Erst vor wenigen Wochen veranstaltete die Universität Graz eininternationales Symposion über Phänomene des Rechtspopulismus, wobei Wissenschaftler aus halb Europa die FPÖ als ein Modell für eine „neue Qualität“ dieses Rechtspopulismus diskutierten. Dabei wurde in dem Versuch einer Diagnose festgestellt, dass populistische Führer in der Regel wie Popstars agieren und durch ihre Erfolge zu immer neuen Regelverletzungen und Tabubrüchen getrieben werden. Je unberechenbarer sich der jeweilige Rebell dabei gibt, desto größer sei die Begeisterungseiner Fans, urteilten die akademischen Experten. Nun sind eben die ersten Veröffentlichungen über dieses Symposion erschienen, und siehe da: In der Zwischenzeit hat die FPÖ den größten Erfolg ihrer Geschichte wieder verspielt, sie hat sich selbst aus der Regierung katapultiert und fast die gesamte oberste Führungsriege der Partei demontiert. Das freiheitliche Experiment in Österreich ist damit fürs erste gescheitert. Und während man in vielen Ländern Europas noch vor kurzem über Österreich als abscheulichen Hort des Rechtsextremismus philosophierte und Sanktionen der EU-Länder gegen dieses Land inszenierte, zeigt sich nun am Beispiel dieses Österreich, auf welche Weise der Rechtspopulismus sehr wirkungsvoll ad absurdum geführt werden kann.
Das Hauptverdienst an diesem Umschwung fällt zweifellos Bundeskanzler Wolfgang Schüssel zu, der auch in seinem eigenen Land wilden Attacken ausgesetzt war, als er sich im Februar 2000 entschloss, fürs erste keine neue Auflage der großen Koalition mehr einzugehen, die viel zur politischen Erstarrung und damit zur indirekten Förderung populistischer Demagogie beigetragen hatte. Schüssel nahm stattdessen das Wagnis einer schwarz-blauen Koalition auf sich. Die Erde schien einzustürzen, als dieses in Österreich bisher beispiellose Experiment begann: Tausende Demonstranten belagerten schon am ersten Tag von Schwarz-Blau das Bundeskanzleramt und die Präsidentschaftskanzlei in Wien, so dass die neuen Minister nur unterirdisch, durch verwinkelte Kellerräume zur Angelobung beim Bundespräsidenten kommen konnten. Viele Monate hindurch wurde die Polizei in der Bundeshauptstadt durch regelmäßige, zum Teil auch turbulente Demonstrationen linker und anderer Protestierer in Atem gehalten.
Haider erzwang einen Kurswechsel in der FPÖ
Im internationalen Konzert aber sah sich die Republik Österreich ins Abseits gestellt, bei internationalen Konferenzen war es plötzlich „politisch korrekt“, dass mit österreichischen Regierungsmitgliedern nicht gesprochen wurde, dass „man“ Staatsbesuche in Österreich vermied, wobei sich die rot-grüne Regierung in Deutschland besonders eifrig zeigte, und dass französische wie belgische Schulkinder nicht mehr zu Schikursen nach Österreich kommen durften. Kanzler Schüssel aber war überzeugt, eine neuerliche große Koalition würde nur den Effekt haben, Jörg Haider die Chance zu geben, nächster Bundeskanzler zu werden. Und alle Demonstrationen und Sanktionen gegen die FPÖ würden nur dazu führen, dass man ungewollt den inneren Zusammenhalt dieser populistischen Partei stärkt, während ihre Einbindung in die Regierungsverantwortung automatisch die innerparteilichen Zentrifugalkräfte beflügeln würde. Man müsse die FPÖ unbedingt in die Regierung holen, um ihre Demagogie wirkungslos zu machen. Eine andere Möglichkeit gebe es nicht.
Am Beispiel Haider zeigt sich nun die weitgehende Richtigkeit dieser Überlegungen. Denn Haider stand seit 1986, als er durch geschickt vorbereitete putschartige Vorgänge zum Obmann der damaligen FPÖ gewählt wurde, für Draufgängertum, Ideenreichtum, vor allem für Jugendlichkeit. Er galt als der „Wunschtraum mancher Schwiegermutter“, war schlagfertig, redegewandt und stets für Überraschungen gut. Haider kam, sah und siegte eine ganze Reihe von Jahren. Rückschläge wie etwa nach seiner Abwahl als Kärntner Landeshauptmann im Juni 1991 oder nach der Gründung des „Liberalen Forums“ durch fünf ausgetretene FP-Mandatare im Februar 1993 vermochte er stets wegzustecken, und der oft Totgesagte feierte immer wieder neue Triumphe. Am 3. Oktober 1999 konnte Haider schließlich mit dem (hauchdünnen) zweiten Platz bei der Nationalratswahl seinen größten Sieg verbuchen.
Doch die Früchte erntete zunächst ein anderer: ÖVP-Chef Schüssel, der als Obmann der drittstärksten Partei, also in scheinbar aussichtsloser Position, im Februar 2000 Bundeskanzler wurde, und der sich auch durch die Sanktionen der EU nicht einschüchtern ließ. Haiders frühere Pressereferentin Susanne Riess-Passer wurde die neue Vizekanzlerin, die schließlich sogar die Parteiführung übernahm. Während im Februar 2000 die FPÖ bei einer „Sonntagsfrage“ sogar auf den sensationellen Spitzenwert von 33 Prozent kam, hatte Haider, der unermüdliche Befürworter einer schwarz-blauen Koalition, das Nachsehen. Die Tränen, die er sich vor den Fernsehkameras aus den Augen wischte, als er die Führung der FPÖ nach Bildung der schwarz-blauen Koalition an Riess-Passer übergab, dürften echt gewesen sein. Der kühl kalkulierende Bundeskanzler aber setzte darauf, dass Haider seine Erfolge nur als rücksichtsloser und hemmungsloser Oppositioneller erzielen konnte, nicht aber als Exponent der Regierung, der naturgemäß auch unpopuläre Maßnahmen zu vertreten hat.
Diese Rechnung ist schneller aufgegangen, als man im Februar 2000 annehmen konnte: Haider, der durch den massiven Widerstand der Öffentlichkeit gegen seine Person selbst eingesehen hat, dass er ganz unmöglich den Anspruch auf den Kanzlerposten für seine Partei oder gar für sich stellen konnte, musste in der Partei wenigstens nach außen hin in die zweite Reihe zurücktreten. Auf diese Weise ist der Seriensieger der vergangenen Jahre plötzlich aus der ersten Reihe verschwunden, ihm kam nun im offiziellen Bild oft nur noch die Rolle des Einflüsterers und Ränkeschmieds zu, der hinter den Kulissen die Fäden zieht. Er war für viele nicht mehr der Hauptakteur. Seither ging es bei Wahlen mit der FPÖ allmählich bergab, zuerst sanft und unmerklich, dann immer rasanter, und Haider wurde immer klarer, dass er handeln musste, um nicht weiter Terrain zu verlieren. So ging er im Sommer dieses Jahres daran, einen internen Kurswechsel in der FPÖ zu erzwingen: Nicht mehr Themen der Regierungsverantwortung sollten im Vordergrund stehen, sondern polemisch und demagogisch aufbereitete Sorgen und Wünsche des „kleinen Mannes“, mit denen Haider schon bisher seine Wahlerfolge eingeheimst hatte. Doch plötzlich zeigte sich, wie sehr sich die Situation geändert hatte: Die neue, aus Tirol kommende Parteichefin Riess-Passer wehrte sich vor allem gegen die Forderung Haiders, trotz der angespannten Budgetlage und trotz der Belastungen durch das Jahrhundert-Hochwasser eine Steuerreform zugunsten der kleinen Steuerzahler zu forcieren.
Der Streit eskalierte Anfang September
Und der freiheitliche Verteidigungsminister Herbert Scheibner wehrte sich nach Kräften gegen die Forderung Haiders, auf jene 24 neuen amerikanischen Kampfflugzeuge zu verzichten, die die Regierung nach jahrelanger Verzögerung nun endlich ankaufen wollte. In diesem beinharten parteiinternen Konflikt kam es schließlich, nicht zuletzt durch die Standfestigkeit des jungen, tüchtigen FP-Finanzministers Grasser, zu einem bis dahin noch nicht da gewesenen Eklat innerhalb der FPÖ: Die freiheitliche Regierungsmannschaft wandte sich intern einmütig gegen die populistischen Forderungen, die über Betreiben Jörg Haiders vor allem vom unteren und mittleren Funktionärskader gestellt wurden.
Doch Haider kalkulierte offenbar ganz anders: Er sorgte sich um die zahllosen kleinen Leute, die nicht zuletzt er durch seine geschickten populistischen Parolen dazu gebracht hatte, FPÖ zu wählen. Auf diese Weise hatte er ja seine Partei zur „eigentlichen“ Arbeiterpartei gemacht, wie der Kärntner Landeshauptmann bei unzähligen Versammlungen stolz verkündete. Ihm ging es darum, auch weiterhin systematisch die sogenannten kleinen Leute anzusprechen, die aus irgendwelchen Gründen zu kurz gekommen und daher frustriert sind. Ändert die FPÖ ihren Kurs, und vertritt sie nun Erfordernisse der Staatsräson, nicht der breiten Massen, dann mag dies von Nutzen für das Land sein. Doch mit einer derartigen Politik kann man nicht jene Wählerquoten halten, die in den vergangenen Jahren der FPÖ zu ihren Erfolgen verholfen haben. Das waren wohl einige der Überlegungen Haiders, der im Sommer und im Frühherbst immer dringlicher auf einer Steuerreform zugunsten der breiten Schichten beharrte. Da jedoch die meisten freiheitlichen Regierungsmitglieder einen derartigen Kurs ablehnten, kam es zu immer heftigeren Auseinandersetzungen im FP-Regierungsteam, die auch durch stundenlange „Therapiesitzungen“ der FPÖ-Führung nicht beseitigt werden konnten. Ein außerordentlicher Parteitag sollte schließlich diese Differenzen ausräumen, doch den lehnte die Parteivorsitzende entschieden ab. Haider wurde immer zorniger angesichts dieser Auseinandersetzungen. Er bezeichnete den Standpunkt von Susanne Riess-Passer als „unverständlich“, rügte Finanzminister Grasser als „undemokratisch“ und nannte Klubobmann Westenthaler „undankbar“.
Anfang September eskalierte dann der Streit innerhalb der FPÖ. Es ging nun nicht mehr nur um ein „Ja“ oder „Nein“ zu der von Haider so vehement geforderten Steuerreform, es ging auch um die neuen Flugzeuge für die Luftraumüberwachung über Österreich, um das von Haider geforderte österreichische Veto gegen den EU-Beitritt Tschechiens wegen der Benes-Dekrete und des Atomkraftwerkes Temelin sowie um nicht näher definierte Vorbehalte gegen die EU-Osterweiterung und schließlich um die Abhaltung eines außerordentlichen Parteitages. Diese Themen erwiesen sich allerdings bald als gefährlicher Selbstzünder für die FPÖ selbst, denn mehrere Regierungsmitglieder, die von ihr gestellt wurden, lehnten die von Haider beschworenen Forderungen ab. Da somit auf offizieller Ebene nichts von diesem Forderungsbukett durchzusetzen war, beschlossen parteiinterne „Rebellen“, die von Haider gedeckt wurden, die Abhaltung eines inoffiziellen „Parteitages“ mit 400 Delegierten in der obersteirischen Industriestadt Knittelfeld. Unter Führung des niederösterreichischen Volksanwaltes Ewald Stadler, der vor einigen Jahren das Bekenntnis zu einem „wehrhaften Christentum“ im Parteiprogramm der FPÖ gefordert und dabei die Unterstützung des St. Pöltener Diözesanbischofs Kurt Krenn gefunden hatte, begannen die Vorbereitungen zu dieser merkwürdigen Parteiversammlung. Bei dieser Veranstaltung, so verlautete gerüchteweise, sollte Riess-Passer abgesetzt und Haider als Parteichef wieder eingesetzt werden. Haider unternahm es in dieser Situation, selbst nach Knittelfeld zu fahren, um dort die „Rebellen“ zu beruhigen. Doch wieder einmal schlug er eine Volte um 180 Grad: Er legte den aufmüpfigen Parteifunktionären nicht die mit Susanne Riess-Passer abgesprochene und vorbereitete Resolution vor, sondern sprach sich lediglich für einen recht flauen Kompromiss zwischen den „Revoluzzern“ und der Parteiführung in Wien aus. Dafür wurde er von den Anwesenden als „Anwalt“ gegenüber der Parteispitze überschwänglich gefeiert.
Die Karten in der politischen Landschaft werden neu gemischt
Diese Demütigung nahm Riess-Passer nicht hin: Sie legte den Parteivorsitz am nächsten Tag demonstrativ nieder und trat zurück. Seinen Rücktritt erklärte auch der früher so streitbare Klubobmann der FPÖ sowie der freiheitliche Finanzminister, der nach Jahren der Defizitwirtschaft in Österreich zum erstenmal ein Null-Defizit für das Jahr 2001 zustande gebracht und aus diesem Grund in der Öffentlichkeit geglänzt hatte. Diesem Finanzminister hielt Haider einen mehr als seltsamen „Nachruf“, der etwas von den tiefen Gegensätzen erahnen lässt, die die beiden Männer immer mehr trennten. Haider sagte jedenfalls: „Grasser fehlt eben der Draht zum ,kleinen Mann‘, er hat sein Leben immer im Wohlstand gelebt und nie wesentliche Probleme bewältigen müssen.“
Wahlentscheidend bleibt die Metropole Wien
In dieser chaotischen Situation griff Bundeskanzler Schüssel, der lange, nach Meinung nicht weniger Österreicher allzu lange zu diesen Vorgängen in der Regierung geschwiegen hatte, endlich ein und zeigte gleich wieder seine Pranke als Meistertaktiker: Er kündigte ohne langes Hin und Her die schwarz-blaue Koalition auf, so dass quasi über Nacht Neuwahlen für den 24. November ausgeschrieben wurden. Damit hatte Haider offensichtlich überhaupt nicht gerechnet. Er hatte offenbar angenommen, Schüssel werde es nicht übers Herz bringen, das schwarz-blaue Regierungsprojekt und damit seine eigene Kanzlerschaft aufs Spiel zu setzen. Damit hat sich Haider sehr getäuscht. So etwas verzeiht aber ein Mann seines Schlages nicht, schrieb ein kluger Beobachter unter dem Eindruck dieser Vorgänge.
Die FPÖ bot jedenfalls in diesen Tagen einen durchaus desaströsen, ja chaotischen Eindruck und stürzte nach übereinstimmenden Umfrageergebnissen mehrerer Meinungsforschungsinstitute von fast einem Drittel der Wählerstimmen auf knapp die Hälfte ab. Bestätigt wurden diese Aussagen der Meinungsforschung durch die Ergebnisse der Landtagswahl im Burgenland Anfang Oktober, wo die FPÖ in der Tat mehr als die Hälfte ihrer Mandate verlor. Unter dem Eindruck all dieser Hiobsbotschaften kam es in den meisten Landesgruppen der FPÖ zu Austrittswellen erboster Mitglieder, bei Versammlungen der Partei waren Schreiduelle und gegenseitige Beschimpfungen an der Tagesordnung. Dazu kam, dass weder bei den Freiheitlichen noch bei den Sozialdemokraten oder den Grünen Wahlplakate oder andere Wahlvorbereitungen zur Stelle waren. Haider aber scheint in diesen Tagen des Umbruches zumindest anfänglich in eine depressive Phase abgestürzt zu sein, denn er meldete sich in der Öffentlichkeit nur mit einigen düsteren Wortspenden. So erklärte er über die Ursachen des freiheitlichen Absturzes, die Wiener Parteispitze der FPÖ habe sich mit den politischen Gegnern verbündet, um ihn zur Strecke zu bringen: „Ich habe mit dem Mut der Verzweiflung gekämpft, leider gegen die eigene Mannschaft. Ich wollte die FPÖ aber nicht gefährden. Denn würden wir diese Debatten weiterführen, dann bleibt von der FPÖ nicht mehr viel übrig. Das heißt: Es muss einer nachgeben. Und ich habe nachgegeben. Der Klügere gibt eben nach oder: Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan...“
Wenige Tage später gab Haider bekannt, er ziehe sich nunmehr „endgültig“ von der Spitze der FPÖ zurück. Zwei Tage später sagte er im Fernsehen des ORF, die wahre Ursache seines Rückzuges sei der Umstand gewesen, dass er sich persönlich bedroht gefühlt habe. So sei ein Mann auf der Straße auf ihn zugekommen und habe ihn gewarnt, den Ankauf von modernen Jagdflugzeugen für das österreichische Bundesheer weiter zu verhindern. Diese Mitteilung habe der Mann mit der Warnung verbunden, Haider möge auf seine Familie gut aufpassen. „Ich bin nicht zimperlich, aber ich bin nicht bereit, ein solches Risiko auf mich zu nehmen“, erklärte der freiheitliche Politiker in diesem Zusammenhang dem ORF. Diese Erklärung wurde von den politischen Gegnern Haiders mit unverhohlenem Spott aufgenommen. Damit sind die Karten in der politischen Landschaft Österreichs völlig neu gemischt, und zur Zeit scheint bei dem bevorstehenden Wahlgang im buchstäblichen Sinne alles möglich zu sein. Kanzler Schüssel hat bereits mehrmals bekräftigt, dass für ihn jede Koalition mit einer der vier Parlamentsparteien möglich sei, wobei nur die Grünen von der ÖVP mit eigenartiger Reserve behandelt werden. Sehr viel deutet darauf hin, dass Wolfgang Schüssel jetzt darauf spekuliert, dass die Volkspartei, die noch im Februar 2000 an dritter Stelle gelegen ist, nun vage Chancen hat, sich auf die Nummer Eins vorzuschieben. Dieses Ziel wird wohl von der ÖVP nicht ausdrücklich genannt, doch sind sich alle Parteien im Klaren, dass das die entscheidende Frage dieses Wahlganges sein wird. Das größte Hindernis, das sich dieser Zielsetzung entgegenstellt, ist wohl die numerische Stärke der österreichischen Sozialdemokratie, die selbst durch die zweieinhalb Jahre der schwarz-blauen Koalition in ihrer zahlenmäßigen Stärke in keiner Weise geschmälert werden konnte. Nach allen Umfragen ist die SPÖ nach wie vor die mit Abstand stimmenstärkste Partei, die vor allem die Bundeshauptstadt Wien in traditioneller Weise dominiert. Die Metropole Wien ist aber allein schon durch ihre Größe in der Vergangenheit immer wieder wahlentscheidend gewesen.
Angesichts dieser Situation wird es entscheidend sein, wie sich die Sozialdemokraten in den kommenden Wahlen halten können. Sie treten diesmal mit dem neuen und jungen Parteivorsitzenden Alfred Gusenbauer an, der noch nicht viel von dem zeigen konnte, was in ihm steckt. Allerdings überraschte Gusenbauer Mitte Oktober die Öffentlichkeit mit einem geschickten Coup, als er einen angesehenen und populären Fernseh-Redakteur des ORF, Josef Broukal, an prominente Stelle der SPÖ-Wahlvorschläge setzte und ihm zusagte, bei einer sozialdemokratischen Regierungsbeteiligung sei er als Minister für Technologie vorgesehen. Zur Koalitionsfrage erklärte der SP-Parteivorsitzende, er sei zur Zusammenarbeit mit allen Parlamentsparteien mit Ausnahme der FPÖ bereit. Über die innere Situation der sozialdemokratischen Partei gab ein Interview recht gut Auskunft, das der seinerzeitige SP-Finanzminister Hannes Androsch in der Regierung Bruno Kreiskys kürzlich gegeben hat. In diesem Interview sagte der Ex-Minister, er habe sich in den letzten Monaten von Parteifreunden immer wieder anhören müssen, wie schrecklich alles unter der schwarz-blauen Koalition geworden sei. Dabei sei aber das einzige, was geschehen sei, das Umpinseln der Parteifarbe in der Personalpolitik gewesen. Die Strukturen seien alle die alten geblieben. Jetzt sei die SPÖ nicht sonderlich erpicht auf eine rotgrüne Koalition nach deutschem Muster. Sie wolle hingegen wieder Mitspieler werden und nicht länger Zuschauer sein. Dabei gebe er persönlich einer großen Koalition noch immer den Vorzug. Er meine damit eine große Koalition in neuer Besetzung, und nicht eine breite Koalition, wie sie in Österreich zwischen 1987 und 2000 bestand, die kraftlos, sklerotisch, ohne Gestaltungswillen und gehemmt durch zahllose Verfahrens- und Verfassungsbestimmungen gewesen sei.
Wird die ÖVP wieder stärkste Partei?
In der FPÖ gelang es erst nach einer längeren Schockpause, den Kärntner Biobauern Mathias Reichhold, einen langjährigen Mitkämpfer von Jörg Haider, zum neuen Parteichef zu wählen. „Wir müssen das Erbe von Jörg Haider verteidigen“, sagte der neue Parteiobmann, der in den vergangenen Jahren immer wieder hohe Funktionen in der FPÖ innehatte, aber dann stets auf seinen Hof zurückgekehrt war. „Haider gibt uns jetzt eine Chance für einen Neubeginn“, behauptete der neugewählte Parteiobmann, Haider gebühre Respekt, Anerkennung und Dank. Nach diesen Worten sprangen die Delegierten auf, es folgten Standingovations für den „Übervater“, während an Susanne Riess-Passer nicht erinnert wurde. Im weiteren Verlauf seiner Installierung als neuer Parteiobmann fügte Reichhold hinzu, wenn er spüren sollte, dass er nur ein Schattenobmann sei, dann werde er gehen. Aufhorchen ließ in diesen Tagen auch Haider mit der Ankündigung, im Fall einer Wahlniederlage im November werde er wieder als Parteiobmann zur Verfügung stehen: „Wenn Sie so wollen, bin ich sicherlich ein Sisyphus in der FPÖ, der bereit ist, den Stein wieder nach oben zu bringen.“ Damit sprach Haider indirekt das alte Trauma des „dritten Lagers“ in Österreich an, mit dem er sich offenbar um keinen Preis abfinden möchte: Das Ausgeschlossensein von der Macht, die gesellschaftliche Marginalisierung durch Schwarz und Rot, ein Zurück in das Oppositions-Ghetto. Alle diese Beobachtungen lassen erwarten, dass Bundeskanzler Schüssel in dem inzwischen angelaufenen Wahlkampf der Hauptgegner Haiders sein wird, denn von ihm droht der FPÖ die größte Gefahr. Sofort nach der Ankündigung der Neuwahlen hat der Bundeskanzler aber seine Leimruten für die FPÖ-Wähler ausgelegt: Diejenigen unter den freiheitlichen Wählern, die einen sozialistischen Bundeskanzler verhindern wollten, seien eingeladen, so hieß es auf ersten Wahlplakaten und in den ersten Wahlparolen, nun die ÖVP und Schüssel zu wählen, den „einzigen Garanten einer konstruktiven und verlässlichen Politik“. Wie die Dinge nun liegen, dürfte Schüssel der umkämpfte Mittelpunkt des inzwischen angelaufenen Wahlkampfes sein. Er ist kein sensibler, charismatischer Volkspolitiker, dem das populäre Image liegt, er ist aber auch kein kalter Machiavellist, als der er gerne dargestellt wird. Er ist vielmehr ein Politiker, der ganz bewusst mit Macht umzugehen versteht, und der selbst in scheinbar ausweglosen Situationen noch etwas herauszuholen weiß – und sei es den Bundeskanzlerposten. Er ist, kann man sagen, einer, der den untrüglichen Instinkt für den rechten Augenblick hat. So hat er im Februar 2000 die schwarz-blaue Koalition zur allgemeinen Überraschung durchgesetzt und die verbrauchte große Koalition von SPÖ und ÖVP abgelöst. Jetzt scheint Schüssel hinter den Kulissen alles daran zu setzen, die Volkspartei nach vielen Jahren des Niederganges wieder zur stimmenstärksten Partei zu machen, obwohl die rechnerische Ausgangslage mehr als prekär ist: Denn die Sozialdemokraten sind trotz der zweieinhalb Jahre der schwarzblauen Koalition nach wie vor die stärkste Partei und beweisen vor allem in Wahlkämpfen eine starke, innere Geschlossenheit.
Doch die letzten Tage zeigten, dass nun vieles in Fluss gekommen ist: Die Zertrümmerung der FPÖ hat nach aktuellen Meinungsforschungsumfragen der Volkspartei ein beachtliches Plus gebracht, und einzelne Umfragen zeigten bereits an, dass die ÖVP die SPÖ eingeholt hat. Das ist ein sensationelles Zwischenergebnis, das freilich in keiner Weise zu voreiligen Schlüssen führen darf, denn man kann nie wissen, was Haider in dieser verzweifelten Lage seiner Partei noch alles einfallen wird. Gerade wenn er sich bedroht und in die Enge getrieben fühlte, entwickelte Haider bisher ungeahnte Kräfte, und es gibt keinen Grund zur Annahme, dass er diese Reserven eingebüßt hat. Darüber hinaus weiß niemand, ob die Volkspartei in dieser aufregenden Wahlschlacht einen entsprechenden Kampfgeist entwickelt, oder ob sie sich in übliche verbale Beteuerungen bürgerlicher Bequemlichkeit zurückzieht. In einem bemerkenswerten Kommentar zu all diesen Vorgängen bemerkte der Innsbrucker Hochschullehrer Anton Pelinka, die Alt-68er müssten sich sehr gefreut haben, als rund um die FPÖ-Krise ein ihnen vertrautes Vokabular plötzlich wieder verwendet wurde: Von Basis und Basisdemokratie sei da viel die Rede gewesen, auch der interessante Begriff der Volksanwaltschaft sei aufgetaucht. Offenbar habe sich der Leninismus in die Kärntner Berge zurückgezogen, schrieb Pelinka in einem Gastkommentar der Wiener „Presse“, und unter dem Tarnbegriff „Freiheitliche Partei Österreichs“ ein Überleben gesichert. Tatsächlich hätten die schon immer Unrecht gehabt, die Jörg Haider ausschließlich unter dem Aspekt des Rechtsextremismus gesehen hätten. Jedenfalls seit 1986 habe aber die FPÖ auch ein linkes Erscheinungsbild gehabt – zumindest in ihrer Rhetorik und in ihrem politischen Stil. Die Attacken Haiders und Stadlers gegen das eigene Regierungsteam seien jedenfalls eindeutig nicht „rechts“, sondern „links“ gefärbt gewesen. Und Haiders Bemerkungen gegen „seinen“ Finanzminister, manche Leute hätten nur im Luxus gelebt und könnten deshalb den „kleinen Mann“ nicht verstehen, waren natürlich Populismus pur – aber eben keiner der rechten Sorte. Freilich habe Haider als letzter Leninist seinen Marxismus nur als gelegentliche Taktik, nicht aber als umfassende Strategie begriffen. Noch ein zweites bemerkenswertes Zitat soll hier angeführt werden. Es stammt vom Ordinarius für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst in Wien, Rudolf Burger, der sich nicht nur als Kritiker der Regierung, sondern auch der linken „Widerstands“-Bewegung gegen Schwarz-Blau einen Namen gemacht hat. Er schrieb dieser Tage: „Wenn es wahr ist, und das glaube ich, dass Haider und seine Bewegung sich zu einem zentralen Problem der Republik herausgebildet haben, dann war die Koalition, die Schüssel eingegangen ist, die einzig richtige Politik, um diese Bewegung zu stoppen.“