Seit es die Menschheit gibt, werden Chaos und Ordnung als Gegensätze angesehen. Mythen, Kosmogonien und auch die moderne Chaostheorie bewegen sich in dieser Spannung zwischen Zufall und Notwendigkeit oder eben Chaos und Ordnung. Die Art, wie diese Gegensätze des Näheren begriffen werden, ist allerdings im Einzelnen sehr verschieden. Obwohl es Versuche gibt, die moderne wissenschaftliche Diskussion an ältere, mythische oder metaphysische Weltbilder anzuschließen, ist doch Vorsicht geboten, weil ein mythisches oder metaphysisches Weltbild nicht so sehr an objektivem Wissen interessiert ist, sondern mindestens ebenso sehr die Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt zu beantworten sucht. In vielen Weltbildern dominieren einseitig Ordnungsvorstellungen: Das Sein beherrscht das Werden. So hat man mit guten Gründen bei Aristoteles von einem deterministischen Weltbild gesprochen. Aristoteles kennt zwar keine Naturgesetze im Sinn der Moderne, aber er ist davon überzeugt, dass alle Prozesse in der Natur klar auf ein Gut ausgerichtet sind. Das Dysfunktionale, Leiden, Tod, Verderben oder auch nur das Zufällige waren für ihn nur eine Sekundärwirkung des materiellen Prinzips, das am Fuße der „scala naturae“ dominierte. Im Geist wie im Weltall hingegen herrschte Notwendigkeit.
Das Nachwirken der antiken Seinsmetaphysik in der modernen Physik
Womöglich noch radikaler war Leibniz. Seine Philosophie ist das durchgeführte Anti-Chaos. Nach seiner Lehre sind die Naturmonaden bis ins Unendliche hinein ausdifferenziert. Dies besagt, dass es ernstlich keinen Zufall in der Natur geben kann. Eine durchgeführte „mathesis universalis“ würde alles bis ins Kleinste begreifen und als vernünftig und gerechtfertigt beurteilen.
Der Vernunftoptimismus der Antike oder der noch radikalere der Aufklärung ist uns jedoch gründlich vergangen. Die Welt sieht nicht so aus, als sei sie die „beste aller möglichen“. Die Sehnsucht nach Ordnung hat sich auf der anderen Seite wiederum nicht verflüchtigt, sie lebt in unserem wissenschaftlichen Bemühen weiter, die Welt berechenbar, handhabbar und vorhersehbar zu machen. Obwohl die Natur, lebensweltlich gesehen, mindestens ebenso viele chaotische wie geordnete Seiten zeigt, hat sich deshalb auch die moderne Physik seit der Neuzeit einseitig für das Geordnete, Determinierte interessiert und alles Übrige ausgeblendet und verdrängt. Man kann diese Suche nach einer ewigen, unveränderlichen Weltordnung mit den Mitteln der modernen Physik als ein Nachwirken der antiken Seinsmetaphysik interpretieren – und es ist wohl kein Zufall, dass moderne Physiker wie Max Planck, Albert Einstein oder Werner Heisenberg ganz bewusst auf platonische Vorstellungen zurückgegriffen haben. Ein solcher Platonismus entzündet sich übrigens beständig neu. Heute wird er zum Beispiel von Roger Penrose vertreten (Schatten des Geistes. Wege zu einer neuen Physik des Bewusstseins, Heidelberg 1995). Freilich hat dieser moderne Platonismus mit dem antiken nur den Namen und die Grundvorstellung gemein: dass dem steten Werden der Natur ein Gleichbleibendes zugrunde liegen müsse. Die Differenz zwischen dem antiken und dem modernen, wissenschaftlich eingefärbten Platonismus liegt aber darin, dass der antike Platonismus handlungsleitend war. Die höchste Idee, die Idee des Guten, war bei Plato zugleich Quelle aller Normen im ethischen oder juridischen Sinne. Wenn demgegenüber Planck oder Einstein von einer „Weltordnung“ sprechen, denken sie nur noch an eine mathematisch beschreibbare Ordnung, wie sie sich in gewissen abstrakten Erhaltungssätzen oder Symmetrieprinzipien ausdrückt. Diese Ordnung steht gleichwohl für das Bleibende in der Flucht der Erscheinungen. Mit diesem Programm hatte die Physik zunächst einmal unglaublichen Erfolg. Ein Meilenstein in ihrer Entwicklung war die Entdeckung der Keplerschen Planetengesetze und ihre Ableitung aus den Newtonschen Axiomen. Das Wort Planet kommt von griechisch „planasthai“ und bezeichnet einen Irrläufer. Während sonst alle Gestirne einen regelhaften Ablauf zeigen, schienen die Planeten wahllos umherzuirren. Es war ein Triumph des menschlichen Geistes, als gezeigt werden konnte, dass dieses Umherirren bloßer Schein war und dass auch die Planetenbewegungen strengen und einfachen Gesetzen genügen. Man kann die Entwicklung der Physik bis hin zur Relativitätstheorie Einsteins als den Versuch ansehen, Kontingenz in der Natur zu reduzieren und alles Regellose auf Regel und Konstanz zurückzuführen. Die Quantentheorie war der erste radikale Bruch in diesem Programm, weil sich hier zeigte, dass es im Mikrophysikalischen echten Indeterminismus gibt. Der Widerstand von Planck und Einstein gegen die Quantentheorie erklärt sich aus ihrem Festhalten an einer traditionellen Metaphysik des Seins. Wissenschaftler, die weniger aufs Theoretische als aufs Praktische ausgerichtet waren, hatten einen weiteren Grund, weshalb sie am Determinismus festhielten: Je unverbrüchlicher die Gesetze der Natur waren, umso eher ließen sie sich technisch ausbeuten. Eine „unberechenbare“ Natur setzt unserem Manipulationsdrang Grenzen. Der Indeterminismus der Quantentheorie war immerhin insofern noch harmlos, als er nur in Größenordnungen eine Rolle spielt, die für unsere technische Weltbewältigung gleichgültig ist. Auch wenn die Quanten unvorhersehbar reagieren, so blieb doch der Mesokosmos, das heißt unsere Lebenswelt, davon unberührt. Das hat sich erst mit der Entstehung der Chaostheorie geändert: Sie hat zu allerhand Spekulationen geführt, die nicht nur auf die Populärwissenschaft beschränkt blieben. Wenn eine Monatszeitschrift wie „GEO“ ein recht überschwänglich geratenes Heft über „Chaos und Kreativität“ herausbringt (November 1993) oder ein Wissenschaftsjournalist wie James Gleick die Chaostheorie zur Weltanschauung hochstilisiert (Chaos – die Ordnung des Universums, München 1988), mag man dies verständlich finden. Aber die Ausweitung der Chaostheorie zur Weltanschauung hat längst seriöse Wissenschaftler erfasst.
Überschwängliche Spekulationen
So fand die 115. Versammlung „Deutscher Naturforscher und Ärzte“ 1988 in Freiburg zum Thema „Ordnung und Chaos in der belebten und unbelebten Natur“ statt. Der von Wolfgang Gerok herausgegebene Dokumentationsband bestätigt, dass der Chaosbegriff auch unter Wissenschaftlern zur beliebigen Spielmarke geworden ist, die man – völlig unabhängig von ihrer mathematischen Definition und ihren quantitativen Implikationen – in ganz unterschiedlichen Gebieten anwenden zu können glaubt (Ordnung und Chaos in der belebten und unbelebten Natur, 2. Aufl., Stuttgart 1990). Von hier aus ist der Weg zu ideologischen Machwerken der Psycho- und Esoterikszene fließend (vgl. zum Beispiel Stephen Wolinsky, Das Tao des Chaos. Quantenbewusstsein und das Enneagramm, Freiburg 1996). Eine gute Einführung in die Chaostheorie stammt demgegenüber von Heinz Georg Schuster (Deterministisches Chaos, Weinheim 1994), eine sowohl physikalisch als auch philosophisch verlässliche Darstellung von Theodor Leiber (Kosmos, Kausalität und Chaos, Würzburg 1996).
Das Entstehen der physikalischen Chaostheorie in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde präludiert durch Überlegungen von Mathematikern wie Henri Poincaré, der hundert Jahre früher gezeigt hatte, dass die Planetenbahnen nicht notwendigerweise stabil sind. Dies waren zunächst die theoretischen Reflexionen eines Gelehrten, die nicht die Resonanz fanden, die ihnen gebührte. Aber die eigentliche Ursache für die mangelnde Resonanz lag wohl – gemessen am revolutionären Charakter dieser Überlegungen – darin, dass niemand Interesse hatte, von deterministischen Vorstellungen in einem Bereich abzurücken, der ja gerade ein Feld des Triumphes für die deterministische Konzeption war.
Wie sehr auch praktische Hintergrundüberzeugungen eine wichtige Rolle beim Entstehen der Chaostheorie spielten, zeigen die Überlegungen, die Edward Lorenz in den sechziger Jahren anstellte, um das Wetter in den Griff zu bekommen. Damals gab die US-amerikanische Regierung viel Geld aus, um die Wetterprognose auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Diese frühen Untersuchungen zum „deterministischen Chaos“ standen damit von vornherein unter dem zweckrationalen Anspruch, die wissenschaftsgestützte Beherrschung der Natur in einem Feld voranzutreiben, das sich bislang als resistent erwiesen hatte. Lorenz arbeitete mit den ersten, noch wenig leistungsfähigen Computern, um verschiedene Wetterszenarien zu simulieren. Dabei entdeckte er, was man später den Schmetterlingseffekt genannt hat: die Tatsache, dass sich bei nichtlinearen Systemen winzige Differenzen in den Anfangsbedingungen, also winzige Unterschiede in der Ursachenkonstellation, gravierend verstärken können, sodass das System schließlich unvorhersehbar reagiert. Lorenz hielt diese Entdeckung zunächst für einen durch den Computer hervorgerufenen „Dreckeffekt“. Er konnte zunächst nicht glauben, dass ein System, das er aufgrund streng deterministischer Gesetze eingerichtet hatte, chaotisches Verhalten zeigen würde.
Auch in der Kultur gibt es Beispiele chaotischen Verhaltens
Tatsächlich können sich in nichtlinearen Systemen aber kleine Abweichungen so auswirken, dass sich das ganze System in eine andere Richtung entwickelt. Da wir die Anfangsbedingungen niemals beliebig präzise festlegen können, hindert der deterministische Charakter dieser Systeme nicht, dass sie ins Chaos abstürzen. Allerdings beschreibt die Chaostheorie nicht einen starren Gegensatz zwischen Ordnung und Chaos, sondern sie kann ein präzises Maß der „Chaotizität“ angeben. Auf diese Weise kann man Aussagen treffen, wie lange sich einigermaßen gesicherte Wettervorhersagen machen lassen. Beim Wetter sind dies ungefähr zwei Tage. Alle längerfristigen Prognosen bleiben willkürlich und werden es auch in Zukunft sein. Aus dem Gesagten wird deutlich, dass auch die Chaostheorie, wie jede physikalische Theorie, in den „Funktionskreis des Instrumentellen Handelns“ (Jürgen Habermas) gehört. Sie beschreibt nicht das Chaos als solches, sondern bestimmt die Grenzen der Determination von innen, das heißt von ihrer Berechenbarkeit her und ist somit technisch anwendbar. Das Chaos der Chaostheorie hat also nichts mit dem „schöpferischen Chaos“ zu tun, das den Künstler zu seinem Werk inspiriert, oder mit dem „Tao des Chaos“, das Wolinsky in der menschlichen Psyche suchte und allein aus diesem Grunde auch fand. Nachdem man chaotisches Verhalten beim Wetter entdeckt hatte, entdeckte man es bald überall. Die Physiker hatten offenbar über Jahrhunderte unter einer selektiven Wahrnehmung gelitten, die sie veranlasste, so unverfängliche Phänomene wie turbulente Strömungen im Wasser oder in der Luft nicht ernst zu nehmen. Turbulente Strömungen im Zigarettenrauch etwa sind ein gutes Beispiel für deterministisches Chaos. Doch die Physiker haben lange geglaubt, dass sich in solchen Phänomenen nichts Charakteristisches zeige. Inzwischen blieb keine physikalische Disziplin von der neuentstandenen Theorie verschont.
So lässt sich die Chaostheorie mit der Relativitätstheorie oder der Quantentheorie verbinden. Selbst im Bereich der durch die klassische Physik beschrieben wird, gibt es chaotische Phänomene, so etwa beim „Dreikörperproblem“: wenn nicht nur die Sonne mit je einem Planeten in Wechselwirkung steht, sondern die Wirkungen dreier Körper interferieren. Nicht nur in der Natur, auch in der Kultur fanden sich schließlich Beispiele von chaotischem Verhalten. So bei Börsenkursen, beim Verkehrsfluss auf Autobahnen, in der Psychologie, Soziologie und in allen möglichen anderen Wissenschaften. Dies zeigt, dass es sich bei der Chaostheorie nicht um eine Bereichstheorie handelt, wie die Quantentheorie oder Relativitätstheorie, die im Kleinen oder Großen oder bei sehr großen Geschwindigkeiten gilt. Auch sagt die Chaostheorie offensichtlich nichts über irgendwelche fundamentalen Naturkräfte aus – sonst wäre sie nicht auf kulturelle Phänomene anwendbar. Im Grunde bezieht sich die Chaostheorie auf alle Systeme, deren wesentliche Parameter quantifizierbar sind und die gewisse abstrakte Eigenschaften aufweisen: wie eine sensitive Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen, Mischungen der Bahnen im Zustandsraum, die Existenz periodischer Punkte und Ähnliches mehr. Alle Systeme, die solchen abstrakten, mathematisch definierten Bedingungen genügen, sind chaotisch im Sinn der Theorie, ohne dass man festlegen muss, welche Kräfte in diesen Systemen wirken und in welchen Gegenstandsbereich sie fallen. Die Chaostheorie ist damit der Kybernetik vergleichbar. Letztere beschreibt Systeme, die eine gesetzlich geregelte Transformation von Input- in Outputgrößen aufweisen, wobei diese Systeme Menschen, Affen, Bügeleisen oder mathematische Gleichungen sein können. Das kybernetische System ist nur über bestimmte abstrakte Eigenschaften definiert, die indifferent sind zu ihrer konkreten Realisation. Von daher war die Chaostheorie nicht einfach eine weitere Revolution innerhalb der Physik nach Relativitäts- und Quantentheorie. Sie liegt auf einer anderen Ebene als diese Theorieansätze.
Gleichwohl darf man erwarten, dass die Chaostheorie unser Naturbild gravierend verändern wird, sollte dies nicht schon geschehen sein. Die Existenz nichtlinearer, chaotischer Phänomene impliziert nämlich eine prinzipielle Grenze der Berechenbarkeit und Manipulierbarkeit von Welt. Seit Francis Bacon war es das Pathos der Neuzeit, die Welt zu beherrschen, indem man ihre Gesetzlichkeit instrumentalisierte. Dieses Prinzip „Wissen ist Macht“ hat nun einen kräftigen Dämpfer erhalten. Es scheint, dass dies schon jetzt zu einem Umschwung der Naturauffassung führt, der epochalen Charakter haben könnte. In diesem Sinn sind Publikationen zu deuten, die schon im Titel von einem Übergang „Vom Sein zum Werden“ sprechen (Ilya Prigogine, Vom Sein zum Werden. Zeit und Komplexität in den Naturwissenschaften, München 1979). Wenn diese Redeweise auch etwas Emphatisches hat, so signalisiert sie doch, dass das Projekt, alles Werden auf eine starre Seinsordnung zurückzuführen, gescheitert ist. Nachdem wir einmal darauf aufmerksam geworden sind, entdecken wir also überall in der Natur chaotische Phänomene, nichtvorhersehbare Symmetriebrüche. Selbst der Zufall scheint zu einem schöpferischen Prinzip zu mutieren: Bei einer besonderen Klasse von nichtlinearen Phänomenen kann es aufgrund eines Prinzips der Selbstorganisation zu spontaner Strukturentstehung kommen, die oft durch nichtmanipulierbare, mikrophysikalische Schwankungen angestoßen wird.
Natürlich ist es übertrieben, wenn hier manche Autoren von einer „schöpferischen Materie“ sprechen, so wie die Behauptung überzogen wäre, man könne jetzt erklären, wie „Ordnung aus Chaos, Vernunft aus Zufall“ hervorgegangen ist (so der Anspruch von Klaus Schulten in: Bernd-Olaf Küppers [Hg.], Ordnung aus dem Chaos, München 1987, 243 ff.). Aber solche populärwissenschaftlichen Spekulationen signalisieren doch eine gewisse Verschiebung in unserem Naturbild. Hatten wir traditionellerweise geglaubt, die Natur sei zusammengehalten von einer Art eisernem Gestänge der kausalen Determination, das ihr innerlichen Halt verleiht, so glauben wir heute, dass die Natur zwischen Ordnung und Chaos oszilliert. So hat der Physiker Paul Davies in seinem Buch über die Chaostheorie zwei antagonistische Kräfte im Weltall ausmachen wollen: eine zerstreuende, dominiert durch den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik (Entropiesatz) und eine sammelnde, gestalterzeugende, wie sie sich in der Selbstorganisationsdynamik der Materie ausdrückt. Davies spricht von einem „pessimistischen“ und einem „optimistischen Pfeil“ im Universums (Prinzip Chaos. Die neue Ordnung des Kosmos, München, 1988, 35). Allerdings sollte man beachten, dass solche anthropomorphen Redeweisen den physikalischen Sachverhalt überfrachten. Nachdem wir von einer klassischen Metaphysik der sinndurchtränkten Weltordnung zu einer mathematisch berechenbaren, rein syntaktisch definierten Weltordnung übergegangen sind, haben wir keine Möglichkeiten mehr, Sinnperspektiven aus der Physik abzuleiten. Die Mathematisierung der Welt ist mit einem Verlust an Sinndimensionen erkauft. So wie die Idee des Guten aus dem modernen Platonismus der Physiker entwichen ist, so entlässt die moderne Physik keine handlungsleitenden Normen mehr aus sich, auch nicht in ihrer Form als Chaos- oder Selbstorganisationstheorie.
Es ist also Vorsicht geboten bei direkten Übergängen zwischen Chaostheorie und Theologie. Beide Disziplinen liegen auf einer völlig verschiedenen Ebene. Sollte es Vergleichbarkeiten zwischen ihnen geben, dann nur über metaphysische Brückenprinzipien, die aber gesondert zu legitimieren wären und die keinesfalls analytisch in der Fachwissenschaft enthalten sind. Angesichts des metaphysischen Hintergrunds mancher Forscher hat sich gezeigt, dass eine gewisse aber nicht zwingende Wahlverwandtschaft zwischen Weltanschauung und Wissenschaft besteht. Wenn man der Überzeugung ist, dass es Aufgabe der Physik sei, das Bleibende im Wechsel der Erscheinungen herauszuheben, und wenn man dieses Bleibende als ontologischen Grund des sich Wandelnden interpretiert, dann legt sich ein physikalistischer Platonismus nahe. Auf der Ebene solcher Interpretationen kann die Chaostheorie zu einem veränderten Wirklichkeitsverständnis führen. Wenn selbst deterministische Gesetze nicht hindern, dass physikalische Systeme ins Chaos abstürzen, wenn Chaos eine viel verbreitetere Erscheinung in der Natur ist, als bisher angenommen, wenn weiter nichtlineare Kraftverhältnisse zu spontaner Strukturentstehung führen können, die durch nichtantizipierbare Zufälle angestoßen werden, dann legt sich ein verändertes Naturbild nahe, wonach Natur nicht so sehr die Bestätigung von ewigen Gesetzen darstellt, sondern ein dynamisches, geschichtliches oder schöpferisches Werden, das sich zwischen Chaos und Ordnung bewegt, um Neues zu produzieren.
Die Heilsgeschichte bis in die Kosmologie hinein verlängern
Aber auch eine solche Deutung folgt in keiner Weise zwingend aus der physikalischen Chaostheorie. Aus keiner wie auch immer gearteten physikalischen Theorie folgt eine wie auch immer geartete Metaphysik zwangsläufig. Es ist gerade die Pointe und die Stärke moderner empirischer Wissenschaft, dass sie sich von solchen weltanschaulich-metaphysischen Rahmenbedingungen unabhängig macht. Daher lässt sich auch keine materialistische Metaphysik aus ihr ableiten, wie dies zum Beispiel Bernulf Kanitscheider versucht hat (Von der mechanischen Welt zum kreativen Universum, Darmstadt 1993), allerdings auch keine spiritualistische, wie das Autoren wie Friedrich Cramer anstreben. Cramer behauptet zum Beispiel, dass die „Selbstorganisation eine Grundeigenschaft der Materie“ sei, was bedeute, dass „jede Materie a priori ideenträchtig ist“. Selbstorganisation sei „das eigentliche metaphysische Element in einer naturwissenschaftlichen Evolutionstheorie“ (Chaos und Ordnung, Frankfurt 1993, 229 f.). Hier wird ein logisch zwingender Konnex zwischen einer modernen physikalischen Theorie und einer Selbstorganisations-Metaphysik behauptet, die die Anwesenheit eines ideellen Prinzips in der Materie „beweisen“ soll. Solche Äußerungen findet man des öfteren bei Physikern, wenn sie über die Chaostheorie reflektieren. So behauptet auch der Züricher Astrophysiker Arnold Benz, dass sich die Naturwissenschaft mittels der Chaostheorie „den geistigen Werten genähert“ habe (Die Zukunft des Universums. Zufall, Chaos, Gott? Düsseldorf 1997, 137). Derartige Sirenengesänge hören die Theologen gerne. Nachdem die Naturwissenschaft 300 Jahre lang als „materialistische“ Instanz gegolten hatte, scheint sie sich jetzt wieder „dem Geist“ oder „dem Ideellen“ zu nähern. Tatsächlich hängen all diese Schlussfolgerungen jedoch in der Luft. Da der Begriff des Geistes physikalisch nicht definiert ist, gibt es von der Physik her auch keine Möglichkeit, seine Präsenz dingfest zu machen. Gleichwohl sind solche Spekulationen bei Theologen sehr beliebt (für die evangelische Theologie vgl. zum Beispiel: Sigurd M. Daecke [Hg.], Naturwissenschaft und Religion. Ein interdisziplinäres Gespräch, Mannheim 1993, 207 ff.; für die katholische: Alexandre Ganoczy, Chaos, Zufall, Schöpfungsglaube. Die Chaostheorie als Herausforderung an die Theologie, Mainz 1995).
In Wahrheit lässt sich jedoch ohne die Vermittlung einer selbstständigen und daher begründungspflichtigen Metaphysik die Brücke von der Chaostheorie zur Theologie nicht schlagen, und man kann vielen Theologen den Vorwurf nicht ersparen, sich statt an einer ordentlichen Metaphysik an der bloßen Populärwissenschaft zu orientieren. Das Vertrackte ist allerdings, dass die Verfasser populärwissenschaftlicher Bücher oft zugleich bedeutende Wissenschaftler oder, wie im Fall von Prigogine, sogar Nobelpreisträger sind. Es ist für den Außenstehenden oft nicht leicht zu entscheiden, wo die Wissenschaft aufhört und die Propaganda anfängt. Dies aber ist der Fall, wenn Prigogine behauptet, die physikalische Selbstorganisationstheorie verfüge über Begriffe wie „schöpferisches Werden“, „Geschichtlichkeit der Natur“, „aktive Materie“, einen „Dialog mit der Natur“ usw. (Ilya Prigogine und Isabelle Stengers, Dialog mit der Natur, München 1981).
Wenn es jedoch gelänge, solche Begriffe wie „schöpferisches Werden“ oder einen „Dialog mit der Natur“ philosophisch zu begründen, etwa auf die Art, wie dies Charles S. Peirce oder Alfred N. Whitehead vorgeschlagen haben, dann ließen sich die Neuentdeckungen der Chaostheorie in ein solches Begriffsraster einordnen und mit einer Schöpfungstheologie verbinden. Man hat gegen die Idee einer starren Seinsordnung der Welt eingewandt, dass sie nicht gut zum christlichen Schöpfungsbegriff passe. Ebenso widerstreitet die klassisch-physikalische Konzeption einer totaldeterminierten Welt dem christlichen Ansatz, weshalb Physiker wie Einstein konsequenterweise die menschliche Freiheit und die Existenz eines persönlichen Gottes bestritten haben. Die neuen Einsichten der Chaostheorie sind, unter der genannten Einschränkung, theologisch viel leichter in ein Konzept der „creatio continua“ einzuordnen. Die Beliebtheit der Chaostheorie bei den Theologen hat also auch ein fundamentum in re. Mit ihrer Hilfe lässt sich nämlich die Heilsgeschichte nicht nur auf die Evolution des Lebendigen, sondern bis hinein in die Kosmologie verlängern.