LeitartikelFriedensstifter Religion

Welche Chance hat die Friedensbotschaft der Kirche und der Religionen, die Botschaft etwa der die in Assisi zum gemeinsamen Friedensgebet der Religionen um den Papst Versammelten? Denn sind nicht die Religionen als Friedensförderer oder -stifter diskreditiert und disqualifiziert durch unzählige Konflikte, wo Gewalt im Namen Gottes und der Religion geschieht und geschah? Dagegen mögen Theologen und Religionswissenschaftler, religiöse Repräsentanten und Autoritäten zu Recht auch auf die prinzipielle Friedfertigkeit, die prophetische, gewaltkritische Dimension in allen Religionen verweisen. Das eigentliche friedensstiftende oder zumindest friedensfördernde Potenzial des Christentums wie anderer Religionen erschließt sich aus der Bereitschaft, sich den eigenen Schattenseiten, der eigenen Ambivalenz und Verführbarkeit zu stellen. In der Fähigkeit zur Selbstkritik und der allererst aus dieser resultierenden Bereitschaft zu wechselseitigem Vergeben kann die Kirche, können die Religionen, ohne ihre eigene Gewaltgeschichte zu verleugnen, eine Vorbildfunktion einnehmen. Sie werden dann auch dazu beitragen können, das politische Feld zur Vermeidung wie zur Überwindung gewaltträchtiger Konflikte vorzubereiten.

„Nie mehr Gewalt! Nie mehr Krieg! Nie mehr Terrorismus!“, beschwor Johannes Paul II. Ende Januar in Assisi Mullahs und buddhistische Mönche, Rabbiner und orthodoxe Hierarchen, Hinduisten, Animisten, Schinto-Priester, Parsen, Jains und Konfuzianer. Alle Religionen dieser Welt, so der eindringliche Appell des Papstes, sollten in Gottes Namen Gerechtigkeit und Frieden, Vergebung, Leben und Liebe bringen. Tief bewegt von den vorgeblich im Namen Allahs verübten Terroranschlägen des 11. September und gleichermaßen besorgt ob der unkalkulierbaren Dynamik des beginnenden „Anti-Terror-Kriegs“ in Afghanistan, besann sich der Papst im November letzten Jahres einer bereits 15 Jahre zurückliegenden Initiative: Überzeugt von der besonderen Verantwortung der Religionen für die Ächtung von Gewalt und Krieg, lud Johannes Paul II. erneut die religiösen Führer der Welt nach Assisi, „um für die Überwindung der Gegensätze und für die Förderung des wahren Friedens zu beten“. Er stieß auf offene Ohren. 240 „Vertreter“ elf verschiedener Religionen und Glaubensgemeinschaften fuhren mit dem Papst von Rom nach Assisi. Vielerorts, von Pakistan über die Philippinen bis Indonesien, von Tunesien bis Togo, Argentinien und Brasilien griffen Katholiken meist mit dem Segen der jeweiligen Bischofskonferenzen die Initiative auf und veranstalteten zeitgleich interreligiöse Begegnungen, hielten Gebetswachen, Wallfahrten oder Fasttage für den Frieden. Das vielfach geteilte Anliegen ließ das Friedensgebet von Assisi aber nicht allein zu einer eindrucksvollen interreligiösen Geste werden. Die Sorge um den Weltfrieden beflügelt auch nach wie vor, wie seinerzeit der Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, die innerchristliche Ökumene: War doch nicht nur der Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirche, Konrad Raiser, in Assisi anwesend, sondern auch das Ehrenoberhaupt der Weltorthodoxie, Patriarch Bartolomaios sowie eine hochrangige Delegation der Russischen Orthodoxen Kirche. In ihrer gemeinsamen Abschlussbotschaft erklären die Geladenen: „Auch wenn wir unterschiedlichen religiösen Traditionen angehören, bekräftigen wir, dass es zum Aufbau des Friedens nötig ist, den Nächsten zu lieben und die Goldene Regel zu beachten: Tu dem anderen das, was Du willst, das dir getan wird.“ Ebenso hatte das zum hundertsten Jahrestag des „Weltparlaments der Religionen“ 1993 veranstaltete interreligiöse Treffen von über 6000 Vertretern aus mehr als 2000 Glaubensgemeinschaften und religiösen Gruppen geendet mit dem feierlichen, von dem Tübinger Theologen Hans Küng vorbereiteten Bekenntnis zur Goldenen Regel als dem über alle Religionsgrenzen verbindlichen „Weltethos“.

Bislang nicht gekannte Angstgefühle

In diesem Augenblick der Geschichte bedürfe die Menschheit der Gesten des Friedens und der Worte der Hoffnung, so hat der Papst die seiner Kirche, den Kirchen und Religionen aktuell gestellte Herausforderung beschrieben. Mit neuer Intensität hätten die Menschen auf der ganzen Welt ihre persönliche Verwundbarkeit erfahren und begonnen, mit einem tiefen, bis dahin nicht gekannten Angstgefühl in die Zukunft zu schauen (Botschaft zum Weltfriedenstag 2002). Die hohe Aufmerksamkeit, die das Friedensgebet von Assisi in der weltweiten Medienöffentlichkeit fand, scheint dieses Bedürfnis nach Gesten des Friedens von Seiten der Kirchen und Religionen zu bestätigen, auch in den säkularen, pluralistischen westlichen Gesellschaften. Bezeichnenderweise waren zum ersten Mal auch 50 Vertreter von Religionen und Glaubensgemeinschaften zum traditionellen Weltwirtschaftsforum Anfang Februar geladen. Denn nicht nur was den Veranstaltungsort New York betraf, stand, kaum überraschend, das diesjährige Treffen der Wirtschaftselite und der „Macher“ der westlichen Welt in diesem Jahr ganz unter dem Eindruck des 11. Septembers und seiner Folgen. Schon die unmittelbar vor dem Forum ausgesprochene Kriegserklärung des amerikanischen Präsidenten an die „Achse des Bösen“ hätte eine Rückkehr zur Tagesordnung verhindert. Dabei bemerkte etwa der Oberrabbiner Großbritanniens zwei Trends in den Gesprächen der Religionsvertreter mit den Wirtschaftsführern: Einerseits suchten letztere nach spiritueller Führung, andererseits fürchteten sie sich vor religiös motivierten Konflikten. Den Religionsvertretern aber sei die Rolle der Brückenbauer in der Konferenz zugedacht gewesen.

Im Rückblick war der 11. September letzten Jahres wohl nicht die historische Zäsur, die unzählige Kommentare dem Datum zudachten. Und gemessen an den vielen anderen aktuellen Katastrophen, Kriegen und Konflikten besaßen die Ereignisse von New York und Washington wohl auch nicht – will man sich überhaupt auf das zynische Geschäft des Aufrechnens von Opferzahlen, des Vergleichs von Leid und Schrecken einlassen – die oft behauptete Einzigartigkeit. Aber die westliche Welt und insbesondere die USA kamen doch durch die Eskalation des islamistischen Terrorismus zum ersten Mal massiv in Berührung mit jenem vielbeschriebenen, nach dem Ende des Ost-West-Konflikts neu entstandenen Konflikt- und Bedrohungsszenario. Erst jetzt erloschen die letzten Funken der großen Friedenshoffnung und -illusion von Ende der achtziger Jahre. Soll auf diese besondere Seelenlage eine Antwort aus der christlichen Friedensbotschaft kommen, müsste diese in doppelter Richtung erfolgen: Natürlich gilt es, gerade entgegen politischer Resignation und Fatalismus, erst recht gegenüber irrationaler, gar pathologischer Angst fest an der Hoffnung auf Frieden ebenso wie am Glauben an die Friedensfähigkeit des Menschen festzuhalten – allerdings im Wissen, dass beides im Letzten nicht „machbar“, sondern Geschenk ist, der Mensch unvollkommen und Gewalt unausrottbar bleibt.

Darüber hinaus gilt es aber auch, den Friedensbegriff zu klären und zu unterscheiden, etwa da, wo er in Verwechslung mit totaler Sicherheit oder Leben im Wohlstand gerät. Gerade im Blick auf den Terrorismus und dessen Nährboden haben denn auch die Repräsentanten der Kirchen in den letzten Wochen und Monaten stets den dem christlichen Friedensverständnis wesentlichen Bedingungszusammenhang von Gerechtigkeit und Frieden betont. In ihrer im Jahr 2000 veröffentlichten, programmatisch „Gerechter Frieden“ betitelten Erklärung unterstreicht die Deutsche Bischofskonferenz: „Das Leitbild des gerechten Friedens beruht auf einer letzten Endes ganz einfachen Einsicht: Eine Welt, in der den meisten Menschen vorenthalten wird, was ein menschenwürdiges Leben ausmacht, ist nicht zukunftsfähig. Sie steckt auch dann voller Gewalt, wenn es keinen Krieg gibt. Verhältnisse fortdauernder schwerer Ungerechtigkeit sind in sich gewaltgeladen und gewaltträchtig.“ So gesehen war die Welt vor dem 11. September nicht friedvoller als danach.

Keine religiöse Zielsetzung kann die Gewalt gegen Menschen rechtfertigen

Welche Chance aber hat die Friedensbotschaft der Kirchen und Religionen? Beeinträchtigt wird sie vor allem dort, wo Gewalt in ihrem Namen geschieht. Im Schrecken der Bilder von „Ground Zero“ und angesichts des „Testaments“ eines der Attentäter schien die zu Gewalt inspirierende oder diese doch zumindest legitimierende Seite der Religion weitaus plausibler als ihre friedensfördernde und -stiftende Kraft. Wobei – tremendum et fascinosum – unsere säkulare (Medien-)Gesellschaft in ihrem Erschrecken und ihrer Angst offenbar auch mit einer gewissen Faszination ihr so fremden Phänomenen wie religiöser Fanatismus, Märtyrertum und „Heiliger Krieg“ begegnete. In den ersten Wochen des Anti-Terror-Einsatzes der USA grassierten Horrorszenarien des Krieges zwischen einer der islamistischen Versuchung erlegenen muslimischen Welt und der westlichen, immer noch christentümlich geprägten Gesellschaft. Sind solche apokalyptischen Bilder aus der Öffentlichkeit auch wieder verschwunden, hält sich doch hartnäckig der „Kampf der Kulturen“. Dieser scheint um so häufiger strapaziert, je vehementer Wissenschaftler oder auch Kirchenvertreter bestreiten, mit dem 11. September und dem Anti-Terror-Krieg bewahrheitete sich nun doch die These des Harvard-Politologen Samuel Huntington, der zu Beginn der neunziger Jahre die Entstehung einer neuen Weltordnung entlang kultureller und religiöser Konfliktlinien prophezeite. Dabei mag ein positiver Nebeneffekt dieser neuerlichen Aufmerksamkeit für den behaupteten „Clash of Civilisation“ gleichwohl nicht zu leugnen sein. Hat sie doch die Bedeutung von Kultur und damit Religion für die internationale Politik und die Suche nach einer neuen Weltordnung wieder neu ins Bewusstsein gebracht – gerade gegenüber einem nur auf seine ökonomische Dimension festgelegten Globalisierungsprozess.

Natürlich versichern in diesen Tagen muslimische Autoritäten allerorts: Wo Gewalt im Namen Gottes geschieht, würden religiöse Bedürfnisse und Anliegen missbraucht, instrumentalisiert. Niemand habe das Recht, sich auf den Glauben zur Rechtfertigung von Gewalt zu berufen. Auch Vertreter der Kirchen und Theologen verwahrten sich – aus eigener leidvoller Erfahrung oder Furcht vor Sippenhaft? – gegen allzu schlichte, undifferenzierte Bilder des Islam, betonten die prinzipielle Friedfertigkeit, das prophetisch, gewaltkritische Potenzial aller Religionen. Unter wirkungsvollen Symbolen und eindrücklichen Bildern bekannten sich auch die in Assisi um den Papst Versammelten feierlich zur gemeinsamen Überzeugung, „dass Gewalt und Terrorismus im Kontrast zu einem echten religiösen Geist stehen“. Zugleich verurteilten sie jeden Rückgriff auf Gewalt und Krieg im Namen Gottes oder der Religion. „Niemand tötet im Namen Gottes“, hatte der Papst, Assisi gleichsam präludierend, schon in seiner Botschaft zum Weltfriedenstag am 1. Januar ausgerufen. Wer immer die Religion dazu benutzt, um Gewalt zu schüren, widerspricht ihrem tiefsten und wahren Wesen, erklärte er nun in Assisi. Es kann keine religiöse Zielsetzung geben, die Gewalt gegen Menschen rechtfertigt. Denn die Beleidigung des Menschen sei definitiv eine Beleidigung Gottes.

Als Friedensbringer diskreditiert und disqualifiziert?

Doch wird niemand lange nachsinnen müssen, um sich die vielen Konflikte dieser Erde zu vergegenwärtigen, in denen eben doch im Namen Gottes und der Religionen Gewalt geschieht, getötet wird: in Nordirland, in Indien und Indonesien, in Nigeria und im Sudan. Und wo Gutmeinende in multikultureller Aufgeklärtheit versuchen, das Zerrbild eines blutrünstigen Islam zu korrigieren oder zumindest zu relativieren, geschieht dies nicht selten mit dem Verweis auf die phasenweise auch blutige Geschichte des Christentums: auf die Kreuzzüge und vor allem die europäischen Religionskriege, die doch erst den Anlass gaben, die offenkundig so gewaltträchtige Allianz von Religion und Staatsgewalt segensreich aufzulösen.

Sind aber mit diesen Gewaltszenarien das Christentum, der Islam und die anderen Religionen als Botschafter des Friedens diskreditiert und disqualifiziert? Die Formel des Küng’schen Weltethos-Projekts scheint sich in ihnen geradezu negativ zu bestätigen: Kein Frieden auf der Erde, weil kein Frieden unter den Religionen. Und sind diese Gewaltszenarien umgekehrt nicht Grund genug, dass den Treffen von Assisi vergleichbare interreligiöse Friedensinitiativen insgesamt doch nur Fußnoten der Kirchen und Religionsgeschichte blieben: Vom „religiösen Menschheitsbund“, den der Religionswissenschaftler Rudolf Otto unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges ins Leben rief über die „Weltkonferenz der Religionen für den Frieden“ in den sechziger Jahren bis zum wiederbelebten „Weltparlament der Religionen“. Vielmehr wird das neuerliche plötzliche Erschrecken über religiösen Fanatismus und fundamentalistische Gewalt – gerade in unserer säkularen und pluralistischen Gesellschaft mit ihrem eigenen Verständnis weltanschaulicher Neutralität und Toleranz – einen weitverbreiteten Grundverdacht gegenüber Religion erhärtet haben: Dass nämlich der Bezug zu einem Absoluten, ein Wahrheitsanspruch nahezu zwangsläufig einhergeht mit Exklusivitäts- beziehungsweise Überlegenheitsdenken, dem wiederum ein erhebliches Gewaltpotenzial inhärent ist. In „Gerechter Frieden“ mahnen die deutschen Bischöfe: „Bis heute hält sich bei vielen Menschen die feste Überzeugung oder zumindest der Verdacht, vor allem die monotheistischen Religionen seien ihrem Wesen nach intoleranter und friedensunfähig. Dieses muss als Anfrage theologisch ernst genommen werden und praktisch beantwortet werden.“ Über die notwendige ehrliche Selbstkritik der Religionsgemeinschaften hinaus hängen deswegen ihre Glaubwürdigkeit und ihre Überzeugungskraft entschieden davon ab, ob und wie weit sie in ihrem tätigen Einsatz für Frieden, für die Rechte und legitimen Interessen anderer Menschen und Gruppen eintreten.

In dieser ehrlichen Selbstkritik erschließt sich aber auch das friedenstiftende oder zumindest friedensfördernde Potenzial des Christentums wie anderer Religionen. Wo Religion zu ihren Schattenseiten, ihrer Ambivalenz, ihrer Verführbarkeit steht, diskreditiert sie sich nicht, sondern disponiert sich zuallererst für ihre Rolle als Anwältin des Friedens und der Ächtung von Gewalt und Krieg. Auch die traditionelle christliche Friedensbotschaft hat Gewalt nie realitätsfern geleugnet oder überspielt, sondern Gewaltzusammenhänge zu entschleiern, zu bearbeiten und zu überwinden versucht. So erschließt sich auch die Friedensinitiative des Papstes erst in ihrer vollen Bedeutung in Verbindung mit dem Schuldbekenntnis, wie es die Kirche etwa im Heiligen Jahr gesprochen hat, in der Bitte um Vergebung „für den Gebrauch der Gewalt, zu dem einige im Dienst an der Wahrheit geschritten sind“. In der Abschlusserklärung von Assisi sind die versammelten Religionsvertreter dem Papst gefolgt: „Wir verpflichten uns, uns gegenseitig die Irrtümer und Vorurteile in Vergangenheit und Gegenwart zu verzeihen. Wir müssen uns im gemeinsamen Bemühen unterstützen, Egoismus und Missbrauch, Hass und Gewalt zu besiegen, und aus der Vergangenheit zu lernen, dass Friede ohne Gerechtigkeit kein echter Friede ist.“ In der Fähigkeit zur Selbstreflexion und -korrektur im respektvollen Dialog liegt die eigentliche Friedensbotschaft. In dieser Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbstkritik und im wechselseitigen Vergeben können die Religionen, ohne die eigene Gewaltgeschichte zu verleugnen, eine Vorbildfunktion einnehmen. Sie werden dann auch dazu beitragen können, das politische Feld zur Vermeidung wie zur Überwindung gewaltträchtiger Konflikte vorzubereiten.

Anzeige: Geschichte der Päpste seit 1800. Von Jörg Ernesti

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