Klassiker sind Menschen, die man loben kann, ohne sie gelesen zu haben (Gilbert Keith Chesterton). Teilt Hans-Georg Gadamer, der am 13. März dieses Jahres in Heidelberg verstorbene Nestor der deutschen Gegenwartsphilosophie, dieses traurige Schicksal? Für die Philosophie scheint das nicht der Fall zu sein. Gadamer ist nach Jürgen Habermas der am zweithäufigsten zitierte deutsche Philosoph. Zu diesem Ergebnis kommen die „Informationen Philosophie“ anhand der Personenregister derjenigen Bücher, die in den Jahren 1998 bis 2000 bei der Redaktion eingegangen sind. Doch wie steht es mit Gadamers Einfluss auf die Theologie?
„Gadamers Jahrhundert“ ist jedenfalls keines, in dem sich der Philosoph als Handlanger der Theologie versteht. Gadamer selbst hat sich nur äußerst zurückhaltend zu Theologie, Christentum oder Religion geäußert. Vielleicht war er jedoch gar nicht so „religiös unmusikalisch“; möglicherweise geben seine gewiss spärlichen Bemerkungen Hinweise darauf, ob – und wenn ja, wie – er von theologischer Seite verstanden und legitim rezipiert werden könnte. Zu Beginn seines Essays „Die Aktualität des Schönen“ bewundert Gadamer, welch große und letztlich uneinholbare Herausforderung die christliche Vorstellung von der Trinität für das menschliche Denken bedeutet. Die christliche Botschaft sei das, was sie ist, weil sie einem bloßen Erkenntniswillen intellektueller Art nicht voll zugänglich ist – „das ist gleichsam der Witz der Trinität“ (Lutherische Monatshefte, Nr. 12/1994, 24). Der Tenor des letztlichen Nichtwissens hält sich durch, wenn Gadamer zu religiösen Themen Stellung nimmt. Ihm kommt es darauf an, die Diskrepanz zwischen göttlicher Absolutheit und menschlicher Vorläufigkeit zu betonen. So stellt er seine Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Evangelisch-Theologischen Fakultät Tübingen unter den Titel „Sokrates’ Frömmigkeit des Nichtwissens“. Seine dort vorgetragene Interpretation von Platons Dialog „Eutyphron“ gipfelt in der Aussage, ein frommes und gottgefälliges Leben bestehe nicht darin, alles und jedes über Gott zu wissen und ihn ergründen zu wollen. Ganz im Gegenteil, „die wahre menschliche Weisheit ist, sich des Nichtwissens im Wissenmüssen des Guten bewusst zu sein“ (Gesammelte Werke VII, Tübingen 1991, 108). Deshalb, so kann Gadamer unter Rückgriff auf Platons „Symposion“ ausführen, philosophieren Götter auch nicht, denn Götter wissen schließlich – nur wir Menschen suchen nach Wissen und Weisheit. Drei Komponenten sind Gadamer zufolge für ein intellektuell verantwortetes Leben maßgeblich: „die Kenntnis der Antike, das Wissen darum, wie sehr unser Denken durch die Tradition des Christlichen bestimmt ist, und der berechtigte Anspruch, ein heute philosophierender Mensch zu sein“ (Lutherische Monatshefte, 26).
Religion ist für Gadamer nicht vornehmlich oder gar ausschließlich christlicher Glaube. Sein Religionsbegriff ist ein denkbar weiter. Auf die ihm von Riccardo Dottori gestellte Frage, was religiöses Gefühl sei, antwortet Gadamer: „Eine für uns unumgängliche Frage, eine Hoffnungvielleicht, vielmehr eine Aufgabe, die uns alle in unseremgegenseitigen Verstehen einigt. Diese letzte ethische Aufgabe kann nicht von derjenigen Aufgabe getrennt werden, unsere eigene Existenz zu befragen und zu verstehen“ (Die Lektion des Jahrhunderts, Münster 2002, 153). Gadamer fasst hier Religion also ethisch und setzt sie in Beziehung zur hermeneutischen Bemühung, daseigene Dasein zu verstehen. Da er selbst es ist, der dies tut, scheint es auch für die theologische Diskussion keine unangemessene Grenzüberschreitung, in diesen Bahnen weiterzudenken. Mehr noch: Insofern Verstehen für Gadamer ein wirkungsgeschichtlicher Vorgang ist, liegt es auch in seiner Intention oder stellt es zumindest einen legitimen Beitrag zu seinem Verstehen dar, der theologischen Wirkungsgeschichte seines Werkes nachzugehen. Jedenfalls bedeutet es nicht, den Eigenwert der Philosophie im Sinne einer „ancilla theologiae“ gering zu schätzen.
Theologische Themen rühren an bestimmte Felder der Philosophie Gadamers – oder umgekehrt formuliert: Gadamers philosophischer Ansatz bietet Anknüpfungspunkte für weiterführende theologische Überlegungen. Zunächst wird Gadamer von Theologen wie Günter Stachel rezipiert, um die Bedeutung der Sprachlichkeit und Geschichtlichkeit in der Theologie gegenüber den noch nicht überwundenen neuscholastischen Positionen zur Geltung zu bringen (Die neue Hermeneutik, München 1967). Ohnehin steht zu dieser Zeit in der katholischen Theologie die Klärung des Verhältnisses von Dogma und Geschichte noch an. Zugleich gewinnt die katholische Theologie aber Anschluss an die in der evangelischen Theologie mit Blick auf Heidegger geführte Debatte um die Hermeneutik (Ernst Fuchs, Gerhard Ebeling und vor allem natürlich Rudolf Bultmann). Gadamers Schritt über Heidegger hinaus macht ihn für die Theologie als Gesprächspartner noch interessanter, weil sein Ansatz stärker auf das „Alltagsgeschäft“ bezogen bleibt. In seinem 1960 erschienenen Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ geht es Gadamer schlicht um die Beantwortung der Frage: Wie ist Verstehen überhaupt möglich? Die Hermeneutik Gadamerscher Prägung zielt auf das Verstehen von Texten und von Menschen. Sie ist somit nicht bloß eine wissenschaftliche, sondern eine lebensweltliche Grundhaltung. Sie ist so etwas wie eine grundlegende Verhaltensweise des Menschen, die ihn dazu befähigen soll, sich selbst im Kontext seiner Herkunft und seiner Lebenswelt zu verstehen. Es kommt Gadamer darauf an, dass wir andere verstehen lernen, in der Verständigung mit den anderen eine gemeinsame Sprache finden und so Solidarität miteinander möglich wird. Hier weist sein Ansatz eindeutig über den Binnenraum der Philosophie hinaus: Verstehen ist untrennbar mit seiner Anwendung verknüpft. Beispiele für diese hermeneutische Idealform, bei der die Anwendung nicht erst nachträglich erfolgt, findet Gadamer in der Jurisprudenz, nämlich im Gerichtsurteil – und in der Predigt. Umgekehrt, auf die Theologie bezogen, bedeutet dies, sie bräuchte hermeneutische Kompetenz im Sinne Gadamers, um nicht vordergründig anwendungsorientiert, sondern wirklich lebensdienlich zu sein.
Konvergenz zwischen philosophisch-hermeneutischer Textinterpretation und Bibelauslegung
An manchen Anknüpfungspunkten in Gadamers Philosophie kommt kein Theologe vorbei – unabhängig davon, ob man seine Gedanken positiv rezipieren oder ihre Ablehnung begründen will. Als prominente Kritiker von theologischer Seite haben sich David Tracy, Klaus Berger, Werner G. Jeanrond und Heinz-Günther Stobbe profiliert und vor einer vorschnellen oder unkritischen Rezeption gewarnt. Der augenfälligste Konvergenzpunkt ergibt sich zwischen philosophisch-hermeneutischer Textinterpretation und Bibelauslegung. Die moderne Exegese bedient sich der zeitgenössischen philosophischen Hermeneutik zur Erhellung des Textsinns. Auf diesem Wege hat Gadamer sogar Eingang in das Schreiben der Päpstlichen Bibelkommission „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“ aus dem Jahre 1993 gefunden. In der Beziehung von Leser und Text legt Gadamer den Akzent auf den Text, vor allem auf den klassischen Text. Mit Texten könne man wie mit Menschen prinzipiell auf drei Weisen umgehen: man kann (1) sie als bloßes Ding (Vorhandenes) behandeln; (2) dem Text beziehungsweise dem anderen zwar zugestehen, etwas zu sagen, aber mit der Einstellung, immer schon zu wissen, was der Text/das Du dem Ich sagen wollen; (3) den Text beziehungsweise den anderen als Partner ernst nehmen. In Umkehrung des üblichen Interpretationsverhaltens soll nicht der Interpret den Text befragen, sondern sich von ihm befragen lassen (Antwort-Frage-Dialektik). Revolutionär am Ansatz Gadamers ist vor allem diese Replikstruktur, die er jeder Aussage eines Textes zuschreibt: „In Wahrheit kann man einen Text nur verstehen, wenn man die Frage verstanden hat, auf die er eine Antwort ist“ (Wahrheit und Methode, Tübingen 1972, 352). Verstehen ist somit entscheidend Dialog, und Verstehen ist prinzipiell sprachlich. Die Wirklichkeit der Sprache besteht gerade im Dialog, denn wer eine Sprache spricht, die kein anderer versteht, spricht nicht wirklich. Sprechen heißt, mit jemandem im Gespräch sein. Dieses Axiom wird zunehmend von der Homiletik entdeckt. Ein Prediger im Sinne Gadamers hat mehr von einem Gesprächsteilnehmer als einem Schriftausleger traditioneller Façon. Er wird zum Gesprächspartner, dessen Predigten sich als artikulierte Praxis, als Interpretation und Anwendung zugleich, verstehen. Erfahrung lässt sich nicht via, sondern nur in Kommunikation vermitteln.
Allerdings macht Gadamer in seiner Sprach-Hermeneutik eine wesentliche Einschränkung: „Natürlich kann mit der prinzipiellen Sprachlichkeit des Verstehens nicht gemeint sein, dass alle Welterfahrung sich nur als Sprechen und im Sprechen vollzöge“ (Gesammelte Werke II, Tübingen 1986, 496). Auf die Theologie bezogen heißt das: sie kann von sich aus religiöse Erfahrung nicht „herbeireden“, kann sie weder verordnen noch ermöglichen; religiöse Erfahrung ist vielmehr eine Voraussetzung, von der die Theologie lebt und der sie dient, ohne sie selbst garantieren zu können. Theologie ist Metasprache in Bezug auf die Primärsprache, in welcher die Glaubenserfahrung kommuniziert wird. Zur Sprache gebracht werden will allerdings Glaubenserfahrung.
Rehabilitierung von Autorität und Tradition?
Verstehen als Gespräch steht selbst immer auch schon im Gespräch mit der Vergangenheit. Verstehen bewegt sich unablässig in einem Zirkel: Es ist gefangen in den eigenen Vorverständnissen und Vorurteilen; es ist eingebunden in die Andersheit, die der Text oder das Gegenüber repräsentieren. Auch dies wird besonders deutlich am Textverstehen: Verstehen ist immer ein wirkungsgeschichtlicher Vorgang, weil Text und Interpret ihre jeweils eigenen Zeithorizonte besitzen. In Gadamers Konzeption ist aber der Zeitabstand nicht mehr ein Abgrund, der trennt, sondern er ist der Grund, der trägt und der damit die Möglichkeit des Verstehens eröffnet. Wie Zwerge, die auf den Schultern von Riesen stehen, weiter sehen, zehren auch wir von unserer geschichtlichen Verwurzelung. Dazu befähigt uns aber erst der zwischen uns und den uns „tragenden“ liegende zeitliche Abstand, da sich in der Zwischenzeit ein größeres Erfahrungspotenzial angesammelt hat. In diesem Sinne ist Tradition „eine Form der Autorität“ (Wahrheit und Methode, 264). In diesem Punkt richtet sich Gadamers Ansatz gegen die Aufklärung, insofern sie sich keiner anderen Autorität als dem Diktat der Vernunft unterworfen hat, um dadurch – wie Kant es formuliert – den „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu erwirken. Bei Gadamer erscheinen Autorität und Tradition nun plötzlich als Stützen, nicht mehr als Gegenspieler der Erkenntnis.
Auf Seiten der Theologie konnte die Rehabilitierung von Autorität und Tradition unterschiedlich rezipiert werden. Dies geschah zum Teil so, dass die kritischen Impulse theologischer Arbeit eher zurückgedrängt wurden, so die Kritik vor allem bei Heinz-Günther Stobbe. Hier zeigen sich gewisse Parallelen zur aktuellen Diskussion um die Communio-Theologie: Weil sie ebenfalls durch restaurative Kräfte missbraucht werden kann, wird sie von einigen gleich ganz verabschiedet. Die Rehabilitierung von Geschichtlichkeit und Geschichte in der Hermeneutik will auch der Ambivalenz der Wirkungsgeschichte Rechnung tragen: Nicht nur die klassischen Überlieferungen sind als geschichtlich gewordene zu verstehen, auch die Interpretation steht unter dem Vorbehalt der Geschichtlichkeit. Einerseits ist sie durch die Geschichte erwirkte Wirkungsgeschichte, andererseits wirkt sie selber auf die Überlieferung zurück, ja kann diese sogar verfälschen. Rehabilitierung von Autorität und Tradition läuft deshalb nicht auf eine Heiligsprechung der Vergangenheit hinaus, bedeutet andererseits einen kritischen hermeneutischen Vorbehalt gegenüber jeglicher Interpretation und Rezeption. Tradition ist daher nicht pauschal zu rehabilitieren, sondern nach den Kriterien zu ihrer Bewährung zu befragen, wobei sich für die (christliche) Theologie das Problem ob der Normativität der Geschichte Israels und vor allem Jesu nochmals verschärft. Das heißt: Nicht in unserer Biographie und unserer jeweiligen kirchengeschichtlichen Epoche wird die Wahrheit des Evangeliums allererst bewahrheitet (freilich muss sie sich uns als Wahrheit aufdrängen), sondern im Blick auf „Geschichte und Geschick“ Jesu müssen sich Kriterien finden lassen (vgl. Bernd Jochen Hilberath, Theologie zwischen Tradition und Kritik, Düsseldorf 1978). In dieser Hinsicht war die vor allem von Jürgen Habermas vorgetragene Gadamer-Kritik hilfreich und sogar notwendig; es bleibt freilich die Frage nach den – nicht nur formalen – Kriterien einer „idealen Kommunikationsgemeinschaft“.
Es gibt Anknüpfungspunkte in Gadamers Philosophie, an denen Theologie bisher eher vorbeigegangen ist. Wenn es als Merkmal eines Klassikers gilt, dass das Potenzial seines Werkes nie ganz ausgeschöpft werden kann, erweist sich Gadamer spätestens hier als ebensolcher. Das Ziel aller Verständigung und alles Verstehens ist das Einverständnis in der Sache. So hat die Hermeneutik von jeher die Aufgabe, „ausbleibendes oder gestörtes Einverständnis herzustellen“ (Kleine Schriften IV, Tübingen 1977, 55). Denn „das Verständnis des Anderen kann nur auf dem Boden eines ursprünglichen Einverständnisses gelingen“ (Kleine Schriften I, Tübingen 1967, 104). In diesem Punkt ist Gadamer vehement widersprochen worden. Doch mit Einverständnis in der Sache ist nicht blinder Gehorsam gemeint: „Wer verstehen will, braucht das, was er versteht, nicht zu bejahen“ (Wahrheit und Methode, 530), sondern kann sich ihm gegenüber sogar noch im Prozess des Verstehens kritisch verhalten. „Wer einem Befehl den Gehorsam verweigert, hat ihn verstanden“ (Wahrheit und Methode, 317) entspricht bester theologischer Tradition (Thomas von Aquin, John Henry Newman), die – zumindest prinzipiell – in der katholischen Kirche in Geltung ist. Dass man das, was man versteht, nicht bejahen muss, ist eine Aussage von noch unausgeschöpftem Potenzial für die Ökumene. Der Sache nach gehen die Rahner-Fries-Thesen in die gleiche Richtung. Sie argumentieren freilich nicht mit Gadamer und wurden ihrerseits bislang kaum rezipiert.
In ökumenischem Kontext erscheint „Horizontverschmelzung“ eher als ein Ideal beziehungsweise eine regulative Idee. Denn unreflektiert übernommen könnte dieser Begriff einerseits als Freibrief für das Einschmelzen konfessioneller Traditionen zu einem „ökumenischen Einheitsbrei“ missbraucht werden; andererseits besteht das vor allem von protestantischer Seite vorgetragene Bedenken, dass der normative Horizont der Schrift (sola scriptura) seine Priorität gegenüber dem Gegenwartshorizont der Auslegung verlöre.
Wahrheit in und durch Kommunikation
Die ökumenische Kommunikationssituation wäre daher angemessener beschrieben als der Versuch, im gemeinsamen Horizont aus unterschiedlichen Perspektiven zu sehen. Gadamers Aussage „Es gibt so wenig einen Gegenwartshorizont für sich, wie es historische Horizonte gibt, die man zu gewinnen hätte. Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte“ (Wahrheit und Methode, 289; vgl. auch 539) hinderte ihn ja gerade nicht daran, klassische Traditionen auszuzeichnen. Schließlich sind die biblischen Texte in besonderer Weise solche, die uns als Antwort in Frage stellen. Horizontverschmelzung meint dann den Prozess des Verste Philosophie
hens, ohne über das Wahrheitskriterium eine Vorentscheidung zu treffen. Wahrheit und Kommunikation sind vielmehr neu zu begreifen als Wahrheit in und durch Kommunikation. Der Sinn einer Aussage kann nicht in dem Sinn objektiv sein, dass er außerhalb der Kommunikation zu entscheiden wäre. Es gibt keine letzte, endgültige Entscheidung darüber, was der andere gemeint hat, denn je nach Weltanschauung, Lebenskontext, ja sogar Sprachkompetenz gibt es beim Sprechen ganz verschiedene Differenzierungen und Konnotationen des verwendeten Wortschatzes. Nur im gemeinsamen Gespräch kann sich der Sinn von Aussagen stets aufs Neue, aber ohne letzte Garantie seiner Objektivität bewähren. Vom Gesichtspunkt der kommunikativen Theologie (vgl. Matthias Scharer / Bernd Jochen Hilberath, Kommunikative Theologie, Mainz 2002) aus erhalten einige Spitzenformulierungen Gadamers („seit ein Gespräch wir sind“; „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“) neue Leuchtkraft, weil sie sich von der Erfahrung und der theologischen Reflexion der Erfahrung her aufdrängen. Dafür spricht, dass im letzten Drittel des „Gadamerjahrhunderts“ von verschiedenen philosophischen Seiten – mit oder ohne Bezug auf Gadamer – grundlegende Einsichten des Menschseins artikuliert werden. Man denke nur an Schlagworte wie: linguistic turn, cultural turn, Vorrang des Anderen/Fremden, principle of charity.
Auch die (von Heidegger her beeinflusste) Aufmerksamkeit und philosophische Wertschätzung der Kunst, der Ästhetik, der Kritik der Urteilskraft – als Verbindendes zwischen reiner theoretischer und reiner praktischer Vernunft – sind hochaktuell. Schon die Problemexposition im ersten Teil von „Wahrheit und Methode“ steht unter der Überschrift „Freilegung der Wahrheitsfrage an der Erfahrung der Kunst“ (1 ff.). Bevor im zweiten Teil die „Wahrheitsfrage auf das Verstehen in den Geisteswissenschaften“ (162 ff.) ausgeweitet wird, fragt Gadamer nach der hermeneutischen Bedeutung einer „Ontologie des Kunstwerks“ (97 ff.). Hierbei geht es einerseits um die „Seinsvalenz des Bildes“, andererseits um das „Spiel als Leitfaden der ontologischen Explikation“. Was zum Seinswert des Bildes ausgeführt wird, zeigt unvermittelt seine hermeneutische Relevanz in der Überwindung einer verkürzten Auffassung von Anwendung und eines ontologischen Dualismus von Unendlichkeit und Endlichkeit. Gadamer radikalisiert die platonische Verbindung zwischen Abbild und Urbild durch die These, in der Darstellung steigere und vollende sich die Gegenwart des Dargestellten: „Jedes Bild ist ein Seinszuwachs und ist wesenhaft bestimmt als Repräsentation“ des Urbilds (Wahrheit und Methode, 141). In der christlichen Vorstellung der Inkarnation, die nicht „Einkörperung“ ist, entdeckt Gadamer „einen Gedanken (...), der dem Sein der Sprache besser gerecht wird [als „Einkörperung“], so dass die Sprachvergessenheit des abendländischen Denkens keine vollständige werden konnte“ (395). Inkarnation und ihre „theologische Ausdeutung in der Lehre von der Trinität“ zeigen, dass „im Unterschied zum griechischen Logos gilt: das Wort ist reines Geschehen (verbum proprie dicitur personaliter tantum)“ (396).
Anregungen für die Sakramententheologie
Was Wortgeschehen und ebenso Bildgeschehen ist, verdeutlicht Gadamer auch im Blick auf das christliche Sakramentsverständnis: „Mir ist – als Protestant – der in der protestantischen Kirche ausgefochtene Abendmahlsstreit immer sehr bedeutsam gewesen, insbesondere zwischen Zwingli und Luther. Mit Luther bin ich der Überzeugung, dass die Worte Jesu: ,Dies ist mein Fleisch‘ und ,dies ist mein Blut‘ nicht meinen, dass Brot und Wein dies ,bedeuten‘. Luther hat, glaube ich, das ganz recht gesehen und hat in diesem Punkt, soviel ich weiß, durchaus an der alten römisch-katholischen Tradition festgehalten, dass Brot und Wein des Sakramentes das Fleisch und Blut Christi sind. – Ich nehme dieses dogmatische Problem nur zum Anlass, um zu sagen, so etwas können wir denken und müssen wir sogar denken, wenn wir die Erfahrung der Kunst denken wollen; dass im Kunstwerk nicht nur auf etwas verwiesen ist, sondern dass in ihm eigentlicher da ist, worauf verwiesen ist“ (Die Aktualität des Schönen, Stuttgart 1977, 46). Wahrheit – der Religion, der Kunst, der Sprache – ereignet sich; „die Erscheinung des Schönen sowohl als die Seinsweise des Verstehens besitzen Ereignischarakter“ (Wahrheit und Methode, 459). Wahrheit und Schönheit konvergieren, wie Gadamer in Anlehnung an Platon ausführt: „Das, was derart vor allem anderen hervorleuchtet, ein solches Licht der überzeugenden Wahrheit und Richtigkeit an sich hat, ist es, was wir alle als das Schöne in Natur und Kunst gewahren und das uns die Zustimmung: ,Das ist das Wahre‘ abnötigt“ (Die Aktualität des Schönen, 19). Die Abnötigung der Zustimmung geht im Allgemeinen mit einer Verwandlung einher. In diesem Sinne sieht Gadamer die Intention des Kunstwerks in Parallele zur Intention religiöser Wortverkündigung: „Das Kunstwerk hat vielmehr sein eigentliches Sein darin, dass es zur Erfahrung wird, die den Erfahrenden verwandelt“ (Wahrheit und Methode, 98). Dass dies zugleich eine Aufgabe für den Leser, Hörer, Betrachter darstellt, belegt Gadamer in „Die Aktualität des Schönen“ mit einem Zitat aus Rilkes „Archaischem Torso Apollos“: „Da ist keine Stelle, die Dich nicht sieht. Du musst Dein Leben ändern“ (45).
In dieser Verwandlung besteht das „Mehr“ des Kunstwerks, das einen Zuwachs an Sein bedeutet. Das Sich-Ereignen von Wahrheit und Verwandlung folgt den Regeln des Spiels. Dieser Gedanke wird vor allem in der Sakramententheologie (Franz-Josef Nocke, Francisco Taborda) aufgegriffen. Gadamer selbst kennt eine einschlägige theologische Tradition: „Dass menschliche Religionsausübung im Kult ein Spielelement einschließt, ist seit langem von Denkern wie Huizinga, Guardini und anderen betont worden. Es ist lohnend, sich die elementare Gegebenheit des menschlichen Spielens in ihren Strukturen zu vergegenwärtigen, damit das Spielelement der Kunst nicht nur negativ, als Freiheit von Zweckbindungen, sondern als freier Impuls sichtbar wird“ (Die Aktualität des Schönen, 29). Kein Geringerer als Hans U. von Balthasar machte die Ästhetik zur systematischen Perspektive seiner Theologie. Dass er dies später auch in der Perspektive einer „Theodramatik“ und einer „Theologik“ versuchte, erweist sich schon von den Schlüsselbegriffen her als dem Gadamerschen Denken verwandt. Neuerdings arbeitet der Tübinger Fundamentaltheologe Michael Eckert an der Erweiterung seiner Disziplin durch eine „demonstratio aesthetica“.
Nach einer Erklärung des Begriffes „Hermeneutik“ gefragt, pflegte Gadamer zu antworten, sie sei die Kunst, zu hören beziehungsweise Unrecht haben zu können. So ist es Aufgabe von Philosophie wie (ökumenischer) Theologie, „das Gemeinsame auch unter dem Differenten zu finden“ (Die Aktualität des Schönen, 15).