Die Ökumene ist und bleibt weltweit eine Melange aus hochfliegenden Erwartungen, gemeinsamen Gesprächsrunden und daraus resultierenden Dokumenten sowie gelegentlichen Störfeuern derer, die um ihre konfessionelle Identität fürchten. Dies bestätigte sich Mitte April auch in Straßburg, als die „Charta Oecumenica“ für Europa, dem Kontinent von dem die Trennung der Kirchen ausging, verabschiedet wurde. Die Unterzeichnung des Dokuments stand am Ende des „Millenniumtreffens“, einer Begegnung des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) mit dem Zentralausschuss der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK). Während die katholische Kirche im „Consilium Conferentiarum Episcoporum Europae“ durch die Vorsitzenden der 34 Bischofskonferenzen des Kontinents vertreten ist, versammelt die Konferenz Europäischer Kirchen mit 123 protestantischen, anglikanischen, altkatholischen und orthodoxen Kirchen fast alle übrigen christlichen Glaubensgemeinschaften des Kontinents. Allerdings sind beispielsweise die orthodoxen Kirchen Georgiens und Bulgariens erst jüngst (1997 beziehungsweise 1999) aus der KEK (und dem ÖRK) ausgetreten.
Ursprünglich war für das sechste Treffen der beiden Dachorganisationen zehn Jahre nach der letzten Gemeinsamen Begegnung 1991 im spanischen Santiago de Compostela als Tagungsort Saloniki vereinbart worden. Nachdem dies an der derzeit religionspolitisch heiklen Lage in Griechenland scheiterte (vgl. dieses Heft, 278), wurde unter dem Motto „Ich bin bei euch alle Tage, bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,20) vom 19. bis 22. April nach Straßburg eingeladen. Johannes Paul II. erinnerte in seiner Grußbotschaft daran, dass das am Beginn des neuen Jahrtausends von allen Kirchen gemeinsam gefeierte Osterfest dem ökumenischen Treffen innerhalb der Oktav einen besonderen Stellenwert gab. Auch darüber hinaus waren beziehungsreiche Details keine Mangelware: Die Stadt Straßburg sei als Ort einer langen Geschichte der Spaltungen zwischen zwei christlichen Völkern und zwei Konfessionen auf der einen Seite und als Sitz des Europarats auf der anderen geradezu prädestiniert für diese Begegnung, betonte deren Erzbischof Joseph Doré; die Sitzungen selbst fanden im Lichthof des Palais Universitaire statt, unmittelbar zwischen den Flügeln mit den Räumlichkeiten der evangelischen und der katholischen Fakultät. Der Rahmen stimmte also, als nach vier Jahre währenden Beratungen Metropolit Jérémie Caligiorgis, Metropolit der griechisch-orthodoxen Kirche in Frankreich, Spanien und Portugal, und Kardinal Miloslav Vlk, Erzbischof von Prag, die Charta Oecumenica in der lutherischen St.-Thomas-Kirche unterschrieben und damit einem Auftrag der Zweiten Europäischen Versammlung in Graz im Jahr 1997 entsprachen (vgl. HK, August 1997, 395 ff.). Dort hieß es im Schlussdokument: „Wir empfehlen den Kirchen, ein gemeinsames Dokument zu erarbeiten, das grundlegende ökumenische Pflichten und Rechte enthält und daraus eine Reihe von ökumenischen Richtlinien, Regeln und Kriterien ableitet, die den Kirchen, ihren Verantwortlichen und allen Gliedern helfen, zwischen Proselytismus und christlichem Zeugnis sowie zwischen Fundamentalismus und echter Treue zum Glauben zu unterscheiden und schließlich die Beziehungen zwischen Mehrheits- und Minderheitskirchen in ökumenischem Geist zu gestalten“ (Handlungsempfehlungen 1.2). Auf der Grundlage eines 1999 veröffentlichten, in zwanzig Sprachen übersetzten und in den Mitgliedskirchen diskutierten Entwurfs liegt nun ein acht Seiten umfassendes Dokument vor, in dem in zwölf Punkten Leitlinien für eine „ökumenische Kultur des Dialogs und der Zusammenarbeit“ unter den Kirchen in Europa zusammengefasst sind. Sie sollen auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens Anwendung finden.
Absage an konkurrierende Mission
Das Dokument enthält sowohl die Selbstverpflichtung zu mehr Einheit untereinander als auch zur Förderung von Frieden, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit wie zur Bewahrung der Schöpfung auf dem Kontinent. Im Mittelpunkt steht freilich die ökumenische Zusammenarbeit, um die Einheit der von allen im Credo bekannten „einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche“ sichtbar werden zu lassen (Nr. 1). Dass diese gerade im Fall mehrerer etablierter christlicher Kirchen auf einem Territorium ein Problem sein kann, zeigt sich an dem Vorwurf der Proselytenmacherei, der von orthodoxen Kirchen in Osteuropa erhoben wird. In dem Papier verpflichten sich die Kirchen deshalb, keine konkurrierende Mission zu betreiben, zumal Gläubige unter keinen Umständen „durch physische Gewalt, moralischen Zwang, psychischen Druck oder materielle Anreize“ zur Konversion bewegt werden sollen. Auf der anderen Seite steht unter Berufung auf die Gewissensfreiheit im Endtext, dass niemand daran gehindert werden dürfe, „aus freien Stücken zu konvertieren“ (Nr. 2). Grundsätzlich soll in Sachen Evangelisierung gegenüber den anderen Kirchen Transparenz herrschen, um eine „schädliche Konkurrenz sowie die Gefahr neuer Spaltungen zu vermeiden“. Auch dürften die Kulturen in Europa Religion und Kirche nicht „für ethnische oder nationalistische Zwecke“ missbrauchen (Nr. 7). Missverständnisse und Vorurteile zwischen Mehrheits- und Minderheitskirchen in den jeweiligen Ländern seien abzubauen (Nr. 4).
Darüber hinaus wird empfohlen, „die Gottesdienste und die weiteren Formen des geistlichen Lebens anderer Kirchen kennen und schätzen zu lernen“ und „dem Ziel der eucharistischen Gemeinschaft entgegenzugehen“ (Nr. 5). Anstelle der „Suche nach Begegnungen miteinander“ hatte es im Entwurf noch geheißen, dass man „regelmäßig ökumenische Gottesdienste feiern“ soll. Vor allem auf evangelischer Seite wurde bedauert, dass man diesen Punkt nicht in den endgültigen Text hinüberretten konnte. Auch anderes wurde vorsichtiger und zurückhaltender formuliert: So ist im Text zwar noch vom „Bewusstsein unserer Schuld“ angesichts der Kirchenspaltungen die Rede, die im Entwurf noch direkt geforderte Aufarbeitung findet sich hingegen nicht mehr. Demgegenüber wurden die Forderungen nach einem interreligiösen Dialog deutlich differenzierter formuliert (Nr. 10–12). Auch dem Gespräch mit den Muslimen ist jetzt ein eigener Punkt gewidmet.
Lehmann wurde nicht CCEE-Präsident
Nicht wenige haben angesichts der Selbstverpflichtungen des Dokuments ihre Enttäuschung zum Ausdruck gebracht, dass der Text kaum Neues enthalte. Tatsächlich findet sich beispielsweise angesichts der im deutschen Sprachraum gelebten Ökumene nichts Revolutionäres. Allerdings ist auch zu berücksichtigen, dass aus europäischer Perspektive viele der Forderungen erst noch umgesetzt werden müssen. Dass es sich bei dem Text nicht um ein Konsenspapier handelt, das keinem mehr weh zu tun vermag, war allein schon daran abzulesen, dass sich die Russisch-Orthodoxe Kirche, Mitglied in der KEK, noch am Tag der Unterzeichnung von der Charta Oecumenica distanzierte, ungehindert der Tatsache, dass auch Patriarch Aleksij II. eine Grußbotschaft nach Straßburg geschickt hatte. Im Moskauer Patriarchat nimmt man vor allem Anstoß an der Verpflichtung zur sichtbaren Einheit der Kirche, vor allem am gemeinsamen Gebet („Miteinander beten“ ist die Nr. 5 überschrieben). Auf der anderen Seite haben evangelikale Gruppierungen mit Blick auf die Beschränkungen von Missionsversuchen Vorbehalte angemeldet.
Nicht nur angesichts dieser Reaktionen ist deshalb weitgehend offen, welche Bedeutung die Charta Oecumenica in den einzelnen Kirchen haben und welcher Erfolg ihr insgesamt beschieden sein wird. Gleich zu Beginn heißt es nicht umsonst einschränkend, dass die Charta „keinen lehramtlich-dogmatischen oder kirchenrechtlich-gesetzlichen Charakter“ habe. Faktisch wurde auch nicht die Charta Oecumenica selbst, sondern lediglich ein Brief unterzeichnet, in dem die beiden Vorsitzenden des CCEE und der KEK ihren jeweiligen Mitgliedskirchen empfehlen, sich die Selbstverpflichtungen zu eigen zu machen. Auch können und sollen die Kirchen „eigene Zusätze und gemeinsame Perspektiven“ zu diesem Basistext formulieren. Insofern ist es nicht zu der in Graz gewünschten Verbindlichkeit der Charta gekommen – selbst wenn der Text ausdrücklich „verbindlicher Maßstab“ sein will. Allerdings ist auch zu berücksichtigen, dass in Straßburg Kirchen höchst unterschiedlichen Zuschnitts zusammenkamen. Während der Vorsitzende des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen als Institution der katholischen Kirche mit einer gewissen Verbindlichkeit für diese sprechen kann, setzt das Selbstverständnis der in der KEK vertretenen Kirchen und Christen hier Grenzen.
Tun, was möglich ist
Dass auch der CCEE in der katholischen Weltkirche keinesfalls die kirchenrechtlich abgesicherte europäische Organisationseinheit ist, wurde in Straßburg jedoch ebenfalls deutlich: Unmittelbar vor der sechsten Ökumenischen Begegnung fand parallel zur jährlichen Sitzung des Zentralausschusses der KEK die 31. Vollversammlung des CCEE statt, auf der die Leitung turnusmäßig gewählt wurde. Zum bisherigen Präsidium gehörten neben dem seit 1993 amtierenden Vlk, der nach den Statuten nicht wiedergewählt werden konnte, Kardinal Karl Lehmann und István Seregély, Erzbischof von Eger (Ungarn), als Stellvertreter.
Allgemein war vermutet worden, dass Lehmann nach seiner Ernennung zum Kardinal nun auch Vorsitzender des CCEE würde – ungeachtet der Tatsache, dass mit dem Hildesheimer Bischof Josef Homeyer ein Deutscher seit 1994 an der Spitze des ComECE, der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft, steht. Auf römischen Druck hin, so war in Straßburg zu vernehmen, wurde am 18. April, dem 30. Jahrestag der Gründung des CCEE, zur Überraschung vieler Amédée Grab, seit 1997 Bischof von Chur und seit 1998 Vorsitzender der Schweizer Bischofskonferenz, zum neuen Vorsitzenden des CCEE gewählt. Seine Stellvertreter sind Erzbischof Josip Bozanic von Zagreb sowie Kardinal Cormac Murphy-O’Connor, Erzbischof von Westminster. Auch wenn sich Bischof Grab im – vom Fall Haas schwer gebeutelten – Bistum Chur als Moderator Verdienste erworben hat, bleibt ungewöhnlich, dass nach den Kardinälen Roger Etchegaray, Basil Hume, Carlo Maria Martini und Vlk nun ein Bischof der vergleichsweise kleinen Schweiz den CCEE führen wird – zumal der 71-jährige Grab noch vor dem Ende seiner fünfjährigen Amtszeit dem Papst seinen Rücktritt anbieten muss. Nicht zuletzt deshalb wurde das gewählte Führungsgremium als von Rom gewollte neuerliche Schwächung der Institution CCEE gewertet, nachdem es bereits Anfang der neunziger Jahre zu einer Strukturreform kam, um dem starken Vorsitzenden Martini sein Mandat zu nehmen.
Gleichwohl ist die CCEE-Personalie kein Makel an der Unterzeichnung der Charta Oecumenica. Lehmann verteidigte sie denn auch gegenüber der aus unterschiedlichen Richtungen vorgebrachten Kritik. Zwar seien die geforderten „Regeln der Zusammenarbeit“ nur wenig konkret, insofern sei die „Unverbindlichkeit“ zu bedauern. Wie andere Kirchenführer betonte er jedoch, dass die Charta Oecumenica nicht das Ende, sondern der Anfang eines Prozesses sei. In drei bis vier Jahren soll der Rezeptionsprozess ausgewertet werden – und unter Umständen müsse und könne man das Dokument präzisieren. Im Übrigen werde auch in den Ländern, in denen die Ökumene gut funktioniere, längst nicht alles getan, was möglich sei. Es gehörte zu den Besonderheiten des Straßburger Treffens, dass neben den an die 100 „kirchenleitenden Persönlichkeiten“ die gleiche Anzahl Jugendlicher teilnahmen und ihre Vorstellungen der Ökumene der Zukunft vorstellten und mit den offiziellen Repräsentanten diskutierten. Die Jugend wird das Angefangene vollenden müssen, sagte Lehmann im Gespräch mit der 30 Jahre alten lutherischen Pastorin Elfriede Dörr aus Rumänien. Es dürfte allerdings noch ein weiter Weg sein, bis Wirklichkeit wird, was Lehmann mit einem freudschen Versprecher andeutete: Er wollte das zu unterzeichnende Dokument schon als „Magna Charta“ bezeichnen.