Die wiederverheirateten Geschiedenen sind nur ein Beispiel unter vielen: für die Kluft zwischen Lehrmeinung und pastoraler Praxis, für die Behauptung eines "vertikalen Schismas" in der katholischen Kirche hierzulande. So wird - je nach kirchenpolitischer Positionierung - entweder bemängelt, dass die Kirchenleitung den Kontakt zu den Gläubigen verloren hat und nicht mehr um deren Lebenswelt, Sorgen, aber auch Glaubenssinn weiß oder die Klage erhoben, die offizielle Lehre der römisch-katholischen Kirche werde vor Ort nur höchst unzureichend ernst genommen.Religionssoziologisch länger schon erhärtet ist der Befund, dass innerhalb der Kerngemeinden sowohl die Prägekraft christlicher Normengefüge als auch der überkommenen Glaubensvorstellungen abnimmt, das konfessionelle Bewusstsein schwindet und damit auch die offiziellen kirchlichen Positionen in den Hintergrund treten - und damit gewachsene Normen auf die Größe von "Kann-Bestimmungen" schrumpfen (Michael N. Ebertz).
Auf der anderen Seite stehen in einer Gegenbewegung diejenigen, die in nostalgischer Verklärung der früheren Zeiten die vermeintlich ewig gültigen Wesenszüge des Katholischen auflisten und dann fein säuberlich abhaken, inwieweit sie sich in ihrer Gemeinde oder in bestimmten Publikationen wiederfinden lassen.Haben aber nicht verpasste oder gar offen abgewürgte Diskussionen, die zu führen dringend notwendig wäre, zur gegenwärtigen Lage der katholischen Kirche auf dem Weg in das 21. Jahrhundert geführt, den Beobachter unterschiedlichster Couleur als gehemmt (Krätzl), gelähmt (Seeber) oder blockiert (Lütz) betitelt haben? Warum verlegen sich Bischöfe und ihre Mitarbeiter aber nicht viel öfter aufs Argumentieren und eine wirklich theologische Auseinandersetzung?
Von Stefan Orth