheide sich vom Richter dadurch, dass er keine endgültigen Urteile fälle, weil die Geschichte wesentlich offen und damit auch zur Revision fähig sei (421). Gerade weil es immer eine gesunde Skepsis gegenüber möglicherweise falschen Zeugnissen geben muss, ist kein historisches Urteil über jeden Verdacht erhaben. Diese „Offenheit“ der Vergangenheit führte innerhalb des ersten Entwurfs einer „Hermeneutik des historischen Bewusstseins“ in „Zeit und Erzählung“ bereits dazu, dass auch die uneingelösten Erwartungen der Früheren für die Zukunftsgestaltung in der Gegenwart ihre Bedeutung haben. Ricœur weist auch jetzt wieder auf die ethischen Implikationen der Geschichtsschreibung hin: dass der Historiker – wie jeder Staatsbürger – sein Interesse an der Vergangenheit angesichts der politischen Herausforderungen der Gegenwart verantworten können muss.
Der Philosoph Ricœur wagt sich weit auf das Gebiet der Religion vor
Auf das Vergeben, das nicht mit der Erklärung historischer Sachverhalte zu verwechseln ist, stößt man schließlich in Ricœur Erinnerungstheorie nach dem dritten Teil. In einem ebenfalls einige Kapitel starken Epilog greift Ricœur die beunruhigende Erfahrung einer Unmenschlichkeit, die das Ausmaß des „Nicht-zu-Rechtfertigenden“ (Jean Nabert) annimmt, wieder auf und treibt durch die Auseinandersetzung mit dem Verzeihen seinen ethisch akzentuierten Erinnerungsbegriff an dessen Grenzen. Wie in jedem größeren Werk Ricœurs stehen damit am Ende Überlegungen, die den Weg des Gedankengangs noch einmal durchschreiten und auf eine höhere Ebene zu heben versuchen. In diesem Fall ist es nun eine dezidiert religionsphilosophische Perspektive, mit der Ricœur seine Überlegungen beschließt: Mit seiner abschließenden Reflexion wagt sich Ricœur innerhalb eines philosophischen Werks weiter auf das Gebiet der Religion vor, als er es in den vergangenen drei Jahrzehnten getan hat (vgl. aber unter anderem auch das zusammen mit André LaCoque verfasste Buch: Penser la Bible, Verlag Seuil, Paris 1998). In Fortführung seiner Besinnung auf den Menschen in „Das Selbst als ein Anderer“ weist Ricœur mehrfach darauf hin, dass das Erinnern einem nicht einfach nur widerfährt, sondern auch eine Handlung, ein Tun ist und deshalb das Erinnern-können zu den „Fähigkeiten“ hinzuzurechnen ist, die den Menschen als Menschen auszeichnen. Gerade die Erinnerung kann aber das Gesamt der „Fähigkeiten“ des Menschen auch lähmen und ihn in seinen Handlungsmöglichkeiten einschränken. Angesichts von menschlichem Versagen und Schuld ist deshalb fraglich, inwieweit es so etwas wie ein „glückliches“ Gedächtnis (mémoire hereuse) am Horizont der Trauerarbeit geben kann – und was genau mit dem Verzeihen als Sonderfall des Vergessens getilgt wird. Nicht die Treue zur Vergangenheit steht hier auf dem Spiel, sondern eine in jedem Fall mögliche Aussöhnung mit ihr. Genau dies, so gibt Ricœur zu erkennen, gehörte mit zu den unterschwelligen Motiven, die der gesamten Untersuchung zugrundelagen (643). Kein Zweifel kann daran bestehen, dass Ricœur, der oft auf seine frühen Arbeiten zurückkommt, damit abermals seine ursprünglichen Pläne für eine „Poetik des Willens“ wieder aufgreift. Damals hatte der bekennende Protestant diese vertagt und seine bereits auf drei Bände angewachsene „Philosophie des Willens“ unvollendet gelassen, weil er – im auf strenge Trennung zwischen Philosophie und Theologie bedachten Geistesleben Frankreichs – Sorge hatte, zu sehr in den Bereich der Logik des Religiösen zu geraten, dabei aber seine Glaubwürdigkeit als Philosoph zu verlieren. Jetzt hingegen lautet seine Fragestellung, was denn ein „versöhntes“ Gedächtnis sein könne – ohne dabei ganz im Sinne der wiederholten Warnungen vor dem Übermut und der Überheblichkeit einer vollkommenen Reflexion dessen „eschatologischen Charakter“ zu unterschlagen. Solange das reale Ende der Geschichte noch aussteht, wird es immer wieder die Notwendigkeit für die schmerzliche Erinnerungsarbeit mit all den inneren und äußeren Widerständen geben, die Ricœur so differenziert und ausführlich beschreibt. Diese eschatologische Einschränkung des Begriffs Versöhnung, so Ricœur, geht so weit, dass keinerlei Garantie eines „happy ends“ gegeben ist (376).
Mit dem Vergeben, so Ricœur, sollte man es sich nie leicht machen, etwa aus Bequemlichkeit; gleichwohl ist Vergebung aber eben auch nichts völlig Undenkbares oder Unmögliches (593), wenn man denn den Weg über die Erhörung einer an das Opfer gerichteten Bitte um Verzeihung geht. Der Kniefall Willy Brandts in Warschau, der sich gerade zum 30. Mal gejährt hat, dient Ricœur hier wie schon seit langem als bevorzugtes Beispiel für eine entsprechende Geste im Kontext historischer Verfehlungen (vgl. 618). Das Vergeben sollte dabei nie ein Vergessen der Taten und Fakten sein, wie es bei einer Amnestie vorgegaukelt wird, sondern der Schuld ihre Last nehmen und damit neue schöpferische Kräfte freisetzen. Nichts hält Ricœur in diesem Zusammenhang von den mannigfaltigen Thesen zu einer ursprünglichen und bis ins Letzte auszuziehenden Asymmetrie zwischen Opfer und Täter. Zwar gebietet ihm zufolge auch die im Evangelium geforderte Feindesliebe es, den ersten Schritt zu tun, letztlich aber sei dabei doch gerade angezielt, dass im Sinne von Immanuel Kants „ewigem Frieden“ der Feind zum Freund werde. So kommt es am Ende zu der These, dass bei aller „Radikalität“ des Bösen im Kantischen Sinne die Bestimmung zum Guten ursprünglich sei, wie sie von der Bibel beschworen und bezeugt wird. Die gesamte Erinnerungsarbeit wird auf diese Weise für Ricœur geleitet durch die Hoffnung auf eine umfassende Gerechtigkeit. Sie speist sich aus der – rechtfertigungstheologisch akzentuierten – Überzeugung, dass der Mensch mehr wert ist als seine Handlungen (vgl. auch das Interview in La Croix, 8.9.2000). Nicht zuletzt hier trifft man auch nach Ricœur schließlich auf das schon früh von ihm behauptete „Ja in der Trauer des Endlichen“ (570), einem Akt der Hoffnung angesichts der menschlichen Kontingenz, zu der das Vergessen seinen Teil beiträgt.