Bei den Hutterern in Kanada und USAKein Traum vom einfachen Leben

Zu den Erben der seit ihrer Entstehung verfolgten Täuferbewegung der Reformationszeit gehören die Hutterer, die heute noch in kleinen Kolonien in Kanada und den USA anzutreffen sind. Unser Mitarbeiter Hermann Vogt berichtet aus eigener Anschauung über diese religiöse Gruppe, die sich trotz aller Eigenprägung längst in ihre amerikanische Umgebung eingepasst hat.

Die Hoffnung, dass in einer Hutterer-Kolonie der Traum vom einfachen Leben sich verwirklichen lasse, wird schnell enttäuscht. Dieser Traum, den zivilisatorische Intellektuelle im fernen Deutschland gern träumen, hält der herben Wirklichkeit des hutterischen Lebens nicht stand. Auch der Traum des Michael Holzach, der 1978 bei den Dariusleuten der Wilson-Kolonie in Alberta lebte, musste an dem kulturellen Gegensatz zwischen moderner Welt und hutterischer Kolonie scheitern. Aber dennoch hat Holzachs misslungener Versuch, beide Welten zu integrieren, zu einem empfindsamen Erfahrungsbericht geführt (Das vergessene Volk. Ein Jahr bei den deutschen Hutterern in Kanada, Hoffmann und Campe, Hamburg 1980; als dtv-Sachbuch ab 1982 in mehreren Auflagen). Die wesentlichen Einsichten, die Holzach bei seinem transkulturellen Selbstexperiment gewann, sind nach wie vor in der hutterischen Gegenwart verifizierbar. Heinrich Wurz war 1978 Holzachs Freund und lebt immer noch als Schäfer in der Wilson-Kolonie. Von Wilson spaltete sich 1981 die Kehoe Lake-Colony ab, wo heute Heinrichs Bruder Samuel als Deutschlehrer und Gärtner arbeitet. In Holzachs hutterischem Jahr war Samuel der Schuhmacher, dem Holzach bei der Arbeit zugeteilt war und unter dessen Anleitung er sein erstes Paar Schuhe nähte. Also doch kein totales Scheitern des deutschen Traums? Holzach ging 1978 von einer Zahl von mehr als 25 000 Hutterern aus, die in 200 Kolonien (zwei Drittel davon in Kanada) lebten. Zwanzig Jahre später wurden etwa 40 000 Hutterer in 448 Gemeinden gezählt. Zu den Schmiedeleut gehörten 173 Kolonien (105 in Manitoba, 68 in USA – South Dakota, Minnesota), zu den Dariusleut 146 Kolonien (127 in Alberta und Saskatchewan, nur 19 in USA – Montana und Washington), zu den Lehrerleut 129 Kolonien (68 in Alberta, 30 in Saskatchewan und nur 31 in USA – Montana). Diese gleichsam explosionsartige Vermehrung innerhalb von 20 Jahren erhöht die erbbiologische Gefahr von Inzucht-Krankheiten, da die gesamte hutterische Population auf eine Ausgangsgruppe von etwa 300 Personen (in den Jahren 1874 ff.) zurückgeht und – was problemverschärfend ist – zwischen den drei Stämmen kaum geheiratet wird. Der Traum vom einfachen Leben bei den Hutterern in Kanada und USA ist nur dann zu träumen, wenn die nachhaltigen Bedenken gegen diesen Traum nicht ernst genommen werden.

Anabaptistischer Rigorismus und Leidensbereitschaft

Die frühen Wiedertäufer entstammten zwar der lutherischen und reformierten Tradition, lösten sich aber sofort von diesem Ansatz. „All beide aber waren sie Kindstaufer und ließen den rechten Tauf Christi fahren,(...) folgten dem Papst nach mit dem Kindstauf, behielten von ihm die Grundsuppen,(...) ja den Eingang und die Pforten in das falsche Christentum. (...) Solche ihre Lehr verfechten und verteidigen sie, Luther und Zwingel, mit dem Schwert. “ (Das große Geschichtsbuch der Hutterischen Brüder, Falher, Alberta, 1990, 33). Luther und Zwingli waren damit – wie ein zeitgenössisches Unterrichtsheft über die hutterische Geschichte formuliert – disqualifiziert: „Beide tauften Kinder und nicht Gläubige, und beide brauchten das Schwert.“ Dieser theologische Grundkonflikt wies die anabaptistischen Rigoristen auf den Weg der Verfolgungen. 1525 hatten sich Konrad Grebel, Felix Manz und Georg Blaurock, ein „Pfaff“ aus Chur, sowie fünfzehn andere wechselseitig die Erwachsenentaufe gespendet. Felix Manz wurde 1527 in der Limmat ertränkt. Michael Sattler wurde 1527 mit anderen Brüdern in Rottenburg am Neckar hingerichtet. Georg Blaurock wurde 1527 in Gusidaun (Tirol) verbrannt. Die schnelle Folge von Hinrichtungen im Jahr 1527 ging sofort über in die ersten hutterischen Märtyrerlegenden: „In diesem 27. Jahr ist auch Leonhard Kaiser, der erstlich ein Pfaff war, zum Glauben Christi bekehrt und ward ein Diener des Evangelii und Worts Gottes. Ward demnach in Schärding im Baierland gefangen, durch den Bischof von Passau, auch andere Pfaffen und Domherren zum Feuer verurtlet und überantwortet am Freitag vor Laurenti des gemeldten Jahrs.“ Auf der Fahrt zur Verbrennungsstätte brach der Verurteilte eine Blume ab und sagte, er sei zu Recht verurteilt worden, wenn er und die Blume verbrennen würden. „Allein sein Haar verbrannte und die Nägel wurden braun, aber das Blümlein hatte er in seiner Hand ganz frisch. Danach wurde er in Stücken zerhaut und wieder ins Feuer geworfen, aber nicht verbrannt. Da haben sie die Stücke in den Inn Fluß geworden zu Schärding“ (Das große Geschichtsbuch der Hutterischen Brüder, 42).

Jakob Hutter (aus Bruneck im Pustertal) trat 1529 in Erscheinung und reiste mehrmals zwischen Tirol und Mähren hin und her, um täuferische Gemeinden aufzubauen und zu befrieden. Seine mährische Gemeinde in Auspitz sandte Hutter 1535 nach Tirol zurück, damit er drohender Verfolgung entginge. Die Kaiserlichen waren jedoch in Klausen zur Stelle und brachten den flüchtigen Hutter nach Innsbruck. „Jakob Hutter ist durch Betrug und Verräterei gefangen worden zu Klausen in Tirol, mit einem Knebel im Mund, ist gebunden und nach Innsbruck geführt worden. Mit großer Marter und Pein wollte man ihn abfällig machen. Man hat ihn in eiskaltes Wasser gesetzt und dann in eine heiße Stube getan. Man hat ihn mit Ruten geschlagen, Branntwein in die Wunden gegossen und angezündet. Er blieb aber beständig, und ist also lebendig auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden“ (Geschichte der Hutterischen Brüder, in kurzen Auszügen für den Gebrauch in der deutschen Schule, Elie, Manitoba 1997, 10). Die Verfolgungen brachten Wiedertäufer in vielen deutschen Herrschaften in die Gefängnisse, wo sie in Wort und Tat und schließlich auch durch den Tod bezeugen wollten, dass ihr Glaube wahr sei. Die erlittenen Verfolgungen wurden so zu einer wirksamen Werbung für die hutterische Sache. Der seiner selbst sichere Rigorismus tendiert folgerichtig zum spirituellen Superlativ: „Es ist unwahrscheinlich, dass das christliche Ideal der brüderlichen Liebe und der völligen Heiligung für den Dienst Gottes seit dem apostolischen Zeitalter jemals so umfassend verwirklicht wurde wie unter den mährischen Anabaptisten“ (John Horsch, The Hutterian Brethren, 1528–1931. A Story of Martyrdom and Loyality, Falher-Bassano, Alb., 1994, 20).

Auch wenn im Fortgang der Zeit die Hutterer nicht immer vom Tod (dem sie nie auswichen) bedroht waren, so war ihre Geschichte doch eine solche der Enteignung, der Fluchten und der Vertreibungen. Ihr Weg führte sie von der Schweiz und Tirol nach Mähren (1530–1622), in die Slowakei (1545–1762) und nach Siebenbürgen (1621–1767). Unter dem Druck von Maria Theresias Politik der Rekatholisierung konnten nur wenig Hutterer in die Walachei entkommen. Über die Endzeit in Siebenbürgen ist die Aufzeichnung eines Unbekannten aus dem Jahr 1764 erhalten: „Anno 1764 ist die Verfolgung auch über die Brüder zu Wintz in Siebenbürgen und an einigen andern Orten angebrochen. Erstlich wurden sie mit Gefängnuss gequält, dass etliche sich (unter-)weisen ließen und abfielen. Ihr Lehrer und Diener des Wortes, namens Joseph Gor, wurde aber mit einigen Brüdern, die zu ihm standen und beständig blieben, des Landes verwiesen. Gott führte sie in die Wallachey, da sie einen Ort des Aufenthalts fanden. Dahin ist denn auch eine merkliche Anzahl der Brüder aus Siebenbürgen geflohen. Es folgte aber bald darauf der Krieg zwischen Russland und der Türkey. Da sie nun von den Wallachen beraubt und sehr übel zugerichtet waren, wandte sich das arme elende Häuflein zu dem komandierenden Russisch-kais. General Feld Marschal Romanzow, welcher aus herzlichem Mitleiden sich der verjagten Leute annahm und sie bis hinter Baturin in Klein-Russland, auf seine Güter, in das Dorf Wisenkä am Fluss Desna schickte und ihnen daselbst einen Strich Landes zum Ort ihres Aufenthaltes übergab, woselbst sie in Frieden und Ruhe wohnten und wohin dann und wann sich noch eine merkliche Anzahl flüchtender Brüder eingefunden hat“ (Josef Beck, Die Geschichts-Bücher der Wiedertäufer in Österreich-Ungarn, Wien 1883, 617).

1770 hatte damit die Zeit der Hutterer in der Ukraine begonnen, die bis zum Jahr 1874 reichte. Auch in der Nachbarschaft der konfessionsverwandten Mennoniten, die sich in der Ukraine niedergelassen hatten, blieben die Hutterer stets eine kleine Gruppe. Das Spezifikum der hutterischen Kultur war der mit kompromisslosem Rigorismus verteidigte Gemeinschaftsgedanke, der die Grundlage des hutterischen Kommunismus bildet.

Der christliche Kommunismus der Hutterer

Ausgehend von dem Schlüsseltext Apg 2,42 – die erste Gemeinde blieb beständig in der Apostel Lehre, in der Gemeinschaft, und hielt fest am Brotbrechen und am Gebet – hat Andreas Ehrenpreiß schon 1652 die Gütergemeinschaft der Täufer als die „völlige christliche Ordnung“ beschrieben, „da wir zu unterschiedlichen Zeiten zwanzig und darüber Haushaltungen gehabt an unterschiedlichen Orten, Städten, Märkten und Dörfern, da manchmal an einem Ort drei, vier und auch sechs hundert Personen in einer Haushaltung beieinander gewohnet haben und alle nur eine Küche, ein Backhaus, ein Speisehaus, eine Schule, eine Stube für die Wöchnerinnen, eine Stube, da alle Mütter mit ihren jungen Kindern beieinander sind und so fortan; da in einer solchen Haushaltung ein Wirt und Haushalter ist, der alles Getreid, Wein, Wolle, Hanf, Salz, Vieh und alle Notdurft einkauft von dem Geld aller Hantierungen und Einkommens und wiederum austeilet nach Notdurft unter allesamt im ganzen Haus, Klein und Groß“ (Andreas Ehrenpreiß, Ein Sendbrief, anno 1652, Falher-Bassano, Alb., 1996, 10 ff.).

Dieses Gemeindeideal, das deutlich an die Vorstellung der societas perfecta anknüpft, wird in autonomem Lehrstolz als ein anabaptistisches Proprium reklamiert. In der Apostel Lehre „sollen sie nun beständig bleiben, nicht wanken, und keine andere Lehr annehmen. Weder von Papst, Kardinal, Bischof, Luther, Calvin, oder andere neue Kirchenlehrer, oder Sektierer. Diese haben die Lehre und das Exempel der ersten christlichen Kirchen verlassen und brauchen einen anderen Verstand, und meinen nur, ihr Wissen sei das Beste“ (aus der 5. Pfingstlehr, über Apg 2,40–42). Die kommunistische Lebensform der Hutterer wird durch Beispiele aus der Natur, die nicht biologischer Genauigkeit entsprechen, belegt: „Denn die wahre Gemeinschaft gefällt Gott, sie gefällt Jesum Christum und auch den Heiligen Geist. Die Aposteln lehren sie uns, und sie sind ein engelisches Leben. Denn die vielen Legionen Engeln Gottes sind in einer Gemeinschaft. Ja die Schaf und Bienen haben unter einander Gemeinschaft, und dadurch sehr lieblich und brauchbar. Die Wölfe, Füchse, Hunde, Löwen und Bären aber und andere wilde Tieren wohnen im Walde, und haben besondere Wohnungen. Das Brot besteht in der Gemeinschaft von vielen Körnlein, und der Wein in der Gemeinschaft vieler Beerlein“ (ebd.).

Nach Max Weber waren im Calvinismus das ethische Verhalten und der sich daran anschließende wirtschaftliche Erfolg die eindeutigen Symptome für den eigenen, durch Prädestination feststehenden Gnadenstand. Parallel dazu folgt im hutterischen Weltbild die Heilsgewissheit aus der Erwachsenentaufe, während gleichzeitig jede hutterische Kolonie ihr höchstes weltliches Ziel im wirtschaftlichen Erfolg definiert. Damit ist der Blick auf das Phänomen eines konturenreichen hutterischen Kapitalismus eröffnet. Am 14. November 2000 berichtet die Spokesman-Review in Spokane, dass zwei hutterische Kolonien und mehrere Farmer von den Umweltbehörden des Staates Washington mit hohen Geldbußen belegt worden waren, weil sie aus dem Columbia River und aus dem tief gelegenen natürlichen Grundwasserreservoir, dem Odessa Aquifer, unerlaubt viel Wasser für die Bewässerung entnommen hatten. Die Kolonie Marlin sollte 122 600 Dollar, die Kolonie Stahl 60 000 Dollar zahlen, weil beide sich außerdem geweigert hätten, die vorgeschriebenen Wasserzähler zu installieren. Benachbarte Farmer hatten sich beschwert, dass die Hutterer ihre Brunnen immer tiefer gelegt hatten, um das Aquifer ausgiebig anzuzapfen. Die Nachbarn waren so genötigt gewesen, ihrerseits tiefere Brunnen zu graben und stärkere Pumpen anzuschaffen, um ihr genehmigtes Kontingent an Grundwasser zu fördern. Die Dariusleut fühlten sich von den Behörden schlecht behandelt, weil das auf das expansive Agrobusiness in Marlin und Stahl (insbesondere Kartoffeln, Mais und Weizen) nicht eingegangen waren.

Im soeben vergangenen Wahlkampf erwiesen sich die Hutterer der USA als fanatische Republikaner, was für die Nachkommen derer, die seit dem 16. Jahrhundert von den Mächtigen verfolgt, misshandelt, ausgelöscht und vertrieben worden waren, ein bemerkenswerter Bruch mit der an sich politikfernen hutterischen Tradition bedeutete. Das Interesse der Hutterer an einer gesteigerten landwirtschaftlichen Produktion war mit dem konservativen Republikanismus amalgamiert. Im Oktober und November 2000 schien kein Blatt mehr zwischen die Hutterer und die Republikaner in County, Staat und Bund zu passen. So beiläufig das kleine Beispiel war, so typisch war es auch: Am 21. November 2000 – in Florida wurde gerade vor verschiedenen Gerichten um die manuelle Nachzählung von über 50 000 Stimmen, die von den Zählmaschinen nicht erfasst worden waren, gestritten – betete ein zehnjähriges hutterisches Kind in der deutschen Schule von Warden Colony. Sein innigster Gebetswunsch war: „... und lass uns die Wahl gewinnen.“

Auf Parteispenden konnten die Republikaner wegen der Armutsreflexe der Hutterer nicht rechnen. Wichtiger war jedoch die Präsenz der hutterischen Farmer als Element der republikanisch-konservativen Landbevölkerung, welche die Ziele der Republikaner absichert und mit der die republikanischen Politiker ständig kommunizieren. Umgekehrt ist es im Interesse des hutterischen Agrobusiness, durch Kontakte zu republikanischen Politikern auf die Gestaltung einer konservativen Landwirtschaftspolitik einzuwirken. Al Gore erhielt von den mit den Republikanern sympathisierenden Hutterern keine Unterstützung, weil er – im Geruch, die entwickeltere Umweltpolitik zu vertreten – wegen der „silly salmons“ (der dummen Lachse) keine Staudämme mehr bauen und die Entnahme von Wasser zur künstlichen Bewässerung blockieren würde. Dazu kam die größere ideologische Nähe zum republikanischen Denken. Georg W. Bush war im Vergleich mit Gore der „bessere Christ“, der ohne den Juden Joseph Lieberman als Vizepräsident auskommen werde. Die Demokraten wurden fast schon als Teufelsjünger disqualifiziert, die für Homosexuelle eintreten, an der Abtreibung festhalten und in den Schulen den Kindern das Thema „evolution“ beibringen würden. Die Demokraten waren für die Ehescheidung, und außerdem war Bill Clinton ein Demokrat, der das Weiße Haus zu einem Hurenhaus gemacht hatte. Welcher echte Hutterer musste da nicht vom Grund seines Herzens für die Republikaner sein?

Solange der Staat nicht die zentralen Elemente der archaischen Glaubenswelt der Hutterer in Frage stellt – Erwachsenentaufe, Freiheit vom Militärdienst (wie 1918 in den USA geschehen), Recht auf eigene Schulen –, kann er sich auf die absolute Treue der frommen Täufer verlassen. Deren Anspruch wird so bestätigt, außerhalb der „bösen Welt“ in einer „heiligen Gemeinschaft“ zu leben. Den Kolonien bleibt am Rand der Zivilgesellschaft genug Raum, ihrem kapitalistischen Eigennutz nachzugehen. Staatliche und nichtstaatliche Hilfen sozialer Art werden – besonders wenn sie umsonst vergeben werden – exzessiv nachgefragt. Die Hutterer sind regelmäßige Kunden in Ramschläden und Second-hand-Shops. Die Hutterer haben eine uneingeschränkte Sympathie mit dem Prinzip Law and Order. Der Todestrafe wird nicht widersprochen, denn wenn einer in Death row sitzt, sollte er wissen, was er verbrochen hat. Wenn aber ein Hutterer beim „speeding“ in Spokane ertappt wird und 200 Dollar Strafe zahlen soll, setzt er alle Hebel in Bewegung, um eine Reduktion der Geldstrafe zu erreichen. Dabei nützt ihm auch die Aussage seines deutschen Zeugen, der vor dem Mitigation Court des Amtsgerichts von Spokane Couty am 11. Dezember 2000 erklären soll, dass kein Verkehrsschild, das über eine reduzierte Höchstgeschwindigkeit Auskunft gab, zu sehen gewesen sei. Für die fünf Kolonien der Dariusleut in Washington ergibt sich eine spezifische Gemengelage: Anpassung aller Reflexe an das kapitalistische Wertesystem zwischen sektiererischem Elitismus und prosperierendem Agrobusiness. Lebensmittel, die das Verfallsdatum überschritten haben (beispielsweise Eier, Joghurt, Milch in Papiertüten, Käse, Kakao und Brot) und nicht mehr verkauft werden dürfen, werden in den lokalen Supermärkten entgegengenommen und in den Kolonien verzehrt. Wenn dann auch ein faules Ei das Rührei der Täufer ungenießbar macht, so ändert das nichts an dem etablierten kollektiven Reichtum der Kolonien. Die Kolonien sind steuerrechtlich als landwirtschaftliche Genossenschaften konzipiert. Jedes Mitglied – auch jedes Kind – ist als Teilhaber steuerpflichtig. In der Kolonie Reardan zahlte jedes Mitglied im Jahr 2000 etwa 12 000 Dollar an Steuern. Das wirtschaftliche Wachstum und die Ausweitung der landwirtschaftlichen Produktionsflächen sind stets eine Perspektive der hutterischen Zukunft. In einer der Kolonien in Washington ist es vorgekommen, dass der Haushalter, der für das Geld der Kolonie zuständig ist, einem Anlagebetrüger, der ihm 50 Prozent Zinsen per annum versprach, aufsaß und zwei Millionen Dollar verlor. Dieser Haushalter ist immer noch im Amt und derzeit bemüht, im Interesse einer gesteigerten Kartoffelproduktion das Odessa Aquifer leer zu pumpen. Die Formel vom „christlichen Kommunismus“ der Hutterer ist lediglich ideologisch geprägt und sollte ersetzt werden durch den Begriff „kapitalistischer Kommunismus“, der der wirtschaftlichen Praxis der Kolonien eher entspricht.

Angst vor der unheiligen Welt

Die fehlende soziale und politische Sensibilität der Hutterer ist eine Folge des rigorosen Elitismus und des praktizierten Isolatismus – hier „heilige Gemeinschaft“ und draußen die „böse Welt“. Die „plain education“ in den Kolonien reicht bis Klasse 9, manchmal bis Klasse 12, wenn die Weiterbildung in der Kolonie oder durch Fernkurse erlangt wird. Die einfache Bildung, die keine intellektuelle Weite und nüchterne Weltsicht zulässt, ist das Instrument des hutterischen Isolatismus. Dieser sprießt aus der Angst, dass zu viel Bildung den Transfer der unheiligen Welt in den archaischen Glauben bedeute. An diesem Punkt öffnet sich das Einfallstor für inner-hutterische Spannungen, denn die Schmiedeleut in Manitoba und in den beiden Dakotas stehen der höheren Bildung aufgeschlossen gegenüber. Sie lassen sogar junge Frauen Studiengänge an Colleges absolvieren, um sie als Lehrerinnen in der „deitschen Schul“ einzusetzen. Die Konservativen fürchten darin die Auflösung des traditionellen Frauenbildes, wie Herb Walter, Prediger und Lehrer in der Kolonie Schoonover (Washington) mit unkomplizierter Naivität reklamierte: „Der Mann ist das Haupt des Weibes!“ Die Frage, was die eigene Tradition sei, löst bei den Hutterern nur einen vagen Reflex aus, der im Bereich des Hörensagens entsteht. Die etablierte plain education verhindert, dass die Täufer in wünschenswertem Maße über ihre eigene Kultur Bescheid wissen. Großes und Kleines Geschichtsbuch, die maßgeblichen Quellenbücher zur eigenen Geschichte, stehen zwar in den Häusern, werden ihrem Inhalt nach jedoch nicht verstanden. Die Prediger, für den sonntäglichen Gottesdienst („Lehr“) und für das tägliche abendliche „Gebet“ zuständig, tun wenig zum besseren Verständnis der hutterischen Geschichte, weil sie mit den Geschichtsbüchern nicht arbeiten können. Auch die Lehrer, die die deutsche Sprache kaum verstehen und gern ins Englische ausweichen, haben in der hutterischen One-room-School keine Gelegenheit, den Schülern (6 bis 14 Jahre alt) neben Bibel- und Liedversen auch noch hutterische Geschichte zu erklären. Geschichte wird von dem „englischen Lehrer“ (in USA von der Kolonie angestellt und billig entlohnt, in Kanada von den Schulbehörden der Provinzen entsandt und als staatliche Lehrer vergütet) unterrichtet, das Curriculum reduziert sich jedoch auf die Geschichte der Vereinigten Staaten und Kanadas.

Keine hutterische Kultur ohne deutsche Sprache

Weil die deutsche Sprache der Hutterer immer mehr von Auszehrung bedroht ist, ergibt sich eine problematische Konstellation. Der Bildungsstand ist niedrig. Das Wissen über die hutterische Geschichte besteht nur noch aus Allgemeinplätzen. Defizits in der deutschen Sprache werden zunehmend mit Englisch und technologisch orientiertem Computerwissen aufgefüllt. In der Folge ist die hutterische Kolonie dann so „amerikanisch“ wie der sie umgebende ökonomische Kontext. Es gilt das Prinzip Time is money. Das Wissen in spiritualibus ist zur Nebensache degradiert, ohne dass die Hutterer diesen Substanzverlust schon ganz wahrnehmen. Ein hutterischer Lehrer fragte einen anderen: „Was heißt ,zweifeln‘?“ und erhält zur Antwort: „Wenn man doubten tut.“ In diesem Sinn wird nicht mehr deutsch gesprochen, sondern die Fremdsprache Deutsch wird Wort für Wort aus dem Amerikanischen erklärt. Der Lehrer schlachtet zwar Rinder und Schweine, produziert Bratwurst, repariert einen Traktor und eine Mähmaschine und organisiert außerdem die künstliche Düngung auf den endlosen Landflächen der Kolonie, aber er beherrscht die deutsche Sprache nicht mehr. Weil der Lehrer dem ideologisch begründeten Satz „no higher education“ verpflichtet ist, kann er sich auch kaum bei Institutionen der höheren Bildung um die Verbesserung seines Deutsch bemühen.

In der „deitschen Schul“ der Kolonie geht es archaisch-brutal zu. Lisa ist vor zehn Tagen sechs Jahre alt geworden. Dann kommt sie fünf Minuten zu spät zur Schule. Sie muss die Hand öffnen und erhält einen Schlag mit dem Lineal auf die Handfläche. Lisa weint. In der „deitschen Schul“ der Kolonien wird oft geweint. Das wird als Ausdruck der Liebe zum Kind beschönigt, aber es ist lediglich der Mangel an pädagogischer Vorbereitung der hutterischen Lehrer. Die ergänzende Beobachtung legt das nahe: In der „englischen Schul“ wird häufig gelacht, weil die „aus der Welt“ kommenden Lehrer nicht auf Körperstrafen zurückgreifen. Die hutterische Kultur ist ohne die Lutherbibel und die handschriftlich überlieferten deutschen Predigten nicht vorstellbar. Hutterische Prediger weichen erschrocken vor der Perspektive zurück, statt der überlieferten deutschen „Lehren“ irgendwann einmal englische Predigten von Billy Graham vorlesen zu müssen. Diese Prediger wissen aber genau, dass ihre Gemeinde immer häufiger englisch spricht und in der englischen Bibel liest. Auch die hutterischen Lehrer haben die defizitären Deutschkenntnisse bei sich und den Mitgliedern der Kolonien erkannt. Doch wie sollen sie verfahren, wenn ein ernsthaftes Deutschstudium, das auch Geld kosten wird, von den frommen Gemeinden wegen fehlender Einsicht nicht gewollt wird – no higher education? Im Staat Washington trafen sich am 3. Januar 2001 die Lehrer von fünf Dariuskolonien, um ein gemeinsames „Mission Statement“ für die deutsche Schule zu vereinbaren. Schizophren war lediglich, dass das Ziel, die deutsche Sprache gut zu lernen, auf englisch formuliert wurde.

Wird das Deutsch der Hutterer überleben? Der Linguist David Crystal hat Kategorien entwickelt, die erfüllt sein müssen, wenn eine Sprache überleben soll. Nach Crystal wird eine gefährdete Sprache weiterleben, wenn die Sprecher dieser Sprache ihr Prestige in der herrschenden Gesellschaft erhöhen, ihren Reichtum im Vergleich mit der umgebenden Gesellschaft steigern, ihre legitime Macht erhöhen und eine starke Präsenz im Erziehungssystem der dominanten Gesellschaft haben (David Crystal, Language Death, Cambridge University Press, Cambridge/England 2000, 130–136). Keine dieser Kategorien scheint für die Hutterer erfüllt zu sein. Sie stellen in USA und Kanada verschwindend kleine Minderheiten in einer englischsprachigen Umwelt dar, die der hutterischen Sonderkultur im besten Fall nur wohlwollendes Desinteresse entgegenbringt. Die Vermutung ist nicht abwegig, dass die Hutterer irgendwann ohne die deutsche Sprache auskommen müssen. Die hutterische Welt ist für die Frauen nicht die beste aller vorstellbaren Welten. Sie haben sich damit abgefunden, dass sie in der Küche und im Kindergarten der Kolonie dringend benötigt werden, die Männer dagegen die Posten Prediger, Lehrer, Haushalter, Weinsedel (field boss) und Diakon ausfüllen. Diese männliche Karriereperspektive führt dazu, dass junge Männer auch den Führerschein machen. Das kann dazu führen, dass ein junger Fahrer in Alberta nächtens betrunken einen Totalschaden macht und von seinem Vater aus der Polizeihaft in die Kolonie zurück geholt wird. Der Unfallfahrer war 26 Jahre, und er war getauft – ein erhebliches Problem für die Kirchenzucht seiner Kolonie.

Die Trunksucht – so wird von Hutterern bestätigt – ist in keiner Kolonie bekannt. Sie hat sogar unter Ansehung des Verhältnisses von Deutschen und Hutterern eine historische Dimension. Im Jahr 1944 waren in Lethbridge/Alberta deutsche Kriegsgefangene inhaftiert, die den Farmern der Umgebung zum Ernteeinsatz beigegeben wurden. Auch die Standoff Colony forderte die billigen Arbeitskräfte an und konnte mit ihnen sogar auf deutsch kommunizieren. Die deutschen Kriegsgefangenen begleiteten die hutterischen Freunde auch in das Städtchen Fort Macleod. Es ist guter hutterischer Brauch, dass von der Kolonie abwesende Männer zu zwei Glas Bier berechtigt sind, was auch für die Deutschen galt. Kanadische Bürger alarmierten die Polizei: in einem Pub säßen deutsche Kriegsgefangene mit Hutterern zusammen und tränken Bier. Die Militärpolizei sistierte die Leute, verwarnte die Hutterer und vereitelte weitere Provokationen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs.

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