Ein Porträt des Komponisten und Guardini-Preisträgers Krzysztof PendereckiAvantgarde mit menschlichem Antlitz

Der Romano-Guardini-Preis, den die Katholische Akademie in Bayern seit 1970 verleiht, geht am 2. Oktober 2002 an den polnischen Komponisten und Dirigenten Krzysztof Penderecki. Damit erhält nach dem Komponisten Carl Orff (1974) und dem Dirigenten Eugen Jochum (1985) zum dritten Mal ein Musiker diese Auszeichnung für „hervorragende Verdienste um die Interpretation von Zeit und Welt auf allen Gebieten des geistigen Lebens“.

Das kompositorische Œuvre von Krzysztof Penderecki umfasst eine Vielzahl von Werken im Rahmen zahlreicher musikalischer Gattungen: von der Kammermusik über bislang sechs Sinfonien sowie Solokonzerte für Flöte und Klarinette, für Violine, Viola, Violoncello und neuerdings für Klavier (2002) bis hin zu den vier Opern „Die Teufel von Loudun“ (1969), „Das verlorene Paradies“ (1978), „Die schwarze Maske“ (1986) und „Ubu Rex“ (1991). Zugleich bildet die geistliche Musik von Anfang an einen markanten Schwerpunkt im Werk des erfolgreichen polnischen Komponisten, und auch dies wiederum in einer beeindruckenden Vielfalt der Gattungen: Psalmen und Passion, Oratorium, Magnificat und Te Deum, Credo und Requiem. Als Charakteristika seines Schaffens nennt die Preisbegründung der Katholischen Akademie in Bayern Pendereckis „eigene Synthese von Innovation und Tradition“ sowie die „über Grenzen und Kulturen hinweg verständliche Tonsprache“, mit der er „sein Werk in den Dienst einer universalen Humanität und Toleranz“ stellt. Mit Preisen und Auszeichnungen wird Penderecki im übrigen geradezu überschüttet. Längst hat die Zahl seiner Ehrenprofessuren und -doktorate das Dutzend überschritten.

Eine Ausnahmeerscheinung im gegenwärtigen Musikleben ist Penderecki in mehrfacher Hinsicht. Wie kaum ein anderer Komponist (Olivier Messiaen einmal ausgenommen, der jedoch ganz andere Schwerpunkte gesetzt hat) widmet er sich der Komposition geistlicher Musik. Außerdem hat kein zweiter Komponist sich so spektakulär und provokant von der avantgardistischen Richtung der Neuen Musik abgewandt, um im retrospektiven Rückgriff auf spätromantische Harmonik und auf die Linearität der Gregorianik nach individuellen Lösungen zu suchen. Und schließlich ist Penderecki nicht nur Komponist, sondern auch ein gefragter Dirigent, der jährlich 50 bis 60 Mal am Pult steht, und dies keineswegs nur mit eigenen Werken.

Experimente im Grenzbereich von Klang und Geräusch

Geboren wurde Krzysztof Penderecki am 23. November 1933 im polnischen Städtchen Debica, 130 Kilometer südöstlich von Krakau. Durch seinen Vater, der von Beruf Rechtsanwalt und zugleich ein begeisterter Violinspieler war, kam er früh mit Musik in Berührung. Er erhielt Violin- und Klavierunterricht. Nach dem Abitur 1951 begann er in Krakau zunächst mit dem Studium der Philosophie, Kunst- und Literaturgeschichte, wechselte aber bald an das dortige Konservatorium, zunächst mit dem Hauptfach Violine, ab 1954 dann im Fach Komposition. Artur Malawski und Stanislaw Wiechowicz waren seine Lehrer. 1958 legte er an der Krakauer Staatsakademie für Musik sein Diplom in Komposition ab und übernahm sogleich eine Dozentur mit einer eigenen Kompositionsklasse. Pendereckis erster, noch regional begrenzter Durchbruch erfolgte 1959, als er beim zweiten „Warschauer Wettbewerb Junger Polnischer Komponisten“ für drei anonym eingereichte Werke („Aus den Psalmen Davids“, „Emanationen“, „Strophen“) alle drei Preise errang. In der Jury saßen so berühmte Komponisten wie Witold Lutoslawski und Kazimierz Sikorski. Jahrzehnte später wies Penderecki in einem Interview darauf hin, dass er zur Wahrung der Anonymität eines der drei Werke rechtshändig geschrieben hatte und das zweite linkshändig; das dritte hatte er von einem Freund abschreiben lassen. Die Überraschung der Jury über ihre Entscheidung soll groß gewesen sein.

Die frühen Werke Pendereckis zeigen neben dem Einfluss von Vorbildern zugleich den sich herausbildenden eigenen Personalstil mit differenziert ausgeleuchteten Klangfarben und der Bevorzugung des Schlagzeugs, mit der Erweiterung instrumentaler Spieltechniken bei den Streichinstrumenten sowie der Bevorzugung starker dynamischer Kontraste. In der Chorkomposition „Aus den Psalmen Davids“ (1958) über vier Psalmverse in lateinischer Sprache (Ps 28,1; Ps 30,2; Ps 43,2; Ps 143,1) stellt der Fünfundzwanzigjährige dem gemischten Chor ein reich besetztes Schlagwerk (unter anderem mit Xylophon, Vibraphon, vier Pauken, Glocke und Bongos), außerdem Celesta, zwei Klaviere, Harfe und vier nur pizzicato spielende Kontrabässe gegenüber. Dieakkordisch-blockhafte Anlage sowie die motorische Skandierung des Textes im ersten und dritten Psalm erinnern an den Neoklassizismus Igor Strawinskys („Psalmensinfonie“), während die linearmelodische Strukturierung mittels Zwölftonreihen im zweiten und vierten Satz die kompositorischen Neuerungen Arnold Schönbergs aufgreift. Vor allem die dodekaphonen Werke der Schönberg-Schule konnten in Polen erst ab 1956 umfassend rezipiert werden, als das politische Tauwetter das Festival „Warschauer Herbst“ ermöglichte. Die Aufführungen bei diesem Musikfest galten bald als eine Art Schaufenster der polnischen Avantgarde um Henryk Górecki, Tadeusz Baird, Kazimierz Serocki und eben Penderecki. Bis heute ist dieses Festival ein wichtiger Ort der musikalischen Begegnung zwischen Ost und West.

Ein Werk ohne Pardon

In der internationalen musikalischen Avantgarde-Szene wurde Penderecki bekannt durch die bei den „Donaueschinger Musiktagen für zeitgenössische Tonkunst“ 1960 unter der Leitung von Hans Rosbaud, dem damaligen Chefdirigenten des Südwestfunk-Sinfonieorchesters, uraufgeführte Komposition „Anaklasis“ (für Streicher und Schlagzeuggruppen). Hier stehen nun Experimente im Grenzbereich von Klang und Geräusch im Mittelpunkt. Völlig neue Spielweisen wie etwa das Spiel zwischen Steg und Saitenhalter entlocken den traditionellen „Streich“-Instrumenten im wahrsten Sinne des Wortes unerhörte Klangfarben und erfordern zugleich neue Notationsweisen, etwa spezielle Symbole für Viertel- und Dreivierteltonabstände, Zeichen für unbestimmte Tonhöhen („höchster beziehungsweise tiefster Ton des Instruments“) oder für Schlagzeugeffekte wie „mit offener Hand auf die Saiten schlagen“.

Das Titelwort „Anaklasis“ steht für Licht- oder für Klangbrechungen, was einerseits auf innovative Klänge zielt und zugleich eine Art Vertauschung der instrumentalen Charakteristiken intendiert, so dass die Streicher sich den punktuellen Klang des Schlagwerks aneignen und dieses im Gegenzug die flächigen Klangfarben der Streicher annimmt. Nach einem zarten Pianissimo-Schlag mit einem weichen Paukenschlegel ins Innere des Flügels klingt das Stück mit einem dreitönigen Pizzicato-Klang des Klaviers aus, indem drei Saiten des Flügels wie bei einer Geige mit den Fingern angerissen werden.

Neuartig wirkt nicht zuletzt das Notenbild mit seinen glissandierenden Melodieverläufen in Form fieberkurvenähnlicher Zickzacklinien sowie schwarzen Clusterblöcken für eng geschichtete „Tontrauben“. Die dreiteilige Form des Werkes deutet der Komponist selbst als Dreischritt von „These“ (Streicher allein), „Antithese“ (Schlagwerk allein) und „Synthese“ (Klangmischung beider Gruppen), wobei die fließenden Übergänge besonders wichtig sind. Mit „Anaklasis“ hat Penderecki sich einen Namen im Konzert der Avantgarde gemacht, ja er hat sich „mit Cluster- und Geräusch-Kompositionen an die Spitze der avantgardistischen Materialentwicklung“ gestellt, „und zwar so vehement, dass sein baldiger Rückgriff auf ältere Traditionsbestände um so stärker überraschen musste“ (Hermann Danuser). Höhe- und Schlusspunkt seiner ersten, „experimentellen“ Schaffensphase ist das wiederum in Donaueschingen uraufgeführte und dem „von allen traditionellen Assoziationen befreiten Klang“ frönende Werk „Fluorescences“ (1962), das nun ganze Heerscharen von Ausführenden erfordert: neben 46 Streichern und vier- bis sechsfach besetzten Bläsern eine Schlagzeug-„Batteria“ mit sechs Spielern, deren jeder zudem mit einer Trillerpfeife ausgerüstet ist. Aber auch elektrische Klingel, singende Säge, Alarmsirene und Schreibmaschine sind mit von dieser akustisch wahrhaft fluoreszierenden Klang-Partie, die den italienischen Futurismus vom Beginn des 20. Jahrhunderts mit seinen bruitistischen Klangmaschinen reanimiert. Indem dieser Weg der exzessiven Klangaufspreizung und der „radikalen Materialerprobung im Grenzbereich zwischen Geräusch und Klang“ seinen Höhepunkt gefunden hatte, entpuppte er sich für Penderecki zugleich als „Sackgasse“. Mit den „Fluorescences“, die er „ein Werk ohne Pardon“ nennt, setzte er „den Endpunkt unter seine Klangforscherzeit“ (Wolfram Schwinger).

Den bis heute unbestrittenen internationalen Rang Pendereckis begründete 1966 die anlässlich der 1000-Jahrfeier der Christianisierung Polens entstandene und im Dom zu Münster in Westfalen uraufgeführte „Lukas-Passion“ („Passio et mors Domini Jesu Christi secundum Lucam“) in lateinischer Sprache, für die der Komponist den Großen Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen und den Prix Italia des italienischen Rundfunks RAI erhielt. In diesem überaus komplexen vokal-instrumentalen Werk begegnet die altehrwürdige Tradition der Passionsmusik erstmals der Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Das biblische Thema der Passion bietet ein Potenzial von Personen und Affekten, Ereignissen und Gesten sowie Möglichkeiten der reflektierenden Anteilnahme, das Penderecki mit seiner Musik tief-theologisch auslotet und zugleich höchst effektvoll in Wort und Ton inszeniert.

Christi Leiden und das Leiden in Auschwitz

Mit der Wahl des Lukasevangeliums weicht er den von Johann Sebastian Bach vertonten Passionen nach Matthäus und Johannes zwar aus, zugleich jedoch macht er die Tonfolge B-a-c-h zum Fundament einer das Werk strukturell fundierenden Zwölftonreihe. Und ähnlich wie Bach nutzt er die Vieldimensionalität innerhalb der Passion zu einem Tableau verschiedener Stile, das zugleich nach einheitsstiftenden Momenten verlangt, etwa mittels der traditionellen Rollenverteilung mit Christus als Bariton, dem Evangelisten jedoch als einem Sprecher. Integrierend wirken in dieser Passion zudem melodische und harmonische Kurzformeln, die häufig wiederkehren, etwa auf Worte wie „Deus meus“ oder „Domine“. Die Klangexperimente, die in den avantgardistischen Werken noch formbegründend waren, wie etwa der Sprechgesang oder die Clustertechnik, werden jetzt zwar nicht ad acta gelegt, aber doch nur noch, gezielt kalkuliert, für einzelne Momente und Bedeutungen eingesetzt, etwa als chorisches Zischen bei der Verspottung. Klangliche Neuerungen fungieren somit gleichsam als Vokabeln für Bedeutungsfelder, ähnlich wie auch die fremd und zugleich triumphal gleißenden Dur-Akkorde im fortissimo am Ende des „Stabat Mater“ und als Schlussakkord der gesamten Passion. Die inzwischen in aller Welt aufgeführte „Lukas-Passion“ ist ein Standardwerk der Neuen Musik und ein Hauptwerk der geistlichen Musik im 20. Jahrhundert. Kompositorisch integriert sie, so Manfred Schuler, alle bisherigen vokalen Möglichkeiten, nämlich die melodische Epoche (mit Anklängen an die Gregorianik), die linear-polyphone (im motettischen Stil mancher Sätze), die harmonische (mit deutlich tonalen Bezügen) sowie die rein-klangliche (im Sinne von „Klangfarbenmusik“). Ähnlich integrativ ist aber auch Pendereckis ästhetisch-theologische Grundoption, denn seine Passion basiert auf dem Willen zur Spiegelung des in der Bibel geschilderten Leidens im heutigen Leiden und umgekehrt: „Die Passion handelt von Christi Leiden und Tod, aber sie stellt auch das Leiden und den Tod in Auschwitz dar, die tragische Erfahrung der Menschheit in der Mitte des 20. Jahrhunderts. In diesem Sinne sollte sie nach meiner Absicht und meinem Gefühl einen universalen, humanistischen Charakter haben“ (Penderecki). Diese Position wurde inspirierend für spätere Passionsvertonungen: von der „Jesuspassion“ (1985) des Düsseldorfer Komponisten und Penderecki-Schülers Oskar Gottlieb Blarr bis zur nächsten großen Lukaspassion von Wolfgang Rihm mit dem Titel „Deus Passus“ (2000).

Gerade der Vergleich mit Rihm, der in seinem Werk einen christlich-jüdischen Akzent setzt und „Zurückhaltung“ als „Grundzug“ seiner Passionsmusik angibt, zeigt, dass die von Penderecki mit beeindruckender Klangregie gehandhabte vokal-instrumentale Opulenz gar nicht mehr gesteigert werden konnte, sondern – direkt oder indirekt, und nicht zuletzt auch bei ihm selbst – Gegenreaktionen hervorrief. Diese reichen von klanglicher Reduktion bis zum subtilen Aushören der Grenzbezirke von Klingen und Verstummen im Sinne einer negativen musikalischen Theologie, etwa in Gerd Zachers Lukaspassion, die als „kritisches Gegenstück zu Pendereckis extrovertierter Passion konzipiert“ (Kurt von Fischer) ist und den Titel „700 000 Tage später“ (1968) trägt.

Pendereckis internationale Berühmtheit nach dem Welterfolg der „Lukas-Passion“ wird nicht nur in zahlreichen Kompositionsaufträgen dokumentiert, sondern auch durch Gastprofessuren. 1966 bis 1968 lehrte er an der Folkwang Hochschule in Essen Komposition und Instrumentation, von 1973 bis 1978 an der Yale University in New Haven, Connecticut (USA), von 1993 bis 1997 an der Musikhochschule Graz. Von 1972 bis 1987 war er Rektor der Staatlichen Hochschule für Musik in Krakau. Seine nicht-musikalischen Leidenschaften gelten neben der Literatur vor allem seinem eigenen Park mit Hunderten von Baumarten. Penderecki selbst teilt sein bisheriges Schaffen in drei Perioden ein, die sich jedoch kaum randscharf voneinander trennen lassen. Auf die avantgardistisch-experimentelle Phase folgte eine von retrospektiven Tendenzen geprägte „romantische“ Periode. Als Hauptwerke sind hier das 1977 in Basel mit dem Solisten Isaak Stern uraufgeführte erste Violinkonzert zu nennen sowie die als „Sacra Rappresentazione“ bezeichnete zweite Oper „Paradise Lost“ nach John Miltons bedeutendem Versepos von 1665, auf welches letztlich auch das Libretto von Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ zurückgeht. Zwei Großwerke beschließen um 1980 diese Phase: die etwa halbstündige Zweite Sinfonie in nur einem Satz, die durch das dreimalige Aufblitzen des Liedzitates „Stille Nacht“ auch als „Weihnachtssinfonie“ gilt, sowie das durch die Wahl seines Krakauer Heimatbischofs und Freundes Karol Woityla zum Papst inspirierte und Johannes Paul II. auch persönlich gewidmete „Te Deum“ (Uraufführung 1980 in der Basilika San Francesco, Assisi), in welches als lokale Signatur das Zitat einer damals noch verbotenen polnischen Freiheitshymne in einem Chorsatz a cappella eingewoben ist.

Bruch mit den Dogmen der Avantgarde

Charakteristisch für diese Werke sind ihre schwermütig-expressive, bisweilen pathetische spätromantische Harmonik sowie der Verzicht auf die früheren Klangexperimente, von denen Penderecki sich nun sogar ausdrücklich distanziert, wobei er seine früheren Werke freilich nach wie vor gelten lässt und einige davon weiterhin in aller Welt dirigiert, etwa die „Lukas-Passion“. Immer wieder knüpft er an seine frühen Werke an, immer häufiger aber sichtet er die kompositorische Tradition nach Anknüpfungsmöglichkeiten. Hatte er anfangs mit den Konventionen des gewohnten Hörens gebrochen, so bricht er jetzt mit den Dogmen der Avantgarde, was wohl auch zu einem gewissen Desinteresse der akademischen Musikwissenschaft an seinen jüngeren Werken geführt hat. Nun werden Dreiklänge wieder interessant, und quasigregorianische melodische Verläufe schaffen neue Linearität und fungieren zugleich als Stützpfeiler für den Brückenschlag zum Publikum.

Religion und Kirche bilden von Anfang an einen Schwerpunkt im Schaffen Pendereckis, der sich auf einer Pressekonferenz nach der Uraufführung seiner „Lukas-Passion“ selbst als „einen gläubigen linksorthodoxen Katholiken“ bezeichnet hat. Seine Identifikation mit dem polnischen Katholizismus äußert sich kompositorisch jedoch nicht in Werken der kirchlich-liturgischen „Gebrauchsmusik“, sondern auf dem Feld der sogenannten „geistlichen Musik“, die christliche Gehalte und Haltungen vermittelt und dabei in ihrer konzertanten Faktur den Zwiespalt zwischen künstlerischer Autonomie und liturgischer Funktionalität (vgl. HK, Juni 2002, 312 ff.) unterläuft. In gewissem Sinne steht die konfessionelle Komponente seiner Werke auch in Beziehung zur politischen, denn, so Penderecki, „für uns Polen ist Religion Patriotismus“. Mit seinem geistlichen Oeuvre hat er sich von allen Erwartungen eines sozialistischen Realismus distanziert und inmitten des Kommunismus ein zeugnishaftes Zeichen gesetzt, ohne je die direkte Konfrontation mit den Machthabern zu suchen. Er hat „keine einzige Note für die Partei“ geschrieben, sich aber auch nie mit ihr überworfen, zumal seine weltweite Reputation auch dem staatlichen Bedürfnis nach international renommierten polnischen Künstlern entgegen kam. Zudem haben zwei Faktoren die publikumsfreundliche Tendenz Pendereckis von Anfang an begünstigt. Zum einen die besondere Situation der polnischen Avantgarde, die den Brückenschlag zum Publikum nie aufgegeben hat und in deren Fluidum Uraufführungen Neuer Musik, etwa beim Festival „Warschauer Herbst“, kulturelle Großereignisse vor einem höchst interessierten und kompetenten Publikum sind; zum anderen aber auch die der geistlichen Musik prinzipiell innewohnende Tendenz, ihre Hörer mit einer ausdrucksstark formulierten Botschaft erreichen zu wollen, also die Distanz zwischen Bühne und Zuschauerraum zu überbrücken und das Schauspiel so zum Spiegel zu machen. Mit dieser Hermeneutik profiliert sich Penderecki, bisweilen durchaus polemisch, gegen die seiner Ansicht nach in klanglicher Hermetik stecken gebliebene Avantgarde, die nur noch um des Experimentierens willen experimentiert und ihre „Klang-Gags“ mit dem Verlust des Publikums teuer bezahlt.

Zu den geistlichen Hauptwerken in großbesetzter oratorischer Form für Soli, Chor und Orchester zählen nach der „Lukas-Passion“ (1966), in die Penderecki sein dreichöriges „Stabat Mater“ a cappella von 1962 integriert hat, sodann mehrere Werke, die dem auch von Klaus Huber (vgl. HK, Februar 2002, 101 ff.) favorisierten Bereich des „engagierten Komponierens“ zugeordnet werden können. Nach „Threnos. Den Opfern von Hiroshima“ (1960) ist in dieser Werkgruppe vor allem das dem Gedächtnis der Opfer von Auschwitz gewidmete und am 16. April 1967 an jenem Ort des Schreckens uraufgeführte „Dies irae“ zu nennen. Dabei handelt es sich nicht um eine Vertonung der Sequenz aus der Totenmesse, sondern um den gelungenen Versuch, etwa auf der Linie von Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“ aus dem Jahr 1948 (das erste Werk Schönbergs, das Penderecki kennen gelernt hat) oder Luigi Nonos allerdings ganz anders gearbeitetem Erinnerungs-Stück „Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz“ (1965) dem Gedenken an das unbeschreibliche Grauen eine oratorisch-kompositorische Form zu geben, ohne dem Vorwurf anheim zu fallen, den Holocaust gefällig zu ästhetisieren.

Musikalische Sprache des Glaubens

Engagierter Gegenwartsbezug kennzeichnet das Anfang der achtziger Jahre in Etappen entstandene und unter der Leitung des weltberühmten Cellisten Mstislaw Rostropowitsch in Stuttgart am 28. September 1984 erstmals komplett aufgeführte „Polnische Requiem“, dessen Widmungsträger die geistig-religiöse Welt des Komponisten verdeutlichen. Bereits 1980 hatte Penderecki das „Lacrimosa“ für Lech Walesa und die Gewerkschaft Solidarnosc zur Erinnerung an den Aufstand der Danziger Werftarbeiter komponiert. Hunderttausende hörten die zuvor in Krakau aufgenommene Musik über Lautsprecher. Das „Agnus Dei“ wurde 1981 nach dem Tod des polnischen Primas Kardinal Stefan Wyszynski in nur wenigen Stunden niedergeschrieben und bei der Trauerfeier in der Warschauer Kathedrale gesungen. Das „Recordare, Jesu pie“ entstand 1982 zur Heiligsprechung des Franziskanerpaters Maximilian Kolbe, und mit der Sequenz „Dies irae“ erinnert Penderecki 1984 an den Warschauer Aufstand vom 1. August 1944.

Für seine dritte Schaffensperiode bevorzugte Penderecki die inzwischen wiederum überholte Bezeichnung „Fin de siècle“. Die Zeit war seiner Meinung nach reif für neue Klarheit und für Synthesen, ähnlich der Situation hundert Jahre zuvor, als Gustav Mahler die kompositorischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts letztmalig integrativ zusammenfasste. Sein vorletztes oratorisches Großwerk „Die sieben Tore Jerusalems“ (1997) komponierte Penderecki auf Anregung des früheren Jerusalemer Bürgermeisters Teddy Kollek zur Dreitausendjahrfeier dieser Stadt. Im Gesamtoeuvre zählt dieses Oratorium, dem alttestamentliche Bibelstellen, vor allem aus den Psalmen, in lateinischer Sprache zugrunde liegen, zugleich als Siebente Sinfonie im Sinne der an Beethoven, Mahler und Schostakowitsch erinnernden Vokalsinfonik. Die Vollendung der Sechsten Sinfonie steht indessen noch aus. Wie kaum anders zu erwarten, plant Penderecki insgesamt neun Sinfonien. Eine Auftragskomposition ist auch das jüngste große Chorwerk. Aus dem Plan einer groß angelegten Messe für die Internationale Bachakademie Stuttgart wurde schließlich eine deren Leiter Helmuth Rilling gewidmete umfangreiche, knapp einstündige Vertonung des „Credo“ (1998), deren Erweiterung zu einer „Missa tota“ nicht geplant ist. Die „größte Herausforderung, das Credo zu komponieren“, führte zu einem Bekenntniswerk im Sinne der kompositorischen Auseinandersetzung mit den Grundgehalten des christlichen Glaubens. „Und dies ist ein Werk, das man nur einmal in seinem Leben komponiert“ (Penderecki).

Sein aus den Quellen der Tradition gespeistes Komponieren bezeichnet Penderecki im Unterschied zur „wilden Avantgarde“ als eine „Avantgarde mit menschlichem Antlitz“. Und diese avantgarde-kritische Kehre stieß, wie zu erwarten, selbst wiederum auf Kritik. In der bisweilen polemisch geführten Debatte spielen auch Ressentiments mit, und zwar auf allen Seiten. Pendereckis Position ist schlüssig im Sinne seiner eigenen künstlerischen Programmatik. Den Differenzierungen des nach wie vor etwa seriellen Komponierens wird sie jedoch kaum gerecht. Seine Kritiker wiederum unterscheiden nicht sorgfältig genug zwischen Verständlichkeit und Populismus, zwischen Effekt und Effekthascherei, zwischen dem kreativen Ausschöpfen der Tradition und dem Verharren in Konventionen. Wer seine geistlichen Werke Revue passieren lässt, kommt jedoch an der Frage nicht vorbei, ob Penderecki mit dem Verzicht auf das „Experimentieren“ nicht auch zeitgenössische Ausdrucksmöglichkeiten eingebüßt hat. Was bedeutet letztlich die so häufig vorherrschende Wortgebundenheit in den vokalen Werken und die Zweckbestimmung der Auftragskompositionen? Täuscht der Eindruck, dass das „Dies irae“ ein packenderes Stück ist als das „Polnische Requiem“, und das „Credo“ wiederum schwächer als die „Lukaspassion“? Zu diesen Fragen gibt es bislang deutlich mehr Polemik und Beteuerung als tragfähige Ansätze wissenschaftlichen Verstehens und Begründens.

Schließlich müssten bei den geistlichen Werken auch theologisch-ästhetische Kriterien ins Spiel kommen, die bislang aber weithin fehlen. Im Spiel von „Wort und Antwort“ artikuliert sich Pendereckis geistliche Musik nämlich als musikalische Sprache des Glaubens. Vor allem in seinen frühen und mittleren Werken musikalisiert er die jeweilige Thematik, indem er sie zugleich mittels typischer Penderecki-Signaturen ins Gestische übersetzt. Die unmittelbare Verstehbarkeit sowohl für geübte als auch für unvoreingenommene Hörer, die seine Musik auszeichnet, gründet wohl in der Balance von Rückgriffen auf die Tradition und Neuerungen. Die „Lukas-Passion“ etwa gerät so – durchaus in der Tradition Bachs – immer wieder an die Grenze zur dramatischen Inszenierung, wohingegen Pendereckis zweite Oper „Paradise lost“ die Grenzbezirke des Musiktheaters in Richtung des geistlichen Schauspiels aufsucht. Dieses neue Ausloten der Bereiche „weltlich und geistlich“ kennt freilich keinen Stilunterschied und erinnert insofern an Oliviers Messiaens Hommage an Franz von Assisi in Gestalt einer Oper. Penderecki ist wohl auch in Zukunft für Überraschungen gut. In neueren Interviews betont er stärker als früher die Distanz seines Komponierens zu den Ereignissen der Gegenwart. Indem er der Musik zugleich die Aufgabe zuspricht, zu unterhalten („to entertain“), rückt er ein altes und vernachlässigtes Moment der musikalischen Ästhetik neu in den Mittelpunkt. Wie er auch dies mit neuen Klängen füllt – wir werden es hören. 

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