Bilanz über die Ressourcen einer postkonventionellen MoralWerteverlust oder Wertewandel?

Wir erleben derzeit keinen Werteverlust, sondern einen Wertewandel, verbunden mit einer Pluralisierung von Werthaltungen und einer Relativierung der individuellen Wertüberzeugungen, aber auch mit einem höheren Maß an gegenseitiger Toleranz. Was oberflächlich als Verlust beklagt wird, so die These von Gerhard Kruip, ist eine große Chance für die Moralität des modernen Menschen. Der Beitrag ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung seiner Antrittsvorlesung als Leitender Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie, Hannover, im November letzten Jahres.

 Der öffentliche Diskurs über Werte springt entsprechend dem Alarmismus der Medien von einem spektakulären Ereignis zum nächsten. Dabei wird immer wieder eine Verlust- oder Verfallsrhetorik gepflegt, die den Eindruck vermittelt, als wäre gar keine menschliche Zukunft unter den Bedingungen der Moderne möglich. Anders als in den siebziger und achtziger Jahren findet man die Klage über einen Werteverlust heute nicht nur bei „Konservativen“. Auch die alt gewordenen „68er“ ertappen sich dabei, Hedonismus, mangelnde Kritikfähigkeit und fehlendes Engagement bei Jugendlichen heute zu konstatieren. Im Gegensatz zu solchen pessimistischen Zeitdiagnosen plädiere ich dafür, die als Verluste interpretierten Veränderungen nicht nur negativ zu bewerten, sondern wahrzunehmen, dass sie teilweise kompensiert werden durch neue Werte und dass wir einen soziokulturellen Wandel erleben, der die Moralität der Subjekte eher fördert als behindert. Teilweise wird schon an der durch den „Werteverfall“ ausgelösten Betroffenheit und moralischen Empörung deutlich, dass es die vermissten Werte sehr wohl noch gibt. So steht der zweifellos gestiegenen Gewalt von Rechts eine wachsende Toleranz und zunehmende Ablehnung von Fremdenfeindlichkeit gegenüber. Soziologische Erklärungen führen den beklagten „Werteverfall“ natürlich nicht auf eine Präferenz für Dekadenz der Individuen zurück. Sie verweisen auf Modernisierungsprozesse, die zur Erosion traditioneller Milieus führten und den Einzelnen aus der Bindung an hergebrachte Wertvorstellungen lösten. Die Einzelnen könnten schließlich gar nicht anders, so wird behauptet, als egoistisch nur die eigenen Ziele zu verfolgen, wobei sie in einer von Freizeit und Konsum geprägten Gesellschaft die Steigerung der Erlebnisqualität zum Erfolgskriterium ihrer Suche nach Glück machten.

Moralische Ressourcen können nachwachsen

Individualisierung führe zum Individualismus und zur Entsolidarisierung. Beschleunigung, Flexibilisierungsdruck und Mobilitätszumutungen in der Arbeitswelt führten dazu, dass der „flexible Mensch“ (Richard Sennett) gar keine Chance mehr habe, eine Identität auszubilden, die nach wie vor stark an den beruflichen Erfolg gebunden sei. Am Individualisierungsstress gescheiterte Modernisierungsverlierer neigten zur fundamentalistischen Entsorgung ihrer Unsicherheiten. Schließlich würden die desintegrativen Tendenzen so zunehmen, dass die Funktionsfähigkeit des demokratischen Gemeinwesens insgesamt auf dem Spiel stehe. Moderne Gesellschaften lebten vom Verbrauch nicht erneuerbarer moralischer Ressourcen, so dass eines nicht fernen Tages das über Jahrhunderte aufgebaute Sozialkapital unwiederbringlich verloren sein werde.

Doch stimmt diese Diagnose? Bei genauerer Betrachtung gelangt man zu einem sehr viel differenzierteren empirischen Befund und zu dem Ergebnis, dass moralische Ressourcen durchaus „nachwachsen“ können: Richtig ist, dass es Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre eine deutliche Abnahme der Bedeutung einiger Werte gegeben hat. Aber diesen „Verlusten“ stehen eben auch „Gewinne“ gegenüber. Überblickt man demoskopische Forschungsergebnisse, gewinnt man insgesamt den Eindruck, dass wir es nicht mit einem Werteverlust zu tun haben, sondern mit einem Wertewandel, der verbunden ist mit einer Pluralisierung von Werthaltungen, einer Relativierung der individuellen Wertüberzeugungen, aber eben auch mit einem höheren Maß an gegenseitiger Toleranz. Um die Wertvorstellungen der „Kinder der Freiheit“ (Ulrich Beck) ist es insgesamt gar nicht so schlecht bestellt. Wichtig ist, dass es in den Wertvorstellungen offenbar Kombinationen gibt, die man auf der Basis eines traditionellen Wertesystems nicht ohne weiteres als naheliegend empfindet. Größere Eigenständigkeit kommt durchaus gemeinsam mit Hilfsbereitschaft vor. Das Streben nach Autonomie korreliert mit Sozialität. Der Übergang von Pflicht- zu Selbstentfaltungswerten (Helmuth Klages) geht nicht auf Kosten der Bereitschaft zum Engagement und zur Solidarität. Dies spiegelt sich beispielsweise in den generationsspezifischen Motiven für bürgerschaftliches Engagement. Bei den Älteren stehen noch das Helfen-Wollen und die Pflicht im Vordergrund, bei den jüngeren die Selbstverwirklichung und der „Spaß“. Moderne Lebenskunst (Wilhelm Schmid), das hat Robert Wuthnow am Beispiel der USA auch empirisch nachgewiesen, vereint die Sorge um sich selbst mit der Sorge um andere. Dies kann nur plausibel gemacht werden, wenn man sich von der Vorstellung verabschiedet, Individualisierung und Erlebnisorientierung führten notwendig zu einem Verlust an Werten, zur Entsolidarisierung und zur Entmutigung moralischen Handelns. Natürlich lösen Prozesse der Individualisierung die Menschen aus traditionellen Vorgaben heraus, ja lassen es sogar für diese Menschen als Hindernis und Nachteil erscheinen, sich zu sehr festzulegen. Deshalb tut man jungen Menschen keinen Gefallen, wenn man sie mit möglichst unveränderlichen Prinzipien ausstattet. Jeder muss heute ein „eigenes Leben“ führen, aus einer Vielzahl von Wert- und Sinnangeboten die Elemente der eigenen Identität auswählen und in je eigener Weise zusammenstellen. Doch gerade wenn traditionelle Einbettungen erodieren und Identitäten fragiler werden, wird die Tatsache um so bedeutsamer, dass niemand in ein reflexives Verhältnis zu sich selbst treten kann, der nicht zugleich in Beziehung zu anderen tritt und von ihnen anerkannt wird. Axel Honneth hat in einer durch George Herbert Mead inspirierten Transformation der Anerkennungslehre Hegels deutlich gemacht, dass sich der Einzelne als sprach- und handlungsfähiges Subjekt mit einer eigenen Identität dadurch konstituiert, dass er lernt, sich aus der Perspektive zustimmender Anderer auf sich als auf jemanden zu beziehen, dem bestimmte Qualitäten und Fähigkeiten zukommen.

Es gibt also eine enge Beziehung zwischen der Ausbildung von Individualität und dem Angewiesensein auf die Anerkennung durch Andere. Diese Anerkennung kann jedoch eine qualifizierte Funktion im Prozess der Identitätsbildung nur dann erfüllen, wenn sie weder erzwungen noch erkauft ist, sondern durch Andere freiwillig zugesprochen wird. Da sie außerdem eine symbolisch vermittelte Kommunikation voraussetzt, konstituieren sich Anerkennungsverhältnisse zumindest auch in Diskursen, die auf Verständigung aus sind. Diese stehen dann unter den meist kontrafaktisch angenommenen, normativen Bedingungen, die in menschliche Kommunikation und Lebenswelten überhaupt eingewoben sind (Karl-Otto Apel, Jürgen Habermas). Menschen wissen mindestens intuitiv, ob sie sich in einer Kommunikation vom Streben nach einem rational motivierten Einverständnis haben leiten lassen oder zu Mitteln der Täuschung, des Zwangs, der Überredung etc. gegriffen haben – wobei hier auch nicht ein reduktionistisches Verständnis von „Rationalität“ zu Grunde gelegt werden darf. Diese impliziten Normen müssen (unabhängig von der umstrittenen Frage ihrer „Letztbegründung“) auch für verständigungsorientierte Kommunikationen als gültig angenommen werden, in denen nicht moralische Normen diskutiert werden, sondern die jeweiligen Selbstverständnisse, Erfahrungen und Sinnperspektiven der Kommunikationspartner ausgetauscht werden. Individualisierung bedeutet also weder Egoismus noch Individualismus, sondern verlangt nach einer „solidarischen Individualität“ (Hans Joachim Höhn), Individualisierung bietet Chancen für „Neue Solidaritäten“ (Karl Otto Hondrich, Claudia Koch-Arzberger), es gibt die Möglichkeit eines „altruistischen Individualismus“ (Heiner Keupp). Auf der Suche nach Anerkennung können die Einzelnen gar nicht anders, als sich auf verständigungsorientierte Kommunikation und tragende soziale Beziehungen einzulassen.

Traditionelle Wertangebote müssen sich in der Alltagspraxis bewähren

In einer pluralen Gesellschaft werden die Individuen auf der Suche nach Anerkennung immer wieder mit Anderen konfrontiert, die ihre Wertvorstellungen nicht oder nur ausschnittweise teilen. Die Suche nach Anerkennung führt also erstens immer wieder in kontroverse Wertediskurse, die nicht ohne die implizite Annahme von normativ relevanten Diskursbedingungen auskommen. Zweitens wird in diesen Wertediskursen, in denen vollständiger Konsens unwahrscheinlich ist, die Unterscheidung zum Thema, die zwischen den Fragen der Gerechtigkeit, in denen um der Verfolgung gemeinsamer Interessen willen faire Regeln als gültig erkannt werden müssen, und Fragen des Guten Lebens trennt, in denen man tolerant sein muss, also wechselseitig die Andersheit des Anderen akzeptieren muss. Wertediskurse sind zugleich Diskurse um die ständig umstrittene „grüne“ Grenze zwischen den Fragen der Gerechtigkeit und den Fragen Guten Lebens. Diese Diskurse haben auch dann eine wichtige Funktion, wenn sie nicht zu Konsensen führen, denn nur so stellen sie sicher, dass Toleranz mehr ist als Gleichgültigkeit.

Auch die für die Einzelnen bindenden Werte entstehen in intersubjektiven Prozessen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz (Hans Joas), natürlich von frühester Kindheit an. Die jeweiligen Anderen, darauf macht auch Emmanuel Lévinas so eindrücklich aufmerksam, sind ja nicht nur Instanzen der Affirmation, sondern ebenso der Infragestellung, der Begrenzung, der Differenz und des Konflikts. Gerade dadurch, dass die Anderen das Selbst transzendieren, wird überhaupt die Anerkennung durch sie zu einem Beitrag der Selbstbildung. Die besonderen Selbstverständnisse der Einzelnen ergeben sich dann daraus, dass jeder in diesen Kommunikationsprozessen eine erfahrungsgetränkte Geschichte mit sich und anderen durchläuft, die nur seine Geschichte ist, und die ihn dann, wenn er diese Geschichte als sinnvoll begreift, mit starken Wertbindungen ausstattet, die auch für eine existenzielle Motivation sorgen, überhaupt moralisch zu handeln. Wertangebote aus der Tradition und Erfahrungen mit beispielgebenden Anderen spielen dabei durchaus eine Rolle, sie müssen aber vom Einzelnen „angeeignet“ werden und sich in seiner Alltagspraxis bewähren, wenn sie Bestand haben sollen.

Da es keine unumstrittenen konventionellen Bindungen gibt, sind die Menschen darauf angewiesen, die Werte und Normen ihres Zusammenlebens miteinander auszuhandeln. Das betrifft beispielsweise die häusliche Arbeitsteilung in Ehe und Partnerschaft oder die Regeln für die Teamarbeit im Unternehmen. Diese Teams sind immer heterogener und multikultureller zusammengesetzt, weil sie dadurch kreativer und innovativer werden. In solchen „Verhandlungen“ in Unternehmen besteht ebenso wie in der Ehe, der Schule oder der peer-group gleichaltriger Jugendlicher die Chance, Moral und Wertbewusstsein zu generieren. Dabei werden Normbegründungen im Zuge des Wertewandels umgestellt von Bezügen auf Tradition, Autorität oder religiöser Offenbarung auf die Berufung auf Gleichheit (Fairness) und Schadensvermeidung, gleichzeitig wird das Moralverständnis kontextabhängiger (Gertrud Nunner-Winkler). In dem, was oberflächlich als Verlust beklagt wird, dass nämlich Konventionen nicht mehr oder nur im Sinne von Wahlmöglichkeiten zur Verfügung stehen, liegt eine große Chance für die Moralität des modernen Menschen, da seine Moral keine andere Moral mehr sein kann als eine postkonventionelle (Lawrence Kohlberg). Diese ist nicht zu verwechseln mit einer postmodernen Moral. Der Diskussion um entsprechende Ansätze verdanken wir zwar eine wichtige Rehabilitierung der Bedeutung von Differenz und Konflikt. Trotzdem führen sie letztlich zur Aufgabe eines kognitivistischen Moralverständnisses. Denn eine postmoderne Moral hat zwar die Abhängigkeit von der Konvention überwunden, leugnet aber die Möglichkeit argumentativer Begründung von Normen.

Für Werte gibt es keine Reservate

Die postkonventionelle Moral wird im Sinne eines als Konvention verstandenen Christentums auch eine postchristliche Moral sein. Wie auch Detlef Horster betont, ist sie von ihren Ergebnissen her aber kompatibel zu den entscheidenden Elementen der christlichen Ethostradition, und es ist auch umgekehrt klar, dass Christen mit ihrer Praxis und ihrer Praxisreflexion weiterhin einen positiven Beitrag zur Entwicklung dieser postkonventionellen Moral leisten können. Etwas paradox und hoffentlich nicht missverständlich formuliert: Nach dem Ende von Gesellschaftsformationen mit einem Moral- und Sinnmonopol des Christentums haben Christen die diakonische, nicht missionarische Aufgabe, sich an der Entwicklung einer tragfähigen postchristlichen Moral zu beteiligen. Und sie brauchen dabei nicht die Angst zu haben, dadurch ihr Gesicht zu verlieren, dass sie mit Vernunftargumenten operieren, im Gegenteil. Lassen sich die Chancen für eine postkonventionelle Moral durch „Wertepolitik“ erhöhen? Kann politisches Handeln den Wertewandel steuern oder beeinflussen? Es ist Aufgabe aller Bürgerinnen und Bürger, sich an der Politik und am Diskurs über ihre Ziele zu beteiligen. So kann auch der dazugehörige Diskurs über Werte und Normen nicht an einige dafür nur auf den ersten Blick zuständige Institutionen wie etwa die Kirchen delegiert werden. Eine sozialtechnische Gestaltung des Wertbewusstseins heutiger Menschen erweist sich als unmöglich, sogar als unmoralisch. Weder Indoktrination noch Abschirmung oder Konservierung traditioneller Bestände sind noch möglich. Für Werte gibt es keine Reservate und deshalb kann es auch nicht Aufgabe der Politik sein, solche Reservate zu erhalten oder zu schaffen. Werte lassen sich nicht in dem Sinne „weitergeben“ oder „vermitteln“, dass es ausreichen würde, andere darüber zu belehren oder durch eine strenge Erziehung auf sie zu verpflichten. Selbst grundlegende moralische Normen und Werte, die wir als unaufgebbar betrachten und die faktisch auch von vielen Menschen in unserer Gesellschaft geteilt werden, müssen in dem Sinn zur Disposition gestellt werden, als ihre Begründung immer wieder in kommunikativen Prozessen rational eingeholt werden muss. Es kann kein Wertbewusstsein mehr geben jenseits der von den Individuen beanspruchten Freiheit und Autonomie.

Was politisch getan werden kann, zielt auf die Erweiterung kommunikativer Räume für solche Prozesse und die Stärkung der Ressourcen und Kompetenzen, die es Menschen möglich machen, unter den Bedingungen der radikalisierten Moderne eine Identität auszubilden und in diesem Prozess selbst ein zukunftsfähiges Wertbewusstsein für sich zu entwickeln. Ein Leben zu führen, wird mehr und mehr zur Kunst, das je individuelle Ich zum Gesamtkunstwerk. Damit ist nicht der Beliebigkeit das Wort geredet, sondern der Fähigkeit der Menschen, in intersubjektiven Prozessen zu lernen und zu entdecken, was ein Gutes Leben ausmacht und welche moralischen Regeln des Zusammenlebens gerecht sind. Dass dabei auch Vorbilder aus der Gegenwart oder der Tradition eine Rolle spielen, versteht sich von selbst. Wer Werte fördern will, muss den Menschen das Gefühl geben, dass sie in dieser Gesellschaft Chancen haben, ihre Ziele zu verwirklichen, und dass sie dies am besten in einem fairen Zusammenwirken mit anderen tun.

Dazu gehört als ein erster Politikbereich die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die soziale Absicherung derer, die nicht in den Arbeitsmarkt integriert sind oder integriert werden können. Eine aktivierende Sozialpolitik ist Wertepolitik, weil sie die Ressourcen der Menschen stärkt und gleichzeitig die Solidarität aller innerhalb unseres Gemeinwesens institutionell verkörpert. Sicher braucht das System sozialer Sicherung dringend einschneidende Reformen, durch die vielleicht auch Besitzstände angetastet werden müssen. Wer jedoch den Sozialstaat insgesamt diskreditiert und diejenigen, die auf ihn angewiesen sind, diskriminiert, leistet tatsächlich einen Beitrag zur Werte-Erosion in unserer Gesellschaft.

Ein zweiter Politikbereich ist die Familienpolitik. Familiale Lebensformen, auch jenseits des traditionellen Bildes von Familie, sind sicherlich die wichtigsten Orte der für die Wertbildung und das Normenlernen notwendigen intersubjektiven Prozesse. Ihr Funktionieren sollte deshalb von unserer Gesellschaft auch als ein öffentliches Gut betrachtet werden, das vom Gemeinwesen zu fördern ist. Dazu gehört beispielsweise die Verhinderung der Armut von Familien. Es ist skandalös, dass das Armutsrisiko mit der Kinderzahl wächst. Darüber hinaus aber müssten die Maßnahmen verstärkt werden, die die Eltern in ihrer Erziehungsarbeit unterstützen. Die am stärksten wertbildenden Erziehungsstile sind eine achtungsvolle emotionale Zuwendung, respektvolle Verbindung zwischen Eltern und Kind sowie besonders Vertrauen in die Fähigkeiten des Kindes und Anteilnahme an seinem Geschick. Arbeitsrechtliche Regelungen, verbesserte Fortbildungs- und Wiedereinstiegsmöglichkeiten, die Bereitstellung von Kindergartenplätzen und Betreuungsmöglichkeiten in der Schule sowie eine allgemeine Bewusstseinsbildung müssen insgesamt die Chancen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen und Männer verbessern. Um die Bindungsbereitschaft in unserer Gesellschaft auch dort zu würdigen und zu fördern, wo sie aus verschiedenen Gründen bislang kaum vorhanden war, halte ich auch die rechtliche Absicherung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften für richtig. Schließlich muss sich das Anliegen einer Wertepolitik in der Bildungspolitik niederschlagen. Auch Kindergärten, Schulen und Hochschulen sind Orte wertbildender intersubjektiver Prozesse. Man sieht das an den Beispielen, wo in Schulen mit den Schülern gemeinsam eine Art Schulverfassung erarbeitet wurde und dadurch die Gewalt an diesen Schulen massiv zurückgedrängt werden konnte. Bildung ist nie nur Wissensvermittlung, sie ist immer auch Erziehung, und sei es durch einen geheimen Lehrplan. Deshalb muss der Aspekt der Erziehung, der Persönlichkeitsbildung, der Schlüsselqualifikationen einschließlich der notwendigen Medienkompetenzen gestärkt werden. Bildung darf nicht auf rein technische oder ökonomische Erfordernisse im Dienste der Sicherung des Standorts Deutschland reduziert werden. Das hat Konsequenzen für den Fächerkanon, für schulische Lernkonzepte und für die Aus- und Fortbildung sowie die ständige Begleitung der pädagogisch Tätigen.

Im Verhältnis zu den traditionellen Instanzen des Moral-Lernens, nämlich Politik, Schule, Kirche und familiäre Lebensformen, gewinnen auch Wirtschaftsunternehmen eine immer größere Bedeutung, weil dort, wenn auch primär aus ökonomischen Interessen, immer mehr moralische Diskurse stattfinden, die gefördert und durch eine öffentliche, konstruktivkritische Begleitung unterstützt werden sollten. Ähnliches gilt für viele Bereiche der Wissenschaft und Forschung, beispielsweise der Genforschung. Gebraucht werden schließlich eine philosophisch die eigenen Voraussetzungen reflektierende Sozialwissenschaft und eine sozialwissenschaftlich informierte Philosophie, die in Form von Diskursbeiträgen zu öffentlichen Debatten und beraterischen Dienstleistungen für Einzelne, Gruppen und Organisationen durchaus dazu helfen können, nicht Menschen Orientierungen zu geben, sondern sie sich selbst finden zu lassen. Dabei zeigen sich übrigens Defizite gegenwärtiger Philosophie, die noch zu wenig die Organisationen als Subjekte von Handlungen in den Blick nimmt und wenig darin geschult ist, in einem unmittelbaren Praxisbezug relevante Beratungskompetenzen zu entwickeln.

Nicht zuletzt ist politisches Handeln aus demokratischem Selbstverständnis mit dem Ziel der Verwirklichung von mehr Gerechtigkeit und mehr Chancen der Partizipation selbst Wertepolitik. Der Gebrauch und die Förderung einer Freiheit, die von sich selbst her mit Reziprozität verbunden bleibt, führt nicht zur Erosion von Werten, sondern, wie schon Alexis de Tocqueville gesehen hat, zu deren ständiger Erneuerung. Insofern darf die Aussage, der freiheitliche, säkularisierte Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne (Ernst-Wolfgang Böckenförde) nicht auf die demokratische Zivilgesellschaft bezogen und mit der Vorstellung eines unaufhaltsamen Verbrauchs eines nicht regenerierbaren Reservoirs moralischer Ressourcen verbunden werden. Freilich wird eine große Rolle spielen, ob sich die Bürgerinnen und Bürger in den zivilgesellschaftlichen Organisationen und den Parteien als nur eigeninteressengeleitete Akteure verhalten, oder ob sie Moral, Wertbindungen und Sinnbezüge als Ressourcen für sich und ihre politische Praxis in transparenter Weise in Anspruch nehmen, dies ohne Konsenszwang öffentlich thematisieren und sich dadurch auch unter deren Anspruch stellen lassen. Dann braucht das Projekt der Moderne, das neben Zweckrationalität (Max Weber) und funktionaler Differenzierung (Niklas Luhmann) eben auch politische Freiheit umfasst, nicht ständig weiter unter den Verdacht gestellt zu werden, sich selbst zu untergraben.

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