Das „christliche Menschenbild“ als Ressource politischer OrientierungPrüfkriterium und Korrektiv

Gerade Vertreter der C-Parteien argumentieren neuerdings wieder stärker mit dem „christlichen Menschenbild“, um Entscheidungen jenseits tagespolitischer Pragmatik zu begründen. In welchen Zusammenhängen spielt das „christliche Menschenbild“ als Berufungsinstanz eine Rolle, inwiefern vermag es orientierende Gehalte zu transportieren und welche Aufgaben ergeben sich für diejenigen, die den Topos als Grundlage ihres öffentlichen Handelns reklamieren?

Nicht nur Kirchenleute beider Konfessionen (vgl. beispielsweise Wolfgang Huber, „Die Würde in den Zeiten der Würdelosigkeit“, Süddeutsche Zeitung, 30.10.2001), auch Vertreter der C-Parteien argumentieren neuerdings wieder offensiver mit dem „christlichen Menschenbild“, um gesellschafts-, sozial- und wissenschaftspolitische Entscheidungen jenseits tagespolitischer Pragmatik zu begründen und zu untermauern. Ein prominentes Feld ist die Biopolitik (PID, Stammzellforschung, Gendiagnostik). Aber auch die nach dem 11. September 2001 aufs Neue drängend bewusst gewordenen Fragen der Friedenspolitik, der Gewaltprävention und der Fundierung einer interkulturellen und interreligiösen Verständigung in unseren pluralen Gesellschaften und auf Weltebene haben einen hohen Bedarf an ethischer Orientierung, an Verständigung über ein Wertefundament offenbar werden lassen, auf das menschengerechte Standards des Zusammenlebens verlässlich gegründet werden können und das zugleich einer weltanschaulich pluralen Öffentlichkeit verbindlich zugemutet werden kann.

Vor diesem Hintergrund scheint aber die Berufung auf ein „christliches Menschenbild“ auf den ersten Blick wenig aussichtsreich, rekurrieren dessen Verfechter doch ausdrücklich auf ein bestimmtes religiöses Bekenntnis, das in unserer Gesellschaft zwar zum prägenden Traditionsgut gehört, aber nicht mehr als allgemein zugängliche Quelle anthropologisch-ethischer Orientierung gelten kann. So insistiert beispielsweise der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Hubert Markl, in seinen öffentlichen Einlassungen zu den rechtlichen und ethischen Weichenstellungen in Biotechnologie und Biomedizin darauf, dass eine religiös begründete (und damit der Verfügung menschlicher Konsensentscheide entzogenen) Menschenwürde zu vertreten, die dem Embryo vom Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle an zukomme, eben nur eine, keineswegs vor anderen ausgezeichnete Position sei (vgl. exemplarisch: „Der Mensch ist moralisch großzügig geschneidert“, Süddeutsche Zeitung, 31.10./1.11.01).

Ist das christliche Menschenbild noch als Allgemeingut vorauszusetzen?

Gleichwohl legte die CDU Ende November letzten Jahres ein umfangreiches Positionspapier ihrer Wertekommission über „Die neue Aktualität des christlichen Menschenbildes“ vor – in der ausdrücklichen Absicht, damit die ideelle Grundlage der die CDU als Volkspartei leitenden politischen Maßstäbe auszuweisen, also ein über das christliche Bekenntnis hinaus kommunizierbares Wertefundament politischen Handelns anzubieten. Offensichtlich verbinden sich mit der zustimmenden oder distanzierten Bezugnahme auf das christliche Menschenbild je nach weltanschaulichem und politischem Standort unterschiedliche Erwartungen an das Orientierungspotenzial, die Zustimmbarkeit und damit auch an Integrationskraft und Leistungsfähigkeit dieses Topos im Hinblick auf Verständigungsprozesse in der pluralen Gesellschaft.

Recherchen zu den gesellschaftlich und politisch relevanten Kontexten, in denen auf den Topos christliches Menschenbild zurückgegriffen wird, führen zu zwei Gruppen von Akteuren: zum einen solche, die explizit im Namen einer der christlichen Kirchen sprechen oder ihnen doch verbunden sind wie konfessionelle Verbände und christliche Initiativen, zum anderen die C-Parteien oder einzelne ihrer Vertreterinnen und Vertreter. Außerhalb dieser Zusammenhänge findet sich der Terminus allenfalls als ein Fremdargument, auf das man sich abwehrend oder relativierend, jedenfalls in der Regel kritisch bezieht. Daraus lässt sich zunächst der nicht ganz überraschende Schluss ziehen, das christliche Menschenbild könne nicht mehr als Allgemeingut unserer Gesellschaft vorausgesetzt werden. Ähnlich wie die Rede vom „christlichen Abendland“ oder vom „christlichen Europa“ scheint die explizit mit dem religiösen Bekenntnis verbundene anthropologische Position zum Sondergut christlicher Akteure in einer weltanschaulich und religiös pluralen Gesellschaft geworden zu sein. Dafür spricht auch, dass diejenigen, die öffentlich mit dem christlichen Menschenbild argumentieren, sich immer häufiger veranlasst sehen, zu erklären, welche inhaltlichen Botschaften sie damit näherhin verbinden (vgl. beispielsweise Alois Glück, Standpunkt: Politik und Menschenbild [Oktober 2000], http://csulandtag.de). Die prima facie so einleuchtende „Sondergut“-Diagnose könnte in zweierlei Hinsicht dennoch zu einfach sein: in Bezug auf die Kommunikabilität der Inhalte ebenso wie in Bezug auf den Integrationswert für die gesellschaftlichen Gruppierungen, die sich des Topos bedienen. Für aktuelle politische Verständigungsprozesse im Zeichen des „C“ bietet es sich an, zunächst exemplarisch einen Blick auf das erwähnte Positionspapier der Wertekommission der CDU (www.cdu.de/politik-a-z/werte/papier_wertekommission-0112112.doc) zu werfen; es ist meines Wissens der aktuellste und ausführlichste politische Beitrag zur Klärung der politischen Orientierungsleistung des christlichen Menschenbildes (vgl. dazu auch den Beitrag von Annette Schavan in: HK, Januar 2002, 22 ff.).

Eine Grenze politischer Kompromissbildung

Solche Klärungen stehen sicher in einer gewissen ursächlichen Verknüpfung mit Tendenzen von außen, die C-Parteien auf das Label „konservativ“ festzulegen – Tendenzen, die von Teilen der C-Parteien durchaus affirmiert und verstärkt werden. Die Formulierung der eigenen Identität vom christlichen Menschenbild her setzt demgegenüber einen deutlichen Gegenakzent. Zwar steht die Orientierung am christlichen Menschenbild für den Schutz bestimmter grundlegender Werte, insbesondere des Schutzes der unveräußerlichen Menschenwürde für jedes menschliche Wesen angesichts stärker werdender Tendenzen, mit Hilfe von Genforschung und Gendiagnostik gesellschaftliche Nutzenerwägungen beispielsweise über das Lebensrecht wahrscheinlich behindert zur Welt kommender Menschen zu stellen. Eine programmatische Identifizierung christlich orientierter mit konservativer Politik führt gleichwohl in die Irre, weil sie das Kritikpotenzial des christlichen Menschenbildes gegenüber jeder Realpolitik negiert und schlicht die Bewahrung des Bestehenden zum Skopus politischer Orientierung erhebt. Deutlich spricht aus dem Papier die Intention, vom christlichen Menschenbild her ein im Parteienspektrum unterscheidbares Profil in der Sachpolitik zu begründen. Dies kann etwa an den Themenfeldern Biopolitik, Familienpolitik, Verständnis des Sozialstaats sowie Bildung und Erziehung nachvollzogen werden. Zentrale Momente der Orientierung sind dabei etwa die Kritik primär an Nutzenerwägungen ausgerichteter Handlungsoptionen (insbesondere in der Biopolitik) vom Argument der Menschenwürde und der Unverfügbarkeit her, das Ziel der Förderung personaler Entfaltungschancen, der Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung als verbindliche Richtschnur sozialpolitischer Entwicklungen. Allerdings ergeben sich bei einem Vergleich der Konsequenzen, die in Bezug auf die verschiedenen Sachbereiche der Politik aus dem christlichen Menschenbild gezogen werden, gewisse Inkonsistenzen: Irritierend erscheint beispielsweise die Spannung zwischen dem immer wieder betonten Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung und bestimmten Positionierungen zur Bildungs- und Erziehungspolitik: So wird im Abschnitt über „Vorbild und ,gute Schule‘“ im Anschluss an ein Plädoyer für „erziehenden Unterricht“ abschließend festgehalten, Erziehung aus christlicher Verantwortung beinhalte in jedem Fall „klare Regeln, Sanktionen setzen und Orientierung und Führung bieten“ (37). Soll dieses Programm nicht als hoffnungslos autoritär verstanden werden und damit in Widerspruch zu dem Bekenntnis zur „verantwortlichen Freiheit“ geraten, ist zu fragen, ob es nicht der Ergänzung durch Aspekte bedurft hätte, die die Befähigung zur Wahrnehmung verantwortlicher Freiheit als ein prominentes Erziehungs- und Bildungsziel ausgewiesen hätten.

Auch hinsichtlich der Bestimmung des Verhältnisses von Freiheit und Verantwortung sowie von Subsidiarität und Solidarität als Organisationsprinzipien gesellschaftlicher Prozesse und staatlicher Zuständigkeiten vertritt das Papier keine in sich bruchlose Linie. Gewisse Tendenzen zur Unterordnung der Verantwortung unter die Freiheit (vgl. 39) und zur Unterordnung der Solidarität unter das Prinzip der Subsidiarität (vgl. 26), die anderen Aussagen im gleichen Text – etwa zur „Balance von Freiheit und Verantwortung“ (6) – widersprechen, werfen Fragen an die Konsistenz der Argumentation auf. Bestimmte politisch brisante und kontroverse Themenfelder bleiben ausgespart, für die das kritisch-normative Potenzial des christlichen Menschenbildes zur Klärung und Prüfung konkreter politischer Positionierungen hätte fruchtbar gemacht werden können. Dies gilt namentlich für den Bereich der Einwanderungs- und Asylpolitik, aber auch für das in den vergangenen Monaten sehr in den Vordergrund gerückte Themenfeld der Friedens- und Sicherheitspolitik. Es ist ein sehr positives Signal, dass im Lauf der vergangenen zwei Jahre nicht nur gewichtige Einzelstimmen, sondern auch Parteigremien der C-Parteien sich intensiv und ausführlich mit der Frage ihrer vom „C“ her zu bestimmenden Identität auseinandersetzen. Solche Prozesse können der Selbstverständigung und Identitätsklärung nach innen dienen und zugleich ihre Optionen in der pluralen Öffentlichkeit transparent machen.

Gleichwohl begeben sie sich unweigerlich auf eine Gratwanderung, weil die grundlegenden Optionen nicht nur mit sachpolitischen Notwendigkeiten und Restriktionen, sondern auch mit unter Umständen konkurrierenden politischen Interessen im eigenen Lager konfrontiert werden. Dies kann dazu führen, dass die Interpretation des christlichen Menschenbildes als Wertefundament selbst noch einmal von anderen, politisch motivierten Kriterien und Interessen geleitet wird. Demgegenüber ist die Bedeutung des christlichen Menschenbildes als „Weg, das rechte Maß zu finden“ (A. Schavan), zu betonen: Bei aller Notwendigkeit, in der Sachpolitik Interessen auszugleichen und Güter abzuwägen, setzt es Spielräume. Allerdings setzt das christliche Menschenbild als Quelle weltanschaulicher Orientierung den Spielräumen politischer Kompromissbildung auch Grenzen: Es gibt Entscheidungen, in denen so grundlegende Güter wie die unveräußerliche Würde und das Lebensrecht eines jeden Menschen zu schützen sind, die ethisch als nicht kompromissfähig gelten müssen (vgl. dazu Marianne Heimbach-Steins, Menschenrechte in Gesellschaft und Kirche, Mainz 2001, 173–190). Insofern ist es nur zu begrüßen, dass bestimmte Gehalte, die sich mit dem Topos des christlichen Menschenbildes verknüpfen, gerade nicht Sondergut derer sind, die sich einer christlichen Orientierung verpflichtet wissen (in welcher gesellschaftlichen Gruppierung oder politischen Partei auch immer sie sich finden), sondern im Sinne der von SPD und Bündnis 90/Die Grünen „besetzten“ Rede vom „Menschenbild der Verfassung“ eine sehr viel breitere Konsensbasis bilden. Auf die Fundament-Funktion, die das christliche Menschenbild auch für die Architektur unserer Verfassung gehabt hat, kann sich ein berechtigter Optimismus gründen, wesentliche Gehalte des christlichen Menschenbildes auch gegenwärtig über die Gruppe der sich zum christlichen Glauben Bekennenden hinaus kommunizieren und zustimmungsfähige Politikkonzepte darauf bauen zu können (vgl. Wertekommission der CDU, 6 f.).

An den praktischen Auswirkungen messen

Derzeit erscheinen alle demokratischen Parteien bezüglich der Frage, „Wie hältst Du’s mit dem Menschenbild?“ in sich plural; pauschale Aussagen führen notwendigerweise zu Verzerrungen. Eine Herausforderung für eine klare und konsequente öffentliche Argumentation bilden Konzepte, die mit den grundlegenden Gehalten des christlichen Menschenbildes nicht vereinbar erscheinen. Positionen wie die des F.D.P.-Generalsekretärs Guido Westerwelle, die den „flexiblen Menschen“ als Ziel gesellschaftlicher Bemühungen proklamieren, stellen für eine am christlichen Menschenbild orientierte Politik eine solche Provokation dar: Wenn laut Westerwelle die Informationsgesellschaft angeblich „jetzt flexible Menschen, ein flexibles Menschenbild“ (Interview mit NDR 4-Info vom 14.6.2000, www.liberale.de/db/ak.zeige.phtml? id=29492&corg) und „ein Höchstmaß an Individualität“ (Rede des Generalsekretärs der FDP auf dem 51. ordentlichen Bundesparteitag am 16./17. Juni 2000, www.guido_westerwelle.de/reden_php?id = 16) einfordert, muss eine am christlichen Menschenbild Maß nehmende Politik nicht nur die verkürzte Sicht auf den Menschen, seine Beziehungsfähigkeit und -bedürftigkeit kritisieren, sondern auch nach alternativen oder kritisch ergänzenden Modellen der Gesellschaftsanalyse fragen.

Aus den bisherigen Beobachtungen und Reflexionen ergibt sich eine komplizierte Gemengelage: Das christliche Menschenbild ist weder für diejenigen, die sich ausdrücklich darauf berufen, noch erst recht für die Vertreter anderer weltanschaulicher Optionen in unserer pluralen Gesellschaft ein selbstverständlicher Code, so sehr bestimmte mit ihm verknüpfte Überzeugungen über die Kreise bekennender Christen und Christinnen hinaus Akzeptanz finden. Diese Einsicht hängt auch mit dem relativ hohen Allgemeinheitsgrad zusammen, der dem Topos eigen ist. Die Berufung auf das christliche Menschenbild schafft deshalb nicht per se Eindeutigkeit in konkreten politischen Streitfragen. Sie ist geeignet, einen Rahmen der Verständigung abzustecken, bestimmte Auffassungen als inkompatibel auszuschließen. Schlussfolgerungen im Sinne positiver Konsense über strittige Fragen, deren verantwortliche Bearbeitung neben einer klaren anthropologischen und ethischen Option jeweils auch eine angemessene Situationsanalyse und eine Fülle von wissenschaftlich fundierter Sachkenntnis erfordert, müssen aber jeweils unter Beiziehung weiterer Urteilskriterien errungen werden.

Verantwortliche Freiheit und Schuldanfälligkeit

Leistungsfähigkeit und Grenzen der Berufung auf das christliche Menschenbild erschließen sich von seinen grundlegenden anthropologischen Gehalten her, lassen sich aber noch einmal von anderer Seite her befragen: Die Rede vom „Menschen-Bild“ gibt zunächst Aufschluss über Art und Qualität der Aussagen, die in diesem „Rahmen“ über den Menschen zu erwarten sind: Wie bei dem gemalten Portrait eines Menschen handelt es sich weder um eine empirisch beschreibende Aussage noch um eine „ein für alle Mal“ gegebene und eindeutige Wesensfeststellung. Insofern gibt es auch nicht einfach das christliche Menschenbild, sondern vielfältige geschichtlich und gesellschaftlich gebundene Versuche, den Menschen im Licht christlicher Grunderfahrungen und -überzeugungen zu deuten. Entwürfen eines christlichen Menschenbildes sind bestimmte grundlegende Koordinaten gemeinsam, die sich vom biblisch-christlichen Gottesglauben und der entsprechenden Welterfahrung her erschließen. Sie lassen sich als Spannungsbögen beschreiben, zwischen deren Polen sich menschliches Leben zu verstehen sucht: Sie zu halten und nicht nach jeweils einer Seite hin aufzulösen oder zu entschärfen, wird dann gerade zu einem Kriterium der Orientierung am christlichen Menschenbild. Fünf solcher Bögen scheinen mir elementare Konstituenten für ein christliches Verständnis menschlicher Existenz zu bilden: Im biblisch fundierten christlichen Verstehenshorizont erschließt sich Menschsein in der Spannung von Verdanktheit durch Gott und Eigenständigkeit/Autonomie: Geschöpflichkeit bedeutet, dass der Mensch nicht einfach ins Leben „geworfen“ ist (wie existenzialistische Deutungen sagen könnten), sondern in der ganzen Vielschichtigkeit seiner Existenz gehalten und getragen ist von einem Urheber, der sein Geschöpf wohl-wollend begleitet. Mit der fundamentalen Rückbindung menschlicher Existenz an einen guten Schöpfer ist ein Vor-Zeichen für alle weiteren Deutungsmomente gesetzt. Zugleich ermächtigt solch verdankte Existenzweise zu Eigenständigkeit und Verantwortlichkeit und stellt den Menschen vor die Herausforderung, sein Leben in die Hand zu nehmen, es im Sinne seiner Fähigkeiten zu führen und aktiv zu gestalten. Aus der Herausforderung der Autonomie erschließt sich ein zweiter Spannungsbogen: Er erstreckt sich zwischen den Polen der Individualität, der Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit eines jeden menschlichen Lebens, und der sozialen Verwiesenheit. Diese Spannung gehört zu den Grundmomenten der christlichen Deutung des Personbegriffs, der in der katholischen sozialethischen Tradition für die Entfaltung des christlichen Menschenbildes zentral ist. Gegen alternative Deutungsangebote, die menschliche Existenz entweder auf Kosten der Beziehungshaftigkeit individualistisch oder auf Kosten seiner Individualität und Eigenständigkeit kollektivistisch verkürzen, besteht ein christliches Menschenbild auf der Gleichursprünglichkeit und der bleibenden Spannungseinheit beider Pole.

Zur näheren Auslegung dieser Auffassung ist eine dritte Spannung zu thematisieren; sie betrifft das Verständnis der Sozialität menschlicher Existenz und scheint mir bislang auch in der christlichen Sozialethik noch nicht hinreichend deutlich artikuliert worden zu sein: Die grundlegende soziale Qualität menschlicher Existenz entfaltet sich zwischen den Polen der Beziehungsfähigkeit und der Angewiesenheit auf mitmenschliche Unterstützung sowie gesellschaftliche Gebundenheit. Beides hängt eng zusammen mit der leiblichen Konstitution des Menschen und mit dem Stellenwert, der dieser Körperhaftigkeit im Entwurf des Menschenbildes zukommt. Sozialität ist im Sinne des christlichen Verständnisses nicht angemessen gedeutet, wenn sie allein als Kompensation individueller Schwäche verstanden wird, die dann zwar Kindern, Kranken und Behinderten, Alten und Schwachen (und in einem androzentrischen Koordinatensystem auch Frauen) konzediert wird, deren Überwindung aber eine prominente Zielsetzung menschlicher Entwicklung und Erziehung sein muss. Neben die Erfahrung der Angewiesenheit auf andere, die jeder Mensch von seinen Anfängen an macht, tritt die ebenso grundlegende Erfahrung der Fähigkeit zu mitmenschlicher Beziehung, die es zu kultivieren gilt. Dies ist eine meines Erachtens zentrale Konsequenz aus der zuvor benannten Spannung gleichursprünglicher Individualität und Sozialität und eine bedeutende Weichenstellung zur Interpretation des Sozialprinzips der Solidarität.

In den Spannungsbögen, die durch die Beziehung des Menschen zu Gott einerseits und die Zusammenhänge von menschlichem Selbststand und Vergemeinschaftungen andererseits konstituiert sind, erschließt sich weiterhin die Polarität von vernünftiger und verantwortlicher Freiheit und Schuldanfälligkeit, Schuldfähigkeit und Fehlbarkeit, die menschliches Leben – im Licht biblischer Anthropologie schlechthin grundlegend – prägt im Sinne dessen, was in der traditionellen Theologie „Erbsünde“ oder nach einem heutigen Vorschlag „universale Sündenverfallenheit“ genannt wird (vgl. Georg Kraus, Universale Sündenverfallenheit, Stimmen der Zeit 122 [1997] 261–268). Die Ermächtigung zur Freiheit eröffnet den Raum zum Handeln und Gestalten von Welt (was niemals ein einsames Geschäft ist), fordert heraus zur Verantwortung, zum dialogischen, reflektierten Entscheiden der eigenen Lebenswege wie gesellschaftlicher Prozesse. All dies steht aber zugleich in der Ambivalenz möglichen Scheiterns und der Korrumpierbarkeit menschlicher Motive und Absichten. Anthropologisch kann diese Erfahrung gedeutet werden als Versuchung, grundlegende Spannungen des Humanen aufzulösen – zulasten der eigenen Integrität und zulasten der Bedürfnisse und Rechte Anderer. Diese Ambivalenz gilt dem christlichen Verständnis als menschlich nicht überwindbar – das ist ein Sinngehalt der theologischen Rede von der Erbsünde. Schließlich realisiert die christliche Selbstdeutung menschlicher Existenz die Spannung zwischen der Fähigkeit zur Selbstüberschreitung, zur Transzendenz, und der Grunderfahrung von Endlichkeit und Sterblichkeit. Die Fähigkeit, Distanz zu sich selbst zu nehmen, die Sinnfrage zu stellen und sich nicht im jeweiligen Tagesgeschäft buchstäblich zu erschöpfen, steht immer schon im Zeichen der Kontingenz und der Todesperspektive eines jeden menschlichen Lebens. Christlicher Glaube kann angesichts dieser Grunderfahrung an die eingangs genannte Grundspannung von Verdanktheit und Eigenständigkeit menschlichen Lebens anknüpfen. Der Glaube an einen guten Schöpfer-Gott erübrigt nicht die Frage nach dem „Warum“ menschlicher Leiderfahrung und Todesverfallenheit. Die Theodizeefrage findet im Sinnhorizont biblischer Gotteserfahrung und ihrer christlichen Deutungen keine einfache Antwort. Sie wird vielmehr klagend offen gehalten in der Perspektive der Hoffnung auf den Gott, der sich selbst mit der menschlichen Leidens- und Todeserfahrung gemein gemacht hat. Nicht als der große jenseitige Vertröster kommt er ins Spiel, sondern als der, in dessen Namen alles Mögliche für die Überwindung leidverursachender Ungerechtigkeit getan werden muss, aber der leidende Mensch in seiner unveräußerlichen Würde unbedingt zu schützen und zu achten ist.

Durch diese Spannungsbögen hindurch erscheint „Menschenwürde“ als Interpretament des offenen Horizonts, in dem Menschsein als verdankt, zu sich selbst befreit und zu verantwortlichem Handeln ermächtigt entziffert werden kann. So verstanden, hat das christliche Menschenbild in der Tat politische Konsequenzen von großer Tragweite. Es konterkariert jede einlinige Festlegung und jede einfache Antwort auf die Frage, was der Mensch ist oder sein soll (vgl. dazu auch Dietmar Mieth, „Das christliche Menschenbild – eine unzeitgemäße Betrachtung“, Tübinger Theologische Quartalsschrift 163 [1983] 1–15). Es eröffnet aber ein dynamisches Verständnis im Licht bestimmter Grundüberzeugungen und bietet einen kritischen Maßstab in der Auseinandersetzung mit politischen Prozessen und Entscheidungen.

Das gilt beispielsweise für die Wahrnehmung einer Pluralität von Lebensweisen und -formen ebenso wie für Weichenstellungen in Bezug auf Erziehungs- und Bildungsprozesse; man denke etwa an die Veränderungen im Bereich der Geschlechterpolitik in den letzten Jahrzehnten, die für beide Felder bedeutend sind und bezüglich derer auch christlich geprägte Positionen einen nicht unbedeutenden Wandlungsprozess durchlaufen (haben). Konsequenzen der Interpretation des Zusammenhangs zwischen den Sozialprinzipien Solidarität und Subsidiarität wurden bereits angedeutet: Eine minimalistische Deutung der Solidarität ausschließlich als „Hilfe für die Schwachen“ ist meines Erachtens mit dem christlichen Menschenbild nicht vereinbar. Eine positive Deutung der Sozialität als Beziehungsfähigkeit und -bedürftigkeit, die eine Erweiterung des Solidargedankens entschieden fördert, hat politische Konsequenzen ebenso für die Bildungsdiskussion wie vor allem für die Auseinandersetzung um den Sozialstaat. Nicht nur ist Solidarität im Licht der Subsidiarität zu interpretieren, sondern gegen das „unausrottbare Missverständnis (...), die Gemeinschaft dürfe nur dort, wo die Kräfte des einzelnen versagen, behelfsmäßig oder ersatzweise eingreifen“ ist darauf zu bestehen, dass „längst vorher (...) die Gemeinschaft Vorleistungen erbringen [muss], durch die sie überhaupt erst die Voraussetzungen dafür schafft, dass der einzelne (oder die engere Gemeinschaft) bestehen und irgend etwas unternehmen kann“ (Oswald von Nell-Breuning, Soziallehre der Kirche, Wien 1977, 53).

Reden und Handeln müssen übereinstimmen

Die genannten Beispiele zeigen, in welcher Weise das christliche Menschenbild eine Ressource politischer Orientierung erschließt: Indem es die Verwurzelung in einer bestimmten Deutungstradition zur Sprache bringt, die den Menschen in seinen grundlegenden Beziehungen zu Gott, zu den Mitmenschen und zu sich selbst wahrnimmt, trägt es zur Identitätsklärung und Standpunktbestimmung derer bei, die sich darauf berufen. Solche Klärung bedeutet nicht Abschottung gegenüber anderen Konzepten und Rückzug in die Defensive, sondern die entschiedene Öffnung auf die gesellschaftlichen Gestaltungsherausforderungen mit einem profilierten Orientierungsangebot, um das gestritten werden darf und muss. Das christliche Menschenbild bietet dabei aus sich heraus keine Lösungen für konkrete politische Probleme. Es fungiert aber als Prüfkriterium und Korrektiv, von dem her inkompatible Handlungsoptionen ausgeschlossen werden müssen; es ist regulative Idee, nicht Handlungsnorm. Wer immer sich rhetorisch des „christlichen Menschenbildes“ bedient, muss sich daran messen lassen: Glaubwürdigkeit entsteht durch die Konsistenz zwischen Reden und Handeln.

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