Ein Gespräch mit dem Soziologen Rainer Geißler zum Stand der deutschen Einheit„Verbreitetes Zusammengehörigkeitsgefühl“

Die Flutkatastrophe im August, die vor allem in den ostdeutschen Regionen verheerende Schäden angerichtet hat, sowie die Bundestagswahlen haben die fünf neuen Bundesländer neuerlich ins Blickfeld gerückt. Über den Stand der deutschen Einheit im zwölften Jahr der Wiedervereinigung sprachen wir mit dem Soziologen Rainer Geißler. Die Fragen stellte Brigitte Böttner.

HK: Herr Professor Geißler, in Umfragen zum Stand der deutschen Einheit finden sich regelmäßig Aussagen, wonach sich Ostdeutsche als „Bürger zweiter Klasse“ empfinden. Wie kommt das?

Geißler: Das ist aus ostdeutscher wie westdeutscher Sicht zunächst einmal ein sehr beklagenswerter und bedauernswerter Zustand. Zugleich dürfte es sich dabei um einen komplexen Zusammenhang handeln: Während der Umwälzungen in der DDR zwischen 1989 und 1990 wurden euphorische Erwartungen geweckt, es könnten relativ schnell gleiche Lebensverhältnisse wie im Westen herbeigeführt werden – und diese wurden seinerzeit auch von Politikern, zum Teil aus wahltaktischen Gründen genährt. Erwartungen, die nicht erfüllt wurden, nicht erfüllt werden konnten. So entstand eine gewisse Frustration und Enttäuschung darüber, was in den zwölf Jahren deutscher Einheit erreicht wurde. Ein weiterer Grund für dieses Gefühl der Zweitrangigkeit dürfte in dem Eindruck liegen, vom Westen „kolonialisiert“ worden zu sein, wie es Ostdeutsche bisweilen formulieren.

„Das West-Know-how wurde zugunsten der ostdeutschen Wirtschaft genutzt“

HK: Diese Einwände sind ja auch nicht ganz unberechtigt, wenn man bedenkt, dass die Wiedervereinigung mehr oder weniger durch Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik geschah und die Institutionen der alten auf die neuen Bundesländer übertragen wurden.

Geißler: Die Übernahme westdeutscher Institutionen, zu der es keine realistische Alternative gab, erschien vielen Ostdeutschen als das Überstülpen eines fremden Systems. Das Kolonialisierungsgefühl beruht aber auch darauf, dass ein großer Teil der Elitepositionen in Ostdeutschland von Westdeutschen besetzt ist, zum Beispiel im militärischen und juristischen Bereich, wo das von der Sache her sicher notwendig war. In anderen Bereichen hätte man damit vorsichtiger sein können – etwa bei den öffentlich-rechtlichen Medien. So wird der Mitteldeutsche Rundfunk von einem westdeutschen Direktorium gelenkt, obwohl es auch unter Ostdeutschen sehr fähige Journalisten gibt. In den Printmedien sind die Spitzenpositionen überwiegend von Ostdeutschen besetzt.

HK: In diesem Zusammenhang wird häufig darauf verwiesen, dass es innerhalb des Gesellschaftssystems der DDR – abgesehen von der parteipolitischen Funktionärsschicht – so genannte Eliten gar nicht gegeben habe. Wären bei der Besetzung ostdeutscher Leitungspositionen also überhaupt Alternativen möglich gewesen?

Geißler: In einigen Bereichen kam man nicht umhin, Westdeutsche in die Leitungspositionen zu bringen. Wenn das Top-Management der Großunternehmen heute überwiegend in westdeutscher Hand ist, so liegt das daran, dass in Ostdeutschland aufgrund des anderen Wirtschaftssystems der DDR keine gut ausgebildeten Manager mit diesen Fähigkeiten zur Verfügung standen; insofern wurde das West-Knowhow zugunsten der ostdeutschen Wirtschaft genutzt. In der politischen Elite dominieren hingegen durchaus die Ostdeutschen. Problematischer sieht es in der Wissenschaft aus. Da kann man sich fragen, ob es in allen Bereichen notwendig war, ostdeutsche Wissenschaftler zu verdrängen und Westdeutsche an ihre Stelle zu setzen. In den ideologisch stark belasteten Fächern wie den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften war das sicher unumgänglich. In der Soziologie könnte ich Beispiele nennen, wo man meines Erachtens Ostdeutsche in ihren Positionen hätte belassen können.

HK: Mit dem schlechten Abschneiden der PDS haben die Ergebnisse der jüngsten Bundestagswahlen im Osten für Überraschungen gesorgt. Hat sich dabei nurmehr das Image von der „Wechselwählerschaft Ost“ bestätigt, die ihre Stimmen tendenziell eher selten der gleichen Partei geben? Oder beginnt sich hier ein allmähliches Angleichen des Wahlverhaltens in Ost und West abzuzeichnen?

Geißler: Im Osten gibt es erheblich weniger Parteibindung als im Westen, wenngleich sich dieser Trend mittlerweile auch dort abzeichnet: die Stammwählerschaft geht zurück, und die Zahl der Wechselwähler steigt. Im Osten hatten die Parteien in den vergangenen zwölf Jahren nicht die Chance, ein Stammwählerpotenzial an sich zu binden wie die Westparteien im Verlauf jahrzehntelanger bundesdeutscher Geschichte. Die Ursachen für die Niederlage der PDS sind vielschichtig und haben unter anderem parteiinterne Gründe. Profilierte Persönlichkeiten wie etwa Lothar Bisky und Gregor Gysi sind zurückgetreten, den Wahlkampf mussten jüngere Parteimitglieder bestreiten. Hinzu kam die Wahltaktik der anderen Parteien, die bestimmte Themenbereiche besetzten, auf denen das Wählerpotenzial der PDS fußte, sowie der Umstand der Flutkatastrophe. Darüber hinaus hat der Kanzler in den letzten Wochen vor der Wahl auf die ja im Osten sehr weit verbreitete Antikriegsstimmung gesetzt und dadurch der PDS weitere Wählerstimmen abgezogen.

„Hilfeleistungen zur Annäherung der Lebensbedingungen sind weiterhin nötig“

HK: Wer auf die Rollenverteilung nach der überwunden geglaubten Teilung Deutschlands blickt, bekommt den Eindruck, dass das Verhältnis der beiden ehemals getrennten Hälften unseres Landes sowohl in wirtschaftlicher wie in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht nach wie vor einseitig von Abhängigkeit geprägt ist. Der Osten müsse aufholen, dem westdeutschen Niveau angeglichen werden, heißt es. Ist diese Zielvorgabe nach zwölf Jahren Transferzahlungen immer noch sinnvoll?

Geißler: Zwischen 1991 und 1999 wurden 700 Milliarden Euro Nettotransfer von West nach Ost geleistet. Umgerechnet kommen damit auf jeden westdeutschen Einwohner – vom Säugling bis zum Hundertjährigen einschließlich aller ethnischen Minderheiten, die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft haben, aber in Westdeutschland leben – pro Jahr knapp 1200 Euro. Dieser Betrag ist aber nicht gleichmäßig über die Gesamtbevölkerung verteilt, weil die unterschiedlichen Gruppen je nach Einkommen verschieden stark belastet werden. Präzise Angaben, wie diese Transferlasten verteilt sind, gibt es nicht. Diese Hilfeleistung zum Aufbau der ostdeutschen Infrastruktur und zur Annäherung der Lebensbedingungen in Ost und West sind weiterhin über längere Frist nötig, auch wenn in Zukunft nicht mehr in dieser Höhe weiter transferiert wird.

HK: Dennoch wurden und werden die Transferleistungen von West nach Ost kritisiert. Abgesehen von dem Einwand, mittlerweile seien auch Regionen im alten Bundesgebiet direkter finanzieller Unterstützung würdig, gibt es Stimmen, die in einer eigenständigen Entwicklung der Wirtschaftsregion Ost deren einzige Chance sehen, für Neuinvestoren attraktiv und somit wettbewerbsfähig zu werden. Sollte zukünftig eher auf stärkere Differenzierung gesetzt werden, war das Vorhaben einer schnellen Angleichung der Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse kontraproduktiv?

Geißler: Wir haben die Transferleistungen der letzten zehn Jahre gebraucht, um den Lebensstandard in den neuen Ländern auf das heutige Niveau zu bringen. Die ostdeutschen Einkommen, die zur Zeit der Wende weniger als die Hälfte der westdeutschen betrugen, sind auf ein Niveau von gut 80 Prozent angehoben worden. Es gab also einen erheblichen Wohlstandsschub, auch wenn die heutigen Lebensverhältnisse im Osten dort immer noch als Defizit empfunden werden. Noch nie sind die Einkommen derart schnell gewachsen; diese nachholende Wohlstandsexplosion ist in der westdeutschen Geschichte ohne Beispiel und wäre ohne die Transfers gar nicht möglich gewesen, weil die Produktivität nicht im gleichen Maße ansteigen kann. Mittlerweile hat sich der Wohlstandsschub im Osten verlangsamt, und es ist eine gewisse Stagnation eingetreten. Fast alle Wirtschaftsexperten sind der Meinung, dass ein langsamerer Anstieg der Einkommen der wirtschaftlichen Dynamik besser getan hätte.

HK: Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche in den ehemals sozialistischen Ländern werden oft als Prozess der „nachholenden Modernisierung“ charakterisiert – ein Begriff, der unter Ostdeutschen nicht zuletzt wegen eines dabei empfundenen „Westzentrismus“ häufig auf Vorbehalte stößt ...

Geißler: Mir ist klar, dass der Modernisierungsbegriff ein umstrittenes Konzept ist. Die Amerikaner haben ihn in den sechziger Jahren gebraucht, um die Unterschiede zwischen den Vereinigten Staaten und anderen Ländern zu beschreiben und die USA als Prototyp der modernen Gesellschaft hervorzuheben. Der Modernisierungsbegriff wurde damals zu Recht als westzentrische Sichtweise kritisiert. Abgesehen von der Erwartung einer nahezu zwangsläufigen Entwicklung wurden auch die Konflikte innerhalb moderner Gesellschaften übersehen. Heute sollte das Modernisierungskonzept in dem Bewusstsein verwendet werden, dass in Gesellschaften, die man als modern bezeichnet, viele soziale Probleme und Konflikte ungelöst sind und dass die Entwicklung zu einer modernen Gesellschaft weder ein Ideal darstellt, noch zwangsläufig ist, sondern auch politisch gesteuert wird. Um die wesentlichen Unterschiede zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland vor der Vereinigung und die wesentlichen Linien der sozialen Transformation nach der Wende zu erkennen, ist der Einsatz des Modernisierungskonzeptes durchaus sinnvoll.

HK: In welcher Hinsicht war die DDR denn „unmoderner“ als die alte Bundesrepublik, wenn sich Ostdeutschland nach dieser Vorstellung im „Modernisierungsprozess“ befindet beziehungsweise seit der Wiedervereinigung gegenüber dem Westen aufholen muss?

Geißler: Der Prozess der Modernisierung besagt, dass eine immer größere Zahl von Menschen in einer Gesellschaft eine möglichst positive Bilanz in Bezug auf das Erfüllen von Wünschen, die Befriedigung von Bedürfnissen im Verhältnis zu deren Versagungen hat. Das ist die Triebkraft der Modernisierung. Ein wichtiges Kennzeichen einer modernen Gesellschaft ist ein relativ hohes Wohlstandsniveau und daraus folgend eine relativ hohe Zufriedenheit ihrer Mitglieder. In der DDR gab es ein großes Wohlstandsdefizit, das sich im Laufe ihrer letzten drei Jahrzehnte immer mehr vergrößert hat; die Wohlstandsschere zwischen Ost und West ist immer weiter aufgegangen. Das lässt sich an verschiedenen Indikatoren ablesen. Beim Nettoeinkommen lag der DDR-Rückstand in den sechziger Jahren bei 30 Prozent, in den siebziger Jahren bei 40 Prozent und war in den achtziger Jahren auf 55 Prozent angewachsen. Hinter diesen Indikatoren stecken zum Beispiel schlechtere Wohnungen, weniger und schlechtere Autos, schlechtere Haushaltsausstattungen, weniger Telefone.

„Frauen hatten in der DDR einen strukturellen Gleichstellungsvorsprung“

HK: War das Ende der DDR also vor allem wirtschaftlich bedingt, die Wiedervereinigung aufgrund der Wohlstandskluft zwischen Ost und West möglich und deshalb zugleich nötig?

Geißler: Das Wohlstandsdefizit gehört – neben den Defiziten an Freiheit und Arbeitsqualität und neben den außenpolitischen Veränderungen – zu den zentralen Ursachen für den Zusammenbruch der DDR. Das zentrale Anliegen der Wiedervereinigung war daher die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Damit sind insbesondere auch gleichwertige Lebensstandards gemeint. Mit dieser Zielsetzung haben die Politiker aller Parteien damals durchaus ein Gespür für das zentrale Bedürfnis der ostdeutschen Bevölkerung bewiesen. Die Wohlstandskluft zwischen Ost und West hatte sich immer weiter geöffnet. Sie musste und muss weiterhin so schnell wie möglich beseitigt werden, um die Menschen in Ostdeutschland zufrieden zu stellen. Das wiederum lässt sich nur über eine leistungsfähige Wirtschaft bewerkstelligen.

HK: Hatte die DDR aber nicht auch gewisse Modernisierungsvorsprünge gegenüber der Bundesrepublik, zum Beispiel was das Geschlechterverhältnis betrifft?

Geißler: Wenn man DDR und Bundesrepublik vor 1989 vergleicht, muss man feststellen, dass Frauen in der DDR strukturell besser gestellt waren als im Westen, sie hatten einen strukturellen Gleichstellungsvorsprung. In Hinblick auf die langfristige Modernisierungstendenz war die DDR – unter anderen Rahmenbedingungen – in diesem Punkt dem Westen ein Stück voraus. Frauen waren häufiger berufstätig, standen häufiger finanziell auf eigenen Füßen und hatten beruflich bessere Aufstiegschancen. Es gab zwar auch in der DDR bei weitem keine Gleichstellung, sondern ebenfalls eine Männerdominanz auch in der Arbeitswelt. Aber berufliche Positionen waren etwa zur Hälfte weiblich besetzt.

HK: Und wie war es in anderen Lebensbereichen?

Geißler: Selbst in der Familie war die geschlechtstypische Arbeitsteilung etwas weiter aufgelockert als in der Bundesrepublik. Auch im Bildungssystem, an den weiterführenden Schulen wie an den Universitäten, hatten die DDR-Frauen viel früher gleichgezogen, gleiche Bildungschancen für Jungen und Mädchen waren hier erheblich eher durchgesetzt worden als in Westdeutschland. Im politischen Bereich waren Frauen in der DDR ebenfalls besser platziert als in Westdeutschland, in der Volkskammer z. B. waren Frauen wesentlich besser präsent als im Bundestag. Die große Ausnahme bildete hingegen die politische Spitze der DDR, da war die Männerherrschaft strikter und konsequenter durchgehalten als in Westdeutschland.

HK: Dennoch drohen Frauen im Zuge der Wiedervereinigung gerade dieser strukturellen Vorteile aus DDR-Zeiten verlustig zu gehen, wenn etwa heute aus Gründen der Kostenersparnis über die Reduzierung von Kinderbetreuungseinrichtungen in den neuen Bundesländern diskutiert wird. Sind Frauen also die Verliererinnen der Einheit?

Geißler: Es gibt Bereiche, wo Frauen von der Wende härter betroffen sind. In der Berufswelt mussten sie mehr Nachteile in Kauf nehmen und müssen die Krisenerscheinungen auf dem Arbeitsmarkt stärker ausbaden als die Männer. Sie verlieren zwar nicht häufiger ihre Arbeitsplätze als Männer, aber ihre Wiedereinstellungschancen sind geringer. Frauen werden stärker aus dem Arbeitsmarkt verdrängt als Männer, die Arbeitslosenquoten sind im Osten bei den Frauen höher, während sie im Westen inzwischen unter der Männerquote liegen. Auch unter den Langzeitarbeitslosen sind ostdeutsche Frauen stärker präsent. Insbesondere aus hohen und mittleren Positionen werden Frauen häufiger verdrängt, so dass die geschlechtertypische Hierarchie in der Arbeitswelt wieder strengere Formen annimmt als vorher. Damit nähern sich die ostdeutschen Verhältnisse an die westdeutschen an, die stärker geschlechtstypisch hierarchisiert waren. Langfristig lässt sich im Westen ein gegenläufiger Trend ausmachen, was diese Hierarchisierung betrifft, aber in Ostdeutschland hat sich diese Trennung zunächst einmal verschärft – gegen den historischen Trend.

HK: Frauenforscherinnen haben darauf hingewiesen, dass die problematische Situation auf dem Arbeitsmarkt auch Rückwirkungen auf die familiäre Arbeitsteilung hat...

Geißler: Es liegt nahe, dass Frauen ohne Erwerbsarbeit wieder in die Hausarbeit abgedrängt werden, womit die geschlechtstypische Aufteilung der Arbeit im Osten wieder stärker zunimmt. Wo Frauen ihren Gleichstellungsvorsprung indes behaupten konnten, ist der politische Bereich. Zwar ist der Frauenanteil in den letzten Bundestagen generell kontinuierlich angestiegen, aber der Frauenanteil unter den ostdeutschen Bundestagsabgeordneten ist höher. Nachwirkungen zeigt auch die politische Sozialisation aus ehemals sozialistischen Zeiten, in denen die Frauen stärker in die Politik eingebunden waren. Ostdeutsche Frauen interessieren sich nachgewiesenermaßen stärker für Politik als westdeutsche. Ähnliche Langzeitwirkungen lassen sich für das Bildungssystem ausmachen.

„In der Bevölkerungsentwicklung war die DDR eine weltweite Ausnahmeerscheinung“

HK: Ein großes Problem stellt die „Abwanderung Ost“ für den ostdeutschen Lebens- und Arbeitsraum dar. Laut Statistischem Jahrbuch haben im letzten Jahr so viele Ostdeutsche ihrer Heimat den Rücken gekehrt wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Mehr als die Hälfte der Abwandernden sind jünger als dreißig Jahre. Drohen die ostdeutschen Regionen der Bundesrepublik gleichzeitig auszubluten und zu vergreisen?

Geißler: Bei der Bevölkerungsentwicklung war die DDR eine weltweite Ausnahmeerscheinung. Sie war das einzige Land, in dem die Bevölkerung kontinuierlich zurückgegangen ist. Die DDR hat zwischen 1950 und 1989 zwei Millionen Menschen verloren, ungefähr zwölf Prozent ihrer Bevölkerung; ein großer Teil dieser Verluste ist auf Wanderung zurückzuführen. In Westdeutschland haben wir einen rasanten Bevölkerungsanstieg in dieser Zeit. Es lässt sich gut diagnostizieren, dass Ostdeutschland diese Tendenz zum Bevölkerungsrückgang auch 1989 nicht stoppen konnte, die Bevölkerungsschrumpfung hat sich nach der Wende sogar noch beschleunigt fortgesetzt. Dabei spielen zwei Ursachenkomplexe zusammen, die Ost-West-Wanderung und der Geburtenrückgang. In einem Jahrzehnt, zwischen 1991 und 2001, sind 1,9 Millionen Menschen von Ostdeutschland nach Westdeutschland gewandert. Und immerhin 1,4 Millionen Westdeutsche sind im selben Zeitraum nach Ostdeutschland gegangen. Man kann sie als „Chancensucher“ bezeichnen: Westdeutsche, die sich im Osten als Selbstständige niedergelassen, also eine Firma gegründet haben oder die im Management, in der Administration oder als Wissenschaftler eine gute Position erreichen konnten. Es gab also durchaus auch einen West-Ost-Strom, insbesondere in den mittleren und oberen Mittelschichten.

HK: Das klingt, als ob der Saldo der deutschen Binnenwanderung zwischen Ost und West beinahe ausgeglichen worden wäre?

Geißler: Seit Mitte der neunziger Jahre hat sich diese Entwicklung wieder umgedreht, so dass wir jetzt zunehmend negative Wanderungsbilanzen für Ostdeutschland haben. Ein anderes Problem ist der gravierende Geburteneinbruch in Ostdeutschland. Es gab eine Art „Wendeschock“ im Privatleben: In einer Welt der radikalen Umbrüche wurde das Privat- und Familienleben zu einem kleinen Hafen der Ruhe, man scheute folgenreiche Veränderungen. Nur noch wenige haben geheiratet oder ließen sich scheiden, nur wenige haben Kinder bekommen. So kam es zu einem dramatischen Einbruch in der Geburtenentwicklung. In den neuen Ländern ist die heutige Kindergeneration nur noch etwa halb so groß wie die Elterngeneration.

HK: Das Problem des Geburtenrückgangs und darüber hinaus des Fachkräftemangels betrifft ja die Bundesrepublik insgesamt, wie zuletzt auch die Debatte um das Zuwanderungsgesetz in den vergangenen beiden Jahren gezeigt hat. Wie ist es in Ostdeutschland um Zuwanderung aus dem Ausland bestellt?

Geißler: Die DDR hatte Bevölkerungsverluste zu verzeichnen, aber dennoch so gut wie keine Einwanderung benötigt. Eine Ausnahme waren die etwa 200 000 „Leiharbeiter“, die als Arbeitskräfte über bilaterale Abkommen mit Vietnam, Kuba und Moçambique in die DDR gebracht wurden. Ein „Gastarbeiterphänomen“ wie in Westdeutschland gab es nicht, die DDR war bis zu ihrem Untergang eine weitgehend monoethnische Gesellschaft. Daran hat sich auch zwölf Jahre nach der Wiedervereinigung so gut wie nichts geändert. In Ostdeutschland liegt der Prozentsatz der Zuwanderer ohne deutsche Staatsangehörigkeit bei etwa zwei Prozent – gegenüber rund zehn Prozent in Westdeutschland. Doch ist schon heute absehbar, dass Ostdeutschland aufgrund des starken Bevölkerungsrückgangs und um den Wirtschaftsbetrieb aufrechtzuerhalten, auch die Entwicklung zur multiethnischen Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten nachholen wird.

HK: Als Bundestagspräsident Wolfgang Thierse Anfang letzten Jahres davon sprach, dass „der Osten auf der Kippe“ stehe, gab es, wie kaum anders zu erwarten, gegensätzliche Reaktionen, unter anderem wurde der Vorwurf laut, Thierse dramatisiere die Lage unnötig und unterschlage die wirtschaftlichen und sozialen Fortschritte, die seit der Wiedervereinigung erreicht worden seien. Der jüngst veröffentlichte Sozialreport 2002 lässt wiederum Zweifel aufkommen, ob sich die Verhältnisse in den neuen Bundesländern tatsächlich verbessert haben.

Geißler: Der ostdeutsche „Sozialreport 2002“ erscheint mir als eine zu pessimistische Interpretation der Daten. Repräsentative Untersuchungen belegen, dass immer mehr Ostdeutsche ihre Lage im Vergleich zur Situation der Wendezeit als verbessert einschätzen. Dieser Trend lässt sich auch anhand der Zahlen des Sozialreports ablesen, wenngleich dieser den Akzent stark auf die Verlierer legt. Nach meinen Beobachtungen ist Ostdeutschland seit der Wende durchaus aufgeblüht, das lässt sich auch mit statistischen Zahlen belegen. Freilich gibt es weiterhin erhebliche Defizite, insbesondere die hohe Arbeitslosigkeit oder auch den Produktivitäts- und Verdienstrückstand.

HK: Wie hat sich die Wiedervereinigung in den ostdeutschen Bundesländern im Hinblick auf die Vermögenssituation ausgewirkt?

Geißler: Im Gegensatz zu Westdeutschland, wo die Menschen fünfzig Jahre Zeit hatten, um zuerst ihren Wohlstand zu steigern und dann Vermögen zu bilden, fehlte in der DDR eine solche wohlhabende Schicht. Zwar haben sich auch die Vermögen der Ostdeutschen in der ersten Hälfte der neunziger Jahre verdoppelt, sie betragen aber durchschnittlich nur etwa ein Drittel der westdeutschen. Die fortbestehenden Ost-West-Unterschiede werden in Ostdeutschland als besonders dramatisch empfunden – ein Phänomen, das in der Ungleichheitsforschung als „Tocqueville-Paradox“ bekannt ist: Je mehr soziale Ungleichheiten verringert werden, umso sensibler wird man gegenüber den verbleibenden. Sozialpsychologische Untersuchungen zeigen, dass Ostdeutsche die Verhältnisse im Westen „goldener“ und im Gegenzug die eigenen „grauer“ sehen, als sie tatsächlich sind. Das heißt, der tatsächliche Abstand wird psychologisch vergrößert. Womöglich kommen aus dem gleichen Grund ostdeutsche Soziologen zu anderen Ergebnissen als westdeutsche.

HK: Neben der Mauer in den Köpfen wird nicht selten auch die damit einhergehende Trennung in der Redeweise beklagt. Ist die Unterscheidung zwischen Ost und West und den jeweiligen Interessen hüben wie drüben noch sinnvoll? Was steht der Wiedervereinigung in Herzen und Köpfen entgegen oder – um Willi Brandt zu zitieren – wann „wächst zusammen, was zusammengehört“?

Geißler: Es muss möglichst bald gelingen, das Gefühl der Ostdeutschen, nicht gerecht behandelt zu werden, zum Verschwinden zu bringen, die Mehrheit jener 84 Prozent, die sich als „Bundesbürger und -bürgerinnen zweiter Klasse“ empfinden, muss zu einer Minderheit abschmelzen. Nach wie vor gibt es auch in beiden Teilen gewisse gegenseitige Vorbehalte, wobei sich die Distanz der Ostdeutschen gegenüber den Westdeutschen nachweislich vergrößert hat. Auf der anderen Seite belegen die Umfragen auch ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl in Deutschland, fast niemand will die Wiedervereinigung ernsthaft rückgängig machen. Schließlich kann die Rede von der „inneren Einheit“ nicht bedeuten, dass kulturelle Unterschiede zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen zum Verschwinden gebracht werden sollen. Wir sind eine kulturell vielfältige Gesellschaft. Ebenso wenig wie es nötig wäre, dass Norddeutsche wie Süddeutsche fühlen, bemisst sich die Einheit daran, dass Ostdeutsche wie Westdeutsche denken und empfinden.

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